Deutliche Kritik an der gegenwärtigen deutschen Politik gegenüber Russland übt Albrecht Müller. Darin schließt er die eigene Partei, die SPD ein, in der er jahrzehntelang verantwortliche Positionen innehatte. Statt Vertrauen wird Konfrontation aufgebaut, kritisiert er und äußert Verständnis für die russische Reaktion. Er warnt vor der Kriegsgefahr.
Die Leute spinnen alle. Das kann ich nicht anders sagen.“ So kommentierte der Publizist und frühere SPD-Politiker Albrecht Müller, dass Politiker wie Sigmar Gabriel oder Matthias Platzeck dafür kritisiert werden, dass sie russischen Medien wie Sputnik oder RT deutsch Interviews gegeben haben. „Ich werde ja auch kritisiert, wenn ich Ihnen jetzt dieses Interview gebe, da bin ich ziemlich sicher. Dann gilt man als Verschwörungstheoretiker oder was auch immer. Wenn man sich das mal überlegt, wie selbstverständlich die Zusammenarbeit war …“ Als er 1970 bis 1972 zuständig für den SPD-Wahlkampf war, habe ein Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft häufig den Kontakt zu ihm gesucht. Der habe wissen wollen, wie die Stimmung in der Bundesrepublik für Bundeskanzler Brandt und für die Ostpolitik ist. Das „war völlig selbstverständlich“, erinnerte sich Müller, und hätten auch die SPD-Spitze und der Verfassungsschutz gewusst – „das war im Sinne der Vertrauensbildung und der Kooperation“.
Der frühere Mitarbeiter der Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt ist heute Publizist und Herausgeber des Online-Magazins „Nachdenkseiten“. Im Gespräch stellte er fest:
„Wenn man das beobachtet, dann merkt man, dass unsere heutige Ostpolitik mit der früheren nichts zu tun hat. Die frühere Ostpolitik war geprägt von einer Strategie, die lautete: Wir wollen Wandel auch in den osteuropäischen Ländern einschließlich der Sowjetunion durch Annäherung, durch Kooperation. Es war weiter geprägt davon, dass es eine klare Regelung gab: Wenn man das machen will, dann muss man Vertrauen aufbauen. Es gab den etwas bürokratischen Begriff ‚vertrauensbildende Maßnahmen‘. Sanktionen zum Beispiel sind keine vertrauensbildenden Maßnahmen. Wirtschaftliche Zusammenarbeit, so wie es angedacht war und praktiziert wurde, bildet Vertrauen. Auf beiden Seiten.“
Konfrontationsaufbau statt Vertrauensbildung
Müller warf Bundeskanzlerin Angela Merkel eine aggressive Haltung gegenüber Russland, die sich unter anderem am 10. Mai 2015 gezeigt habe. Damals warf Merkel auf einer Pressekonferenz mit Russlands Präsident Wladimir Putin in Moskau dem Gastgeber unter anderem „die verbrecherische und völkerrechtswidrige Annexion der Krim“ vor. „Und diese aggressive Sprache gegenüber einem Land, das sehr viele Opfer gebracht hat im 2. Weltkrieg,“ habe wie alles andere „mit Vertrauensbildung nichts zu tun, auch nicht mit Konfrontationsabbau, sondern mit Konfrontationsaufbau.“
„In Deutschland gibt es keine eigenständige Ostpolitik mehr“, beantwortete Müller zugespitzt die Frage nach den Ursachen. Die frühere Entspannungspolitik sei „wesentlich von Deutschland ausgegangen“. Zu den treibende Kräften hätten deutsche Politiker gehört, „im Wesentlichen Sozialdemokraten wie Willy Brandt, Egon Bahr, Herbert Wehner, auch Helmut Schmidt“. Die Veränderung sei heute:
„Die jetzigen Führungen sowohl der Bundesregierung und der Koalition, der CDU/CDSU und auch der SPD hören vor allem darauf, was die Nato und die USA wollen.“
USA und Nato geben Kurs vor – Auch SPD und Medien folgen
Müller erinnerte an das SPD-Grundsatzprogramm vom 20. Dezember 1989, das nach dem Fall der Mauer forderte, beide Militärblöcke, den „Warschauer Vertrag“ und die Nato, aufzulösen. Das sei „breiter Konsens“ gewesen, während aber das Gegenteil eingetreten sei, „ganz wesentlich von den USA und der Nato bestimmt“. Der SPD-Beschluss sei de facto vom Tisch gewischt – „weil die deutsche Ostpolitik nah an den USA operiert und nicht darauf achtet, Vertrauen zu schaffen und den Frieden mit allen Ländern Osteuropas zu fördern“.
Er habe viel darüber nachgedacht und geschrieben, warum die SPD diese Politik heute mitmacht, so Müller. Seine Partei habe schon Ende der 1990er Jahre ihre große gestalterische Kraft aufgegeben. Mit dem Krieg gegen Jugoslawien 1999 habe sie die eigene Entspannungspolitik verlassen. Damals hätten „andere Einflusskräfte gewonnen. Die waren auch schon zu Willy Brandts Zeiten da.“ Dessen einstiger Mitarbeiter stellte fest: „Jetzt haben die Atlantiker einen so massiven Einfluss auf die SPD und vor allem auf die Medien.“ Zu Äußerungen von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz in der ARD-Sendung „Anne Will“ vom Februar 2016 über die Russen – „Ich mag sie übrigens nicht besonders. Es ist auch schwer, sie zu mögen.“ – meinte Müller:
„Ich könnte mir denken, dass Martin Schulz erstens nicht darüber nachgedacht hat, zweitens offenbar mit der Tradition seiner eigenen Partei nicht viel zu tun hat, mit den guten Erfahrungen, die sie gemacht hat, und er drittens auch unter Druck der atlantischen Kräfte“ stehe und deren Linie mitmache.
Absurde Feindbilder
Haltungen wie die wiederholte Weigerung des Russlandbeauftragten der Bundesregierung, Gernot Erler, russischen Medien ein Interview zu geben, kommentierte er so: „Dann kapiere ich die Welt überhaupt nicht mehr. Wir haben doch auch Medien, mit denen wir versuchen, andere Völker zu beeinflussen.“ Er fügte hinzu:
„Das ist doch alles absurd! Da spielen Feindbilder eine Rolle. Feindbilder gehören nicht in die sozialdemokratische Entspannungspolitik. Deshalb kann ich Gernot Erler und Martin Schulz nicht verstehen. Sie haben im Grunde die gute Tradition ihrer Partei verlassen!“
Müller kritisierte, die heutigen Politiker auch der SPD seien „medienabhängig“ und „sehen nicht, welchen Schaden sie anrichten“. Für ihn ist es „eigentlich selbstverständlich zu versuchen, die Potenziale, die in ganz Europa liegen, einschließlich Russlands, – Russland gehört zu Europa –, dass man diese Potenziale nutzt, und zwar in Kooperation und nicht in gegenseitiger Aufrüstung.“
Verständnis für Reaktion aus Russland
Er erinnerte daran, dass der russische Präsident in seiner Rede vor dem Bundestag 2001 für Zusammenarbeit geworben hatte. Putin sei dagegen 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz konfrontativer aufgetreten. Müller dazu: „Ich hab das verstanden, weil sein Werben um Zusammenarbeit 2001 und davor bei uns keinen Widerhall gefunden hat.“ In Russland sei umgeschaltet worden, mit der Folge: „Wir haben jetzt einen negativen Wandel durch Konfrontation.“ Das sei das Gegenteil der ursprünglichen Idee der Ostpolitik. Diese negative Entwicklung sei „aber Putin und Russland nicht vorzuwerfen, es sei doch zu erwarten gewesen, dass die sich darauf einstellen und aufrüsten“. Das sei „grauenhaft, eine grauenhafte gegenseitige Eskalationsentwicklung, die man auch im Interesse Deutschlands nicht gut finden kann“
Die deutschen Medien fungieren dabei anscheinend als „Transmissionsriemen der Konfrontation“. Sie seien „entsprechend eingenordet worden“, erklärte der ehemalige hochrangige SPD-Politiker. Er verwies auf aktuelle Untersuchungen aus der Schweiz über die „Propagandamatrix“ dazu, die den weltweiten gezielten Einfluss der USA auf Öffentlichkeit und Medien belege. Es gebe einen „Qualitätssprung, nicht im guten Sinne“. Einst kritische Medien, die zu Zeiten der Entspannungspolitik für das Verständnis und die Zusammenarbeit mit Russland geworben hätten, wie „Der Spiegel“ und die „Süddeutsche Zeitung“, „die haben das Lager gewechselt“. Es gebe in der Bundesrepublik fast kein Medium mehr, „das die Fahne der Entspannungspolitik und des Sich-Vertragens hoch halte“. Das sei bei ARD und ZDF „genauso schlimm wie bei den genannten Printmedien“.
Der Publizist und ehemalige Brandt-Mitarbeiter warnte vor der steigenden Kriegsgefahr in Folge der Konfrontationspolitik. Den heutigen Politikern fehle unter anderem die eigene Kriegserfahrung, die er oder der SPD-Ostpolitiker Egon Bahr und andere hatten.
„Wir haben damals gelernt: Nie wieder Krieg! Davon sind die heutigen weit weg.“
Ihm mache Sorge, „dass es auch Veränderungen in Russland gibt, die uns nicht gefallen können. Wer garantiert uns, dass dort immer friedliche Leute sind? Das kann selbst Putin und der Außenminister nicht garantieren, dass es nicht dort innere Veränderungen gibt, die wir aber dann mit zu verantworten haben. Das erhöht die Kriegsgefahr.“