Alles nur ein Traum? – Ungarische Impressionen

Ungarn scheint anders zu sein – vor allem politisch. Das bringt dessen Regierung besonders unter Deutschen Sympathien. Doch der Blick in das Land an Donau und Theiß zeigt, dass die Realität den Vorstellungen widerspricht. Manches ist in Ungarn nicht anders. Ein Bericht

Budapest im Januar 2025 (alle Fotos: Tilo Gräser)

Tausende Deutsche sind in den letzten Jahren nach Ungarn ausgewandert. Sie flüchten meist vor der deutschen Realität und leben ihren «ungarischen Traum». Es gibt inzwischen zahlreiche Berichte der Medien darüber, von der ARD über das Magazin Geo bis zu den Deutschen Wirtschaftsnachrichten (DWN).

Ein anderes Phänomen ist die Begeisterung zahlreicher Deutscher für die Außenpolitik des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Für seine Initiativen für einen Frieden in der Ukraine bedanken sie sich unter anderem mit dem Tragen der Fahne Ungarns auf Demonstrationen, wie ich mehrfach sah.

Doch oftmals scheint nicht nur der Traum der Auswanderer wieder zu platzen. Davon zeugt unter anderem, dass laut DWN «von 11.340 Auswanderern aus Deutschland nach Ungarn zwischen 2012 und 2021 insgesamt 7.223 wieder nach Deutschland zurückkehrten». Die Realität in dem mitteleuropäischen Land ist eben doch anders, als es den Anschein hat.

Ich war aus privaten Gründen über den Jahreswechsel wieder einige Tage in Ungarn, in Ostungarn ebenso wie in der Hauptstadt Budapest. Das vermittelte zugleich einen kleinen Einblick in die Lage in dem Land, das manche in Deutschland als Hoffnungsträger sehen.

Gesehen habe ich nicht allzu viel, was Hoffnung macht, auch wenn Plakate in dem Land derzeit verkünden: «Ungarn kann es schaffen». Zu sehen ist darauf ein Mann, der mit einer ungarischen Fahne in der Hand einen Gipfel erklimmt.

Es geht dabei um eine neue nationale «Umfrage» der Regierung, mit der sie Zustimmung zu einer neuen Wirtschaftspolitik sucht. Die soll die ungarische Wirtschaft stärken, die Familieneinkommen und Löhne erhöhen, kleine und mittlere Unternehmen fördern und das Wohnen erschwinglicher machen. Mehr als eine Million Menschen haben laut offiziellen Angaben den Fragebogen bereits ausgefüllt.

Günstling als Konkurrent

Orbán und seine Partei FIDESZ müssen etwas tun, um in der Bevölkerung zu punkten und spätestens bei der nächsten Wahl 2026 die Macht nicht wieder zu verlieren. Die haben sie seit 2010 inne, nach dem Orbán schon einmal von 1998 bis 2012 regierte.

Ausgerechnet einer seiner früheren Günstlinge wird ihm zunehmend gefährlich: Peter Magyar. Dessen Partei Tisza hat inzwischen in Umfragen den FIDESZ überrundet, woraufhin er selbst in seiner «Neujahrsansprache» Neuwahlen im Frühjahr 2025 forderte.

Ein langjähriger und erfahrener ungarischer Journalist bestätigte die entsprechende Stimmung im Land, die sich zunehmend gegen Orbán und Fidesz wende. Viele Menschen, vor allem die Jüngeren, würden Veränderung und einen Wechsel wollen.

Der international aktive Premierminister müsse «nach Ungarn zurückkehren», wenn er seinen Abgang verhindern wolle. Er müsse sich um die Situation im Lande kümmern, die wirtschaftlich und sozial immer schwieriger werde.

Die Regierungspartei Fidesz sei zu träge geworden, schätzte der Journalist ein. Er verwies auch auf die in Ungarn weit verbreitete Korruption, die für Unruhe sorge. Von dieser künden unter anderem die millionenschweren Immobiliengeschäfte von Orbán-Schwiegersohn István Tiborcz.

Vergangenheit statt Gegenwart

Ich habe einige der Objekte, die er kaufte und aufwendig sanieren lässt, unter anderem am Budapester «Freiheitsplatz», gesehen. Dazu gehört unter anderem das Gebäude, in dem früher das ungarische Fernsehen saß, sowie eine ganze Reihe von Hotels in Budapest. Tiborcz gilt als wichtiger Investor in Ungarn und tummelt sich inzwischen auch auf internationalen Immobilienmärkten wie dem von Belgrad.

In Budapest sind zahlreiche eingerüstete historische Gebäude zu sehen, im Zentrum ebenso wie auf dem Pester Burgberg. Sie werden mit Millionen aufwändig saniert und rekonstruiert – als werde die Vergangenheit gepflegt, während die Gegenwart vernachlässigt wird.

Gleichzeitig ist den Wohngebäuden in der Hauptstadt anzusehen, dass seit Jahrzehnten nichts für ihren Erhalt getan wurde: die Fassaden grau und schmutzig, bröckelnder Putz. Die Schönheit alter Gebäude wird zum Teil von ihrem schlechten Zustand überdeckt.

Ein anderes Beispiel für die Diskrepanz zwischen Anspruch und Lebenswirklichkeit erlebte ich bei der Zugfahrt nach und von Ostungarn. Die dort eingesetzten alten Triebwagen der Baureihe Bzmot stammen noch aus der Zeit vor 1989, von der einstigen tschechoslowakischen Firma Vagónka Studénka. Eine Fahrt mit ihnen ist fast wie eine Zeitreise, wie auch Ostungarn zum Teil wirkt, als wäre die Zeit stehengeblieben.

Immer noch fahrtüchtig: Die alten Triebwagen

Es gibt natürlich moderne Triebwagen und Züge bei der ungarischen Bahn MÁV, wie ich an den Bahnhöfen Nyugati und Keleti in Budapest sehen konnte. Doch die fahren meist auf den Strecken in Zentral- oder Westungarn oder werden wie die modernen IC-Waggons aus Ostungarn an den Balaton verlegt, ohne Rückfahrkarte.

Hoffnungslosigkeit statt Perspektiven

Die Fahrt im überheizten Triebwagen, der trotz der unüberhörbar schlechten Schienen – rhythmische Schläge künden davon – nicht aus diesen springt, führt in Ostungarn durch eine anscheinend abgehängte Region. In sie wird im Vergleich zum westlichen Ungarn, aus dem Orbán stammt, nur wenig investiert. Und vieles, was es an Industrie und Landwirtschaft gab, hat schon vor Jahren dichtgemacht.

Einzelne Vorzeigeprojekte sollen in die Zukunft führen, ohne die Gegenwart und die heute lebenden Menschen zu beachten. Hochmoderne Landwirtschaftsfirmen nutzen modernsten Technologie und brauchen kaum Arbeitskräfte, während sie zugleich die noch existierenden Landwirte niederkonkurrieren.

So atmet Ostungarn etwas von Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit, während die Menschen versuchen, über die Runden zu kommen. Wer arbeitslos wird, bekommt nur drei Monate Arbeitslosenhilfe und danach eine völlig unzureichende soziale Grundsicherung.

Wer keine Arbeitslosenunterstützung bekommt, wird zu «Arbeiten im Interesse der Gemeinden», zum Beispiel zur Straßenreinigung, verpflichtet. Diese Menschen bekommen dann nur den Mindestlohn von umgerechnet brutto 727 Euro. Sie gelten dann nicht mehr arbeitslos – was gut für die Statistik ist, wovon die offiziell seit 2015 sinkende Arbeitslosenquote (aktuell 4,4 Prozent) zeugt.

Die Löhne halten aber nicht mit den steigenden Preisen besonders bei Lebensmitteln und der wachsenden Inflation mit. Das Preisniveau dürfte geschätzt bei fast Zweidrittel des deutschen liegen, während das Durchschnittslohn ungarischer Beschäftigten (2022: 1.504 € pro Monat) nicht einmal die Hälfte derer in Deutschland (2022: 4.449 € pro Monat) erreicht. Da gibt es natürlich in beiden Fällen Unterschiede je nach Region und Wirtschaftszweig, aber die Differenzen sind deutlich spürbar.

Wer Arbeit hat, zumal in einem der ungarischen Standorte vor allem deutscher und westlicher Konzerne, kann davon durchaus leben. Aber das bezahlen die Beschäftigten zum Teil mit Arbeitsbedingungen, die nicht den Standards der Herkunftsländer der Konzerne entsprechen, wie ich erfuhr.

EU-Strafen statt Unterstützung

Die Preise in der Hauptstadt sind dabei für normale Ungarn kaum erschwinglich und längst an den vielen westlichen und asiatischen Touristen orientiert. Alles wird dort an ihnen ausgerichtet, was sich auch am Stadtbild zeigt. Aus vielen Wohnungen in alten Gebäuden sind längst Appartements für die Touristen geworden.

Hinzu kommt, dass die Europäische Union (EU) das Land für seine eigenwillige Politik und wegen nicht erfolgter «Reformen» bestraft, in dem zustehende Milliarden-Beträge zurückgehalten oder nicht ausgezahlt werden. Die Entwicklung führt zu wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit der Fidesz-Regierung unter Orbán, wie der ungarische Journalist ebenso wie ein anderer Gesprächspartner berichtete.

Letzterer fragte empört, warum die korrupte und undemokratische ukrainische Führung unter Wolodymyr Selenskyj von der EU immer neue Milliarden für den Krieg bekommt, während Ungarn Geldern wegen angeblicher Rechtsstaatsverstöße und vermeintlich missachteter Minderheiten vorenthalten werden. Er warnte wie der Journalist vor den Folgen eines Wechsels in Budapest von Orbán zu Magyar.

«Dann wird es, wie es sich Ursula von der Leyen wünscht», sagte der Berufskollege dazu, der den Herausforderer nicht für eine Alternative hält. Das sah auch ein Taxifahrer in Budapest so, der Magyar allerdings keine Chancen ausrechnet, auch wenn er deutlich Zweifel an Orbáns Politik hat.

Das gilt auch für das, was der ungarische Premier öffentlichkeitswirksam in Sachen Friedenslösung für die Ukraine unternimmt. Das sei nur Schauspiel, meinte der Taxifahrer, der mehr als fünf Jahre in Deutschland gelebt und gearbeitet hatte. Doch es gebe keine politische Kraft in dem Land, die eine wirkliche Alternative darstellen könnte, was die anderen Gesprächspartner bestätigten.

Zu meinen Beobachtungen gehört, dass die erkennbare Armut in Ungarn zunimmt, ob in der Hauptstadt, in regionalen Städten oder auf dem ungarischen Land. Die politische Klasse hat sich von den normalen Menschen und ihrem realen Leben anscheinend immer weiter entfernt – insofern ist es dort nicht anders als in Deutschland oder anderswo in der EU. Was daraus folgt, bleibt hier wie dort zu beobachten.

Dieser Text erschien zuerst im Onlinemagazin Transition News