die wirklichkeit selbst wagt die wende,
wilder als unsere wünsche.
und während die frage gestellt wird:
wann wird die mauer geöffnet?
und ich antworte: ich glaube, eben jetzt –
geschieht es tatsächlich,
durch ein mißverständnis,
das vollkommen genügt.
Volker Braun am 9.11.89 (Quelle: «Werktage 1977-1989»)
In den letzten Stunden des 9. November vor 35 Jahren öffnete eine völlig überforderte Partei- und Staatsführung des zweiten deutschen Staates, der DDR, überraschend die eigene Grenze. Seitdem wird vom «Mauerfall» gesprochen, auch wenn keine Mauer fiel, auch nicht die in Berlin, sondern eben nur eine Grenze geöffnet wurde.
Die auch schon vorher gewissermaßen löchrig war, weil erst Ungarn im September 1989 und dann die ČSSR Anfang November ihre Grenzen nach Westen für ausreisewillige DDR-Bürger öffneten. Der Schritt der DDR-Führung, mit dem diese versuchte, Herr der Lage zu bleiben, ging auch durch seine dilettantische Umsetzung sprichwörtlich nach hinten los.
Sei dem wird das Ereignis von jenen und ihren politischen Nachfolgern offiziell gefeiert, die zur Grenzöffnung vor 35 Jahren nur insofern beitrugen, indem sie die DDR nie als eigenständigen Staat anerkannten, ihre Existenz mit allen Mitteln bekämpften – und dann selbst überrascht waren, als die DDR-Bürger durch die offene Grenze in den Westen kamen. So haben sie zumindest zu den inneren Problemen und dem daraus entstehenden inneren Druck in dem zweiten deutschen Staat beigetragen, der immer mehr Menschen dort auf die Straße und auf verschiedenen Wegen in den Westen trieb.
Zugleich wird immer noch gerätselt, was wirklich die Ursache war: Ein im Geheimen abgesprochener Plan zwischen Washington und Moskau oder die Rache der SED-Spitze an jenen, die den «Sozialismus in den Farben der DDR» demokratischer gestalten wollten. Oder war es einfach nur die Unfähigkeit der alles bestimmen wollenden SED-Führung, die angestauten Probleme in der DDR auch nur ansatzweise flexibel zu lösen – was dann zu einem Überdruck führte, der wie in einem Kessel dann das Ventil absprengt und alles rauslässt.
Ich tendiere eher zur dritten Variante, auch nach meinen Gesprächen mit Zeitzeugen von damals, ohne genau zu wissen, ob nicht eine der anderen beiden doch stimmt beziehungsweise entscheidend war. Auf jeden Fall hat der Kalte Krieg zwischen Kapitalismus und Sozialismus dazu beigetragen, bei dem der «Osten» der schwächere Part war.
Und auch die Missgunst der selbsternannten Kommunisten an der DDR-Spitze, die angeblich den Weg in die Zukunft kanten, gegenüber jenen, die diesen ideologisch erstarrten Weg nicht mehr mitgehen wollten, ob der historischen Führungsrolle wird eine Rolle bei den konkreten Entscheidungen gespielt habe. Am Ende können wir aus den bekannten historischen Fakten nur ein nie vollständiges Mosaik zusammentragen von dem, was am 9. November 1989 geschah.
Das Datum 9. November sticht in der deutschen Geschichte der letzten zweihundert Jahre mehrfach mit besonderen Ereignissen hervor: Am 9. November 1848 wurde mit der Hinrichtung der linksliberalen Revolutionärs Robert Blum die bürgerlich-demokratische Revolution in Deutschland endgültig abgewürgt und zu Grabe getragen.
An dem Tag entmachteten in Berlin die preußischen Truppen unter General Friedrich von Wrangel die Bürgerwehr von Berlin, die die parlamentarische Demokratie verteidigen wollte. Die «halbe Revolution» der Deutschen endet mit dem Sieg „einer ganzen Konterrevolution“ der alten Fürstenmacht, kommentierte Karl Marx damals lakonisch, in dieser Zeit Chefredakteur der Neuen Rheinischen Zeitung.
In die Reihe des Datums gehört außerdem der 9. November 1918, an dem in Folge der auf den Ersten Weltkrieges folgenden «Novemberrevolution» der deutsche Kaiser abdanken musste. Gleich zweimal wurde an dem Tag eine deutsche Republik ausgerufen, einmal vom SPD-Politiker Philipp Scheidemann, und dann zwei Stunden später vom ehemaligen SPD-Abgeordneten Karl Liebknecht die «freie sozialistische Republik Deutschland».
Liebknecht wurde im Januar 1919 gemeinsam mit seiner Mitstreiterin Rosa Luxemburg ermordet – im Auftrag jener, die mit Hilfe der SPD und ihrer Scheidemänner keine wirklichen Veränderungen in Deutschland wollten und dafür sorgten, dass Im Gewand der Demokratie die alten Machtverhältnisse restauriert und gesichert wurden. Wohin das führt, zeigte sich bereits am 9. November 1923 als Adolf Hitler gemeinsam mit dem Reichswehr-General Erich von Ludendorff in München einen Putschversuch unternahm.
Das missglückte damals noch und war das Vorspiel zu dem was folgte, als Hitler und den von ihm geführten Faschisten am 30. Januar 1933 die Macht übergeben wurde – von jenen, die schon 1918 dafür sorgten, dass die wahren Macht- und Herrschaftsverhältnisse in Deutschland unangetastet bleiben. Zu den Folgen gehörte die «Reichskristallnacht», als in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 die faschistischen SA-Truppen und SS-Angehörige die jüdische Bevölkerung angriffen und jüdische Geschäfte und Synagogen verwüsteten und in Brand steckten.
Das war die Einleitung der späteren planmäßigen Judenvernichtung in Deutschland, die die deutschen Faschisten im Zuge des von ihnen mit entfesselten Zweiten Weltkrieges auf ganz Europa und bis in die Sowjetunion ausweiteten. Die Teilung Deutschlands und die Gründung der DDR im Oktober 1949 war eine der Konsequenzen und der Versuch einer Antwort auf die unbeschreiblichen Verbrechen der deutschen Faschisten und des «fruchtbaren Schosses» (Brecht), aus dem sie krochen.
Das führt dann zum 9. November 1989 mit der «chaotischen Grenzöffnung» (Modrow). Das war das Ende des Versuches einer Alternative zu den so lange in Deutschland bestimmenden Herrschafts- und Machtverhältnisse darstellte, die so viel Elend, Krieg und Verbrechen an der Menschheit hervorgebracht hatten.
Ich hatte das damals intuitiv gespürt, als ich in meiner Heimatstadt Gotha vor dem Fernseher saß und die Übertragung der Pressekonferenz sah, auf der SED-Funktionär Günter Schabowski erklärte, alle DDR-Bürger könnten «sofort» und «unverzüglich» über die Grenze gehen. Alles, was dem folgte, bis zum 3. Oktober 1990 und danach, war genau das, was ich befürchtete: Die Wiederherstellung der alten Herrschafts- und Machtverhältnisse Deutschlands auch auf dem Territorium der DDR, die in ihrem 41. Jahr unterging.
Bezahlt haben das auch all jene, die in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 freude- und zum teil sekttrunken die Grenze in den Westen überschritten und sich wie befreit fühlten. Sie wurden dann wirklich «befreit»: von ihren Arbeitsplätzen, durch die Deindustrialisierung des DDR-Gebietes mit Folgen bis heute.
Das gehört zu den Gründen, warum ich die offiziellen Feiern am heutigen Tag zum «Mauerfall», bei dem es angeblich nur um die «Freiheit» ging, als verlogen ansehe. Jene, die da von einer angeblichen «Revolution» in der DDR reden, fürchten eine solche wie der Teufel das Weihwasser und haben das in der Geschichte Deutschlands mehrfach bewiesen, auch am 9. November.
Insofern ist es immer ein Datum in der deutschen Geschichte, das verknüpft ist mit dem, was Marx schon 1848 klar als «Konterrevolution» einschätzte.