Der Journalist Jörg Kronauer beschreibt in seinem jüngsten Buch, wie und warum der US-geführte Westen gegen Russland und China aufmarschiert. Zugleich warnt er davor, dass „Der Aufmarsch“, so der Buchtitel, in den Dritten Weltkrieg führt. „Hintergrund“ hatte die Gelegenheit, mit dem Autor zu sprechen, als er kürzlich in Berlin zu einem Vortrag weilte.
Hintergrund: Herr Kronauer, Sie haben kürzlich in Berlin über den Inhalt Ihres Buches „Der Aufmarsch – Vorgeschichte zum Krieg“ gesprochen, in dem es um Russland, China und der Westen geht. Das Buch erschien vor einem Jahr, in der Zeit um den Beginn der russischen Militäroperation in der Ukraine. Ist der russische Einmarsch in der Ukraine die militärische Antwort auf den Aufmarsch des Westens gegenüber Russland?
Jörg Kronauer: Ich würde sagen, zum Teil ja. Aber es ist nicht alles. Es gibt meiner Ansicht nach noch weitere Motive und Kriegsziele auf russischer Seite. Aber die westliche Politik bis in den Februar 2022 hinein ist sicherlich ein ganz zentraler Teil dabei. Und ich denke, das ist für uns hier der zentrale Teil. Ich würde vieles in Hinsicht auf den Krieg selbst kritisieren, aber wenn wir politisch aktiv werden wollen, dann können wir das nur im eigenen Land. Und da gibt es eben eine ganze Menge Missstände. Ich denke, es hätte die Möglichkeit gegeben, den Krieg zu verhindern, wenn im Westen eine andere Politik gemacht worden wäre. Und meiner Ansicht nach müssen wir uns damit beschäftigen.
Hintergrund: Welche Punkte im Buch würden Sie würden aufgrund der Ereignisse seitdem aktualisieren?
Kronauer: Diese Frage habe ich mir noch nicht gestellt. Sicherlich müsste aus heutiger Sicht auf jeden Fall die russische Politik stärker einbezogen werden. Ich gehe ja hauptsächlich auf die westliche Politik ein. Eben aus dem Motiv heraus, zu schauen, was im eigenen Land vor sich geht, auf der eigenen Seite des Konflikts. Um die Sachen diskutierbar machen zu können und eine Debatte darüber in Gang zu bringen. Aber ich denke, aus heutiger Sicht müsste sicherlich die russische Politik, auch der russische Nationalismus, der da meiner Ansicht nach eine Rolle spielt, stärker berücksichtigt werden.
Hintergrund: Sie beschäftigen sich im Buch nicht nur mit Russland und dem Westen, sondern auch mit China und dem Westen. Manche Beobachter sagen, der Krieg, der in der Ukraine vom Westen gegen Russland geführt wird, ist die Vorstufe zum Krieg des Westens gegen China. Wie sehen Sie das?
Kronauer: „Vorstufe“ würde ich nicht sagen. Ich denke, das sind unterschiedliche Konflikte mit unterschiedlichem Hintergrund, der Konflikt zwischen dem Westen und Russland auf der einen Seite und zwischen dem Westen und China auf der anderen Seite. Insofern würde ich es nicht als eine logische Vorstufe bezeichnen. Wollen wir mal hoffen, dass es nicht zu einer wirklichen Vorstufe wird in dem Sinne, dass tatsächlich noch ein großer Krieg zwischen dem Westen und China kommt. Dann wäre es natürlich zeitlich eine Vorstufe gewesen.
Aber von der politischen Logik her würde ich sagen, es sind unterschiedliche Konflikte. Der Ukraine-Krieg hat sicherlich viel damit zu tun, dass die westlichen Mächte in ihrer Politik bis Anfang 2022 stetig eine Nato-Expansion in Richtung Osten vorangetrieben haben, durch die Nato-Osterweiterung, durch das Beitrittsangebot an die Ukraine, durch die militärische Zusammenarbeit mit der Ukraine, durch Manöver, durch die ständige Positionierung von Truppen weiter im Osten, während der Konflikt mit China ein anderer ist. Da geht es tatsächlich darum, dass China als Land mit seinen 1,4 Milliarden Menschen und seinem gewaltigen ökonomischen Potenzial tatsächlich das Potenzial hat, die USA an der Spitze der Weltpolitik abzulösen und auch die europäischen Staaten mit ihrer globalen Macht, die sie ja auch haben, wirklich zurückzudrängen. Von daher ist das ein Konflikt, der eine andere Wurzel hat.
Hintergrund: Warum hat sich die Konfrontation zwischen Ost und West in der Ukraine so herausgebildet, seit 2014 im Prinzip und jetzt zugespitzt zu dieser militärischen Konfrontation? Warum die Ukraine?
Kronauer: Weil die Ukraine eine spezielle geostrategische Bedeutung hat. In der russischen Geschichte ist es immer so gewesen, dass Angreifer aus dem Westen gekommen sind. Das gab es Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem napoleonischen Frankreich oder im 20. Jahrhundert zweimal mit dem Deutschen Reich. Ein wichtiger Faktor, der dazu geführt hat, dass Russland und die Sowjetunion die Angriffe überstehen und zurückschlagen konnten, war jeweils die riesige Entfernung zwischen dem Gebiet, aus dem die Angreifer jeweils kamen, und dem russischen Kernland. Strategen sprechen da zuweilen von „strategischer Tiefe“ und meinen diese riesigen Entfernungen, die überwunden werden mussten und letztlich nicht überwunden werden konnten. Für diese riesigen Entfernungen steht eben die Ukraine. Solange die Ukraine ein neutraler Staat ist, hat Russland einen gewissen Schutz vor einem Angreifer allein durch die Entfernung, die der Angreifer zurücklegen muss. Wenn die Ukraine Mitglied eines potenziell gegnerischen Militärbündnisses wäre, dann wäre es so, dass Russland direkt an seinen Grenzen angegriffen werden könnte, auf einer langen Grenze, und kaum noch zu verteidigen wäre.
Hintergrund: Wie bewerten Sie die Politik der Bundesregierung in diesen Konflikten Westen versus Russland, Westen versus China? Es gab jetzt den „Stern“-Titel, wo der große US-Präsident Joseph Biden den kleinen Bundeskanzler Olaf Scholz an die Hand nimmt. Ist die bundesdeutsche Politik nur die Vollstreckerin der US-Interessen?
Kronauer: Nein, das würde ich definitiv nicht sagen. Die US-Interessen und die deutschen Interessen unterscheiden sich. Nehmen wir mal das Beispiel China: Es gibt durchaus das Interesse der Bundesrepublik, mit China auf der wirtschaftlichen Ebene weiterhin zusammenzuarbeiten, denn die deutsche Wirtschaft ist tatsächlich angewiesen auf das China-Geschäft. VW macht zum Beispiel 40 Prozent des Absatzes in China, investiert zunehmend in Forschung und Entwicklung in China. VW ohne China kann ich mir nicht mehr vorstellen. Und VW ist ja einer der ganz großen Konzerne in der Bundesrepublik. Auf der anderen Seite ist es natürlich so, das stetige Wachstum Chinas und sein Erstarken macht es zu einem Rivalen für die deutsche Politik. Denn die deutsche Politik hat in den letzten Jahrzehnten wirklich eine wichtige Rolle in der Weltpolitik gespielt. Jetzt ist dieses riesige, starke China da, zum Beispiel in Lateinamerika. Die lateinamerikanischen Staaten arbeiten inzwischen viel enger mit China zusammen, als sie das mit Deutschland getan haben. Das heißt also, aus einem Machtinteresse der herrschenden Klasse in Deutschland heraus ist es durchaus so, dass es wünschenswert wäre, den Aufstieg Chinas zu bremsen.
Da deckt sich das deutsche Interesse dann mit den US-Interessen. Das heißt, die deutschen Interessen sind in sich widersprüchlich und sehr schwer zu vermitteln. Im aktuellen Konflikt mit Russland, im Ukraine-Konflikt kommt natürlich hinzu, dass die Vereinigten Staaten eine andere Größenordnung sind als die Bundesrepublik. Das heißt, in dieser zugespitzten Situation können die Vereinigten Staaten ihre Interessen gegenwärtig durchaus durchsetzen. Und wenn es nur ist – das waren ja mutmaßlich die USA –, dass da eine Pipeline gesprengt wird, also dass man einfach Fakten schafft. Die USA sitzen am längeren Hebel und die Bundesrepublik muss dann zwangsläufig bestimmte deutsche Interessen fallen lassen. Aber das ist eine Zwangslage, das ist nicht eine Lage, wo die Bundesregierung praktisch freiwillig deutsche Interessen zurückstellt, sondern wo sie in mancherlei Hinsicht nicht anders kann. Man muss ja auch sehen, dass es auf deutscher Seite ein ganz massives Interesse an einer Zusammenarbeit mit den USA gibt. Die Vereinigten Staaten sind mit Abstand der größte Wirtschaftsstandort deutscher Konzerne im Ausland. Die verdienen da ein irrsinniges Geld. Das würden sie nicht verdienen, wenn die deutsch-US-amerikanische Zusammenarbeit nicht laufen würde. Von daher müssen die mit den USA auch zusammenarbeiten. Nur allein aus ökonomischem Interesse.
Hintergrund: Wie wahrscheinlich sehen Sie einen Krieg des Westens gegen China, um den weiteren Aufstieg Chinas zu verhindern? Es gibt ja historische Beispiele: Das 19. Jahrhundert, wo der Westen China ganz klar gezeigt hat mit militärischen Mitteln, wer der neue Herrscher der Welt ist.
Kronauer: Wie wahrscheinlich ist ein solcher Krieg? Das ist eine ganz schwierige Frage. Hoffen wir, dass er verhindert werden kann. Es gibt klare Stellungnahmen aus den Vereinigten Staaten, aus dem US-Militär zum Beispiel, die sagen, ein Krieg der Vereinigten Staaten gegen China ist ziemlich wahrscheinlich. Es gibt klare Aussagen, zum Beispiel von James Stavridis, der ein Buch über diesen Krieg geschrieben hat, er halte diesen Krieg leider für sehr wahrscheinlich. Er warnt davor und er dringt darauf, das zu verhindern. Aber ob das gelingt, ist eine andere Frage. Es gibt auch aus dem außenpolitischen Establishment, von Politikwissenschaftlern wie Graham Allison zum Beispiel die Aussage, dass der Krieg sehr wahrscheinlich ist. Man muss das zur Kenntnis nehmen und auf der einen Seite hoffen, dass es nicht der Fall sein wird, auf der anderen Seite nach Möglichkeit auch aktiv werden, um diesen drohenden Krieg zu verhindern.
Hintergrund: Sie warnen in Ihrem Buch vor einem dritten Weltkrieg. Manche Beobachter sagen, der sei mit dem Geschehen in der Ukraine eigentlich schon ausgebrochen. Wie wahrscheinlich ist dieser globale Krieg, der Dritte Weltkrieg? Sie warnen davor und fordern, etwas dagegen zu tun. Was können die Menschen dagegen tun?
Kronauer: Ja, vielleicht hat er schon angefangen. Die Frage mit den Datierungen ist ja immer schwierig. Wann hat der Zweite Weltkrieg angefangen? Natürlich am 1. September 1939. Man muss sich ja auch fragen: Ist das nicht eine europäische Perspektive? China ist schon vorher von Japan angegriffen worden. Es gab da fürchterliche Massaker schon vor dem 1. September 1939.
Auf jeden Fall ist das die globale Konflikt-Konstellation, in der dieser dritte Weltkrieg stattfinden würde. Die ist schon da. Und ja, was kann man tun, um den zu verhindern? Ich denke, die erste Sache muss immer sein, sich möglichst unabhängig zu informieren. Dann muss der nächste Schritt sein, dass man überlegt, wo man aktiv werden kann. Die Frage kann ich persönlich nicht beantworten. Ich habe für mich die Lösung gefunden, dass ich versuche, Informationsarbeit zu leisten, Recherchen zu betreiben, Sachverhalte aufzudecken, Strategien offenzulegen. Aber es gibt sicherlich Möglichkeiten, auf die Straße gehen, sich politisch organisieren, in welcher Form auch immer, und dann die eigene Stimme vernehmlich machen mit der Forderung, eben diesen Krieg zu verhindern.
Hintergrund: Wie stark schätzen Sie die Friedensbewegung ein, die ja jetzt für Aufsehen gesorgt hat mit der Debatte um die Demonstration in Berlin am 25. Februar? Es gibt ja schon lange eine Friedensbewegung. Manche sprechen jetzt von der neuen Friedensbewegung. Wie stark schätzen Sie die ein?
Kronauer: Auf jeden Fall nicht stark genug. Wenn sie einen großen Krieg verhindern soll, dann muss sie viel stärker sein. Und sie muss sich international vernetzen, denn es ist ein globales Konflikt-Szenario. Die Friedensbewegung hier müsste sich kurzschließen mit der Friedensbewegung in den USA, mit der Friedensbewegung in Japan, die es ja gibt, oder in Südkorea, wo es auch Kräfte gegen den Krieg gibt, eventuell auch in Australien. Es gab in Australien Proteste gegen ein Manöver, an dem in diesem Jahr die Bundeswehr teilnehmen wird. Wir können uns kurzschließen mit den Leuten da unten, auch wenn es weit weg ist. Die heutige Technologie gibt ja auch uns Möglichkeiten, uns da zu vernetzen. Insofern das sollten wir das dringend tun, denke ich.
Jörg Kronauer: „Der Aufmarsch – Vorgeschichte zum Krieg. Russland, China und der Westen“
PapyRossa Verlag 2022.
207 Seiten; ISBN 978-3-89438-778-5; 14,90 Euro
Das Interview wurde im März 2023 geführt und erschien in Ausgabe 7/8-23 des gedruckten Magazins „Hintergrund“.