Am 30. September 1989 hat sich die Ohnmacht der damaligen DDR-Partei- und Staatsführung unter Erich Honecker auf eine dramatische und deutliche Weise gezeigt. Im Rückblick darauf erscheint der Weg zur Grenzöffnung am 9. November folgerichtig und unaufhaltsam. Die Ereignisse haben auch klar gemacht: Moskau hilft nicht mehr.
Der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher erklärte am 30. September 1989 gegen 19 Uhr auf dem Balkon der BRD-Botschaft in Prag mehreren tausend DDR-Bürgern, dass sie in die Bundesrepublik ausreisen dürfen. Mit laut den Augenzeugen unbeschreiblichem Jubel reagierten die Menschen darauf. Genau das hatten sie erreichen wollen, als sie im Frühjahr 1989 begannen, die Botschaften der BRD in Prag, Budapest, Warschau und selbst die ständige Vertretung der BRD in Ost-Berlin zu besetzen.
Der Tag vor 30 Jahren zeigte endgültig, dass die SED-Führung mit dem Generalsekretär Erich Honecker nur noch reagieren kann und das Heft des Handelns längst verloren hat. Inzwischen gibt es eine umfangreiche Literatur mit Aussagen von Zeitzeugen sowie mit Dokumenten zu den Ereignissen. Sie belegt, wie ohnmächtig und hilflos die DDR-Vertreter einschließlich des Ministeriums für Staatssicherheit reagierten. Ihnen liefen die eigenen Bürger weg, enttäuscht von der Unbeweglichkeit der politischen Führung und deren Unwillen zu Reformen.
„Landsleute“ angelockt
Zugleich wurden sie angelockt: Die BRD-regierung weigerte sich bis zuletzt, die DDR-Staatsbürgerschaft anzuerkennen. Artikel 116 des Grundgesetzes machte alle DDR-Bürger zu Deutschen unter bundesdeutscher Hoheit. So wurde die Fluchtbewegung in diesem Maß möglich, auch wenn die Ursachen dafür DDR-gemacht waren. Bezeichnenderweise sprach Genscher die Botschaftsbesetzer aus der DDR mit „Liebe Landsleute“ an.
Zum anderen wurden in Ungarn, wahrscheinlich nicht anders in Polen und der ČSSR, DDR-Bürger auf verschiedene Weise eingeladen, die Botschaften und eingerichtete Aufnahmelager zur Flucht zu nutzen. So sprachen beispielsweise im Sommer 1989 in Budapest Mitarbeiter der „Malteser“ gezielt erkennbare DDR-Touristen an, die Chance zur Flucht zu nutzen. Die katholische Hilfsorganisation organisierte im Auftrag der ungarischen Regierung die Lager für DDR-Bürger. Nicht alle gingen damals darauf ein, wie der Autor damals erfuhr.
Nicht mehr die SED-Spitze entschied den Gang der Dinge, sondern andere. Dabei spielte eine wichtige Rolle, was eine kleine Episode aus dem September 1989 deutlich macht. Über die berichtete der ehemalige DDR-Staatsrechtler Ekkehard Lieberam Ende August dieses Jahres in der Tageszeitung „junge Welt“:
„Noch vor der ‚Wende‘ gab es, um den 10. September 1989 herum, ein Angebot des Außenministeriums der Bundesrepublik an die Regierung der DDR, miteinander ‚über die Vereinigung‘ zu verhandeln.“
Die von Lieberam zitierte Begründung der Bonner Vertreter ist interessant: „Die Voraussetzungen der Zweistaatlichkeit, ‚Jalta und die Stärke der Sowjetunion‘, seien entfallen.“
Schwäche ausgenutzt
Zur selben Zeit, am 11. September 1989, öffnete das noch sozialistische Ungarn seine Grenze zu Österreich für Bürger aus dem „Bruderland“ Ungarn. Laut dem ehemaligen DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow bedankte sich Bonn bei Budapest mit rund drei Milliarden D-Mark Finanzhilfe. Die von Lieberam erwähnte Episode ist ein kleiner Beleg dafür, was führende Kreise des Westens dachten: Der Ostblock pfeift auf dem sprichwörtlichen letzten Loch.
Davon kündete bereits die Tatsache, dass im April 1989 US-CIA-General Vernon A. Walters als Botschafter der USA in Bonn akkreditiert wurde. Der hatte nach eigenen Worten die „Wiedervereinigung“ vorausgesehen. Die „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zitierte den reaktivierten CIA-Putsch-Veteran am 10. Januar 1989 mit dem Satz: „Eine meiner Hauptaufgaben ist es, die Letzte Ölung zu geben, kurz bevor der Patient stirbt.“ Der einstige US-Experte des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), Klaus Eichner, schrieb dazu in der Zeitschrift „Ossietzky“ im Jahr 2014:
„Die Analyse der US-Strategen besagte: Die Supermacht UdSSR und ihre mehr oder weniger sicheren Bündnispartner in Osteuropa sind sturmreif. Jetzt und hier geht es also ums Ganze!“
Die sowjetische Führung unter dem im Frühjahr 1985 ins Amt gekommenen KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow wusste zumindest um die eigenen Probleme. Sie suchte den Ausweg in Reformen und indem die anderen realsozialistischen Länder aus der Moskauer Vormundschaft entlassen wurden, neben der weitgehenden Annäherung an den Westen, auf Hilfe vom einstigen Gegner hoffend. So kam es, dass es bereits gegen die bekannten vorsichtigen Pläne Ungarns, die Grenze zum Westen zu öffnen, keinen sowjetischen Widerspruch gab.
Hilfe nicht für jeden
Als Bundesaußenminister Genscher Ende September in New York mit Polizei-Blaulicht zu seinem sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse fuhr und um Hilfe bat, die Situation der völlig überfüllten Prager BRD-Botschaft klären, wurde er nicht abgewiesen. Das berichtete kürzlich Frank Elbe im Sputnik-Interview, der Redenschreiber von Genscher war. In den Erinnerungen des verstorbenen Bundesaußenministers wird Schewardnadses Antwort so wiedergegeben: „Ich helfe ihnen.“ Die Außenminister waren damals gerade zur UN-Vollversammlung in New York.
Dort war ebenfalls DDR-Außenminister Oskar Fischer anwesend. Der bat bei seinem sowjetischen Amtskollegen erfolglos um Hilfe „gegen Westdeutschlands revanchistische Intentionen“. Nachzulesen ist das in dem Buch „Zündfunke aus Prag“ über die damaligen Ereignisse. Schewardnadse soll geantwortet haben, „dass diese früher so [gewesen sei], heute aber nicht mehr geh[e], denn heute hab[e] man Demokratie“. Er habe empfohlen, die Ausreisewilligen ziehen zu lassen.
Buchautor Karel Vodička zufolge hat Fischer gegenüber DDR-Partei- und Staatschef Honecker festgestellt, dass die BRD für die sowjetische Führung wichtiger geworden sei als das „Bruderland“ DDR. Das habe „vermehrt mit nachlassender Unterstützung aus Moskau zu rechnen“. Vodička weiter:
„Honecker ist ab diesem Moment auf sich allein gestellt. Künftig kann er nicht mehr ohne weiteres auf die Unterstützung der Sowjetunion, in militärischer und politischer Hinsicht, bauen.“
Hilflose DDR-Reaktion
Moskau habe auf die Informationen von Schewardnadse hin Druck auf Ost-Berlin ausgeübt, berichtete unlängst der ehemalige Staatsekretär im bundesdeutschen Auswärtigen Amt, Jürgen Sudhoff, bei einer Veranstaltung. Er gehörte damals zu jenen, die versuchten, die Lage in den Botschaften im Sinne Bonns zu klären. Das Ergebnis: Der Ständige Vertreter der DDR in Bonn, Horst Neumann, informierte am 30. September morgens die Bundesregierung, die Botschaftsbesetzer aus der DDR dürften in die Bundesrepublik ausreisen. Mit der Nachricht flog dann Genscher am Abend nach Prag, wo er sie auf den Botschaftsbalkon verkündete.
Zu den hilflosen Reaktionen der DDR-Führung gehörte, dass die Ausreisewilligen nur in Sonderzügen über das eigene Territorium in die BRD fahren durften. Damit wollte die SED-Spitze noch einmal die längst verlorene DDR-Souveränität unter Beweis stellen. Sie erreichte aber nur noch mehr Aufmerksamkeit für die Fluchtbewegung selbst im eigenen Land. Das führte zu Sympathiebekundungen an den Fahrstrecken und gewalttätigen Protesten wie denen am 4. und 5. Oktober 1989 in Dresden.
In Genschers Erinnerungen ist zu lesen, dieser habe bereits am 27. September 1989 DDR-Außenminister Fischer zwei Varianten vorgeschlagen: Erstens die direkte Ausreise von Prag in die BRD oder zweitens in Zügen über das DDR-Gebiet. DDR-Vertreter Neubauer habe dann am 30. September in Bonn mitgeteilt, dass Ost-Berlin sich für die zweite Variante entschieden habe.
Grenzöffnung als Ventil
Und so nahmen gewissermaßen in einer letzten souveränen Zuckung MfS-Mitarbeiter den ausreisenden DDR-Bürgern in den Zügen die Personalausweise ab und gaben sie nicht zurück. Eigentlich sollten sie verabredungsgemäß nur mit Stempeln die Ausreise bestätigen. Das geschah im Beisein von jeweils zwei Beamten aus dem Auswärtigen Amt und dem Kanzleramt, die in den Sonderzügen als Sicherheit mitfuhren.
Was noch in der Nacht des 30. September in Prag entsprechend der Zusagen der DDR begann, geschah zur gleichen Zeit in Warschau. Dort kümmerten sich Staatssekretär Sudhoff und Franz Bertele, Ständiger Vertreter der BRD in der DDR, um die Ausreisewilligen. Die kampierten in der bundesdeutschen Botschaft und im Warschauer Stadtgebiet. Am Ende fuhren in der Nacht zum 1. Oktober 1989 809 „Deutsche aus der DDR“, wie sie offiziell genannt wurden, in einem Sonderzug von Warschau in die Bundesrepublik. Nachzulesen ist das in einem Bericht des BRD-Botschafters Franz Jochen Schoeller in Polen, der in einer Dokumentensammlung zur deutschen Einheit veröffentlicht wurde.
Kaum waren die Züge in der Nacht zum 1. Oktober 1989 abgefahren, kamen neue ausreisewillige DDR-Bürger in die BRD-Botschaften. In Prag versuchten die tschechoslowakischen Behörden noch, das zu verhindern, scheiterten aber am Ende. Die DDR-Regierung beklagte sich, Bonn halte sich nicht an Absprachen, niemand mehr in die eigenen Botschaften zu lassen. Am Ende half das alles nichts mehr. Der letzte hilflose Befreiungsschlag der neuen SED-Führung unter Egon Krenz – ein Reisegesetz mit Reisefreiheit für alle DDR-Bürger – führte nur zur überraschenden unkontrollierten Grenzöffnung am 9. November 1989.