Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt (1918 – 2015) hat sich in seinem 2008 veröffentlichten Buch „Ausser Dienst – Eine Bilanz“ über die Entwicklungen seit dem Ende des Kalten Krieges geäußert. Darin machte er sich auch Gedanken über die Politik und die Zukunft Deutschlands. Er hat sich dabei auch zum deutsch-russischen Verhältnis geäußert. Seine Worte dazu sind heute (2024) um so bemerkenswerter.
„… Aber nicht nur Teile der politischen Klasse in den USA, sondern auch manche europäischen Politiker handeln gegenüber Rußland überheblich und herablassend. Einige setzen die Attitüden des Kalten Krieges fort, wenngleich Moskau ihnen dazu keinen Anlaß gibt. Sogar einige deutsche Politiker und ihr journalistischer Anhang scheinen geneigt, den Russen öffentlich unerbetene Ratschläge zu geben und auch die russische Innenpolitik öffentlich zu kritisieren. Ich bin darüber besorgt. Denn eine Politik der fortgesetzten Nadelstiche muß in Rußland nationalistische Reaktionen hervorrufen. Wir Deutschen haben ein strategisches Interesse an gutem Einvernehmen mit Rußland. Weil es Spannungen zwischen Polen und Rußland gibt und weil auch die gute Nachbarschaft mit Polen in unserem vitalen Interesse liegt, brauchen wir Sensiblilität und Fingerspitzengefühl zugleich gegenüber Moskau und Warschau – gegenüber der öffentlichen Meinung der polnischen Nation und gegenüber der öffentlichen Meinung der russischen Nation. Dies habe ich gelernt, seit ich 1966 meinen ersten Besuch in Warschau und in Moskau gemacht habe.
Zwar sind meine Kenntnisse von Rußland und seinen Menschen beschränkt, aber im Laufe von vier Jahrzehnten hat sich bei mir ein Eindruck verfestigt, der mich zunächst sehr erstaunte: Antideutsche Ressentiments sind unter Russen kaum jemals zu spüren. Der Grund mag darin liegen, daß die Russen den letzten Weltkrieg schließlich gewonnen haben; er mag darin liegen, daß man sich der enormen Verluste auf beiden Seiten bewußt ist – oder er liegt einfach im russischen Selbstbewußtsein. Jedenfalls habe ich bei Russen keinen Argwohn gegenüber Deutschland gespürt. Man kann dafür nur dankbar sein. Schon deshalb steht es uns nicht zu, antirussische Gefühle zu hegen. Wenn jemand uns dazu verleiten will, sollten wir ihm die kalte Schulter zeigen. Gutnachbarliche Beziehungen meinen nämlich auch die Beziehungen zu jenen Nachbarn, die etwas weiter entfernt leben. …“
Aus: Helmut Schmidt: „Ausser Dienst – Eine Bilanz“ Siedler Verlag München 2008; Seife 117f.