War die DDR an ihrem Ende eine „ausgelaugte und bankrotte Ruine“?

Alte Legenden in neuem Aufguss: So wirkt, was eine „Taz“-Wirtschaftsjournalistin über den Zustand der DDR-Wirtschaft und die Lage des Lande 1989 schreibt. Sie wiederholt manches, was Experten längst widerlegt haben. Die Wiederholung macht die drastischen Urteile nicht richtiger, wie Wirtschaftshistoriker und Zeitzeugen zeigen.

Die DDR soll an ihrem Ende 1989, im 40. Jahr ihres Bestehens, nicht nur pleite, sondern „ausgelaugt und bankrott“ gewesen sein. Und noch mehr als das: Sie soll „nur noch eine Ruine“ gewesen sein, was das Politbüro der führenden Sozialistischen Einheitspartei (SED) von allen am besten gewusst habe. All das behauptet zumindest die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann in der September-Ausgabe der Monatszeitung „Le Monde diplomatique“ (LMd).

Der Beitrag über „Das DDR-Geschäft“ ist ein Auszug aus ihrem neuen Buch „Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen“. In dem Text bemüht Herrmann für ihre Aussagen keine dokumentarischen Belege. Die Redakteurin der Tageszeitung „taz“ zitiert dafür aus einem angeblich geheimen Tagebuch eines Chemieingenieurs aus dem Chemiefaserwerk „Friedrich Engels“ in Premnitz. Der hatte nach ihren Angaben von 1982 bis 1984 mehrfach festgehalten, dass er nichts zu tun habe, und sich selbst als „bezahlten Arbeitslosen“ bezeichnet.

Wiederholte Legenden

Die Schlussfolgerung der Journalistin, die noch das Beispiel des Aluminiumwerkes im thüringischen Fischbach bringt: „Die zentrale Planwirtschaft war gescheitert: Betriebe standen oft still, weil Vorprodukte nicht rechtzeitig geliefert wurden, Maschinen überaltert waren und die nötigen Ersatzteile fehlten. Die DDR-Bürger hatten zwar einen Arbeitsplatz – aber häufig nichts zu tun.“ In den DDR-Betrieben habe „weitgehend Stillstand“ geherrscht, behauptet sie.

Herrmann gibt die längst widerlegten Legenden derjenigen wieder, die vor 30 Jahren und bis heute ein großes Interesse daran haben, die DDR schlechter zu reden als sie war. Und so ist bei ihr zu lesen: „Die meisten Ostdeutschen erkannten ab Herbst 1989 völlig richtig, dass es nur eine ökonomisch sinnvolle Lösung gab: die Wiedervereinigung. Anfangs hatten die Demonstranten noch ‚Wir sind das Volk!‘ gerufen, um sich gegen die SED-Diktatur aufzulehnen. Doch schon bald verwandelte sich der Slogan in ‚Wir sind ein Volk‘.“

Zwar verweist sie im Laufe des Textes auf die Probleme und Folgen der schnellen Währungsunion am 1. Juli 1990 sowie des Wirkens der Treuhandanstalt. Auch erinnert Herrmann daran, dass „die Wiedervereinigung gerade für die Vermögenden ein äußerst lukratives Geschäft“ war: „Sie profitierten von enormen Steuervergünstigungen, die die Investitionen in Ostdeutschland ankurbeln sollten.“ Doch auch das stellt sie am Ende als alternativlos dar – erstaunlich für eine Redakteurin einer einst alternativen Tageszeitung.

Erstaunliche Aussagen

Dass ausgerechnet jemand wie sie, die als sachkundige Wirtschaftsjournalistin und Autorin interessanter Bücher gilt einen solchen Text veröffentlicht bleibt schon erstaunlich. Dazu zählt auch ihre Aussage mit Blick auf die DDR-Wirtschaft 1989/90: „Es gab kein Vermögen, sondern nur Kosten, wie die Treuhand bald feststellten musste, die den staatlichen DDR-Besitz privatisieren sollte.“ Beleg dafür ist für Herrmann, dass die Treuhand bis zu ihrer Auflösung 1994 Verluste von 204 Milliarden D-Mark gemacht hatte.

Die Aussagen der „taz“-Wirtschaftsredakteurin sorgen für Kopfschütteln, so beim Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler. Er hat schon mehrfach die Legende von der „bankrotten DDR“ mit Fakten widerlegt. Für ihn sind die Aussagen Herrmanns „Unsinn“, wie er gegenüber Sputnik erklärte.

Zu den dramatisch wirkenden Einzelbeispielen, die die Autorin anführt, sagte er, dass solche immer zu finden seien, ohne dass sie für das Gesamte stehen. Er verwies auf das letzte Seminar des SED-Zentralkomitees (ZK) mit den Generaldirektoren der DDR-Kombinate am 31. August 1989. Diese Veranstaltungen wurden vom für Wirtschaft zuständigen SED-Politbüromitglied Günter Mittag zwar eher diktatorisch geführt, wie sich Teilnehmende erinnern. Zumindest sei offen über die wirtschaftliche Lage geredet worden, was nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war.

Weitgehender „Quatsch“

Beim letzten Seminar im August 1989 habe Mittag einen Überblick über die Wirtschaftsleistung und
-ergebnisse gegeben, so Roesler. Danach seien von 383 Planzielen 344 erreicht worden, habe der SED-Funktionär und damalige Vertreter des kranken SED-Generalsekretärs Erich Honecker erklärt. Für den Wirtschaftshistoriker handelt es sich um einen Beleg dafür, dass es damals in der DDR-Wirtschaft bei allen Problemen „läuft“.

Es habe sich um eine ehrliche Aussage Mittags gehandelt, schätzte Roesler ein, da sie nicht für die Öffentlichkeit gedacht war. Der SED-Funktionär habe zwar „auf merkwürdige Art auf Optimismus gemacht“. Aber die Zahlen seien „eindeutig echt“ gewesen. „Die DDR hat bis zu ihrem letzten Jahr 1989 Wachstum verzeichnet“, betonte der Wirtschaftshistoriker. Nichts habe auf eine katastrophale Situation hingedeutet.

„Das kann man unter Quatsch verbuchen“, kommentierte er Herrmanns Behauptung, in den DDR-Betrieben habe „weitgehend Stillstand“ geherrscht. Er verwies auf Aussagen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), das im ersten Halbjahr 1989 der DDR-Wirtschaft ein Wirtschaftswachstum von vier Prozent bestätigt habe.

Missverstandenes Dokument

Roesler hat sich mehrere Jahre anhand der zugänglichen Akten auch mit der Frage beschäftigt, was das SED-Politbüro über die Lage im Land wusste. Dieser enge Machtzirkel in der DDR habe sich jeweils im Februar und August jedes Jahres ausführlich mit der wirtschaftlichen Situation beschäftigt. Aus den Protokollen sei deutlich geworden, dass es vor allem beim Export Probleme gab, ohne dass die Verschuldung besprochen wurde.

Gleichfalls als „Unsinn“ schätzt der Wirtschaftshistoriker ein, dass Herrmann die DDR als „ausgelaugt und bankrott“ bezeichnete. Worauf sie sich dabei stützt, lässt sich nur vermuten. Eventuell geht die „taz“-Redakteurin von dem sogenannten „Schürer-Papier“ aus. Das vom Chef der DDR-Plankommission, Gerhard Schürer, mit anderen verfasste Papier wurde am 30. Oktober 1989 an die neue SED-Spitze unter Egon Krenz übergeben. Es belegt angeblich selbst laut Interpretation der Bundesregierung, „dass die DDR so gut wie pleite ist und dringend eine Wirtschaftsreform braucht“.

Laut Roesler hat das Papier noch der damalige DDR-Ministerpräsident Willi Stoph am 18. Oktober 1989, dem Tag des Sturzes von SED-Chef Honecker, in Auftrag gegeben. In dem Papier wurde ein schonungsloses Bild der ökonomischen Lage der DDR gezeichnet, um eine wirtschaftspolitische Wende herbeizuführen.

Dramatisierte Situation

Dafür seien manche Zahlen auch überzeichnet und dramatischer dargestellt worden, wie später einige der Autoren erklärten. Das gilt zum Beispiel für die Auslandsverschuldung, die mit knapp 20 Milliarden D-Mark aber niedriger war als im Papier angegeben. Roesler dazu in einem Beitrag in der Tageszeitung „junge Welt“ 2014:

„Das offensichtliche Misslingen der mit der Währungsunion vom 1. Juli 1990 eingeleiteten ökonomischen Schocktherapie erklärt die plötzliche Konjunktur des ‚Schürer-Papiers‘ in den Medien, gegen die kein Kraut mehr gewachsen schien.“

Herrmann behauptete in ihrem aktuellen Text auch, dass die SED „viele Jahre lang kaum noch in die Wirtschaft investiert hatte“. Der Wirtschaftshistoriker empfahl dazu einen Blick in des „Statistische Jahrbuch der DDR“ von 1990, herausgegeben, als schon die Regierung von Lothar de Maiziere im Amt war. Danach seien zwar die Investitionen in die Wirtschaft in der ersten Hälfte der 1980er Jahre zurückgegangen. In der Folge seien sie aber wieder gesteigert worden, von 62 Milliarden Mark im Jahr 1985 auf 77 Milliarden Mark im Jahr 1989.

Der SED-Führung sei klar gewesen, dass mehr investiert werden musste, so Roesler. Dabei hätten die Milliarden-Kredite aus der Bundesrepublik keine Rolle gespielt, widersprach er anderen Legenden. „Dafür war die Wirtschaft der DDR zu groß“, erklärte er dazu, als dass sie damit hätte aufrechterhalten werden können.

Bundesdeutsche Warnungen

„Die DDR-Wirtschaft war nicht von innen her faul“, betonte Roesler im Widerspruch zu Herrmann. Zu deren Aussage, die DDR sei eine „Ruine“ gewesen, meinte er: „Da müsste sie eine Reihe westeuropäischer Staaten als ‚nah an der Ruine‘ einstufen.“ Zugleich widersprach er der von der „taz“-Redakteurin behaupteten Alternativlosigkeit der Art und Weise, wie 1990 die DDR von der Bundesrepublik übernommen wurde. „Das ist überhaupt nicht nachzuvollziehen.“

Der Wirtschaftshistoriker erinnerte an Aussagen von bundesdeutschen Wirtschaftsfachleuten bereits von 1989 und danach, dass die DDR-Betriebe Überlebenschancen in der Marktwirtschaft hätten. So habe Bundesbank-Direktor Günter Storch im Dezember 1989 die Studie „Ansätze für eine Wirtschaftsreform in der DDR und begleitende Hilfsmaßnahmen der Bundesrepublik“ vorgelegt.

Darin sei der Umbau der DDR-Wirtschaft in eine Marktwirtschaft als „Neuland“ bezeichnet worden, für den es keine brauchbare Theorie und keinerlei praktische Handlungsanweisungen gebe. Storch habe in seinem Papier eine „vollständige Liberalisierung der DDR-Wirtschaft in einem Schritt“ abgelehnt und vor den Folgen gewarnt.

Bundesdeutsche Ziele

Am 10. September 2019 hatten in der „Berliner Zeitung“ der ehemalige Vize-Finanzminister der DDR, Walter Siegert, und der ehemalige Staatssekretär des DDR-Ministeriums für Metallurgie, Klaus Blessing, ebenfalls die Legende widerlegt, die DDR sei pleite gewesen. Sie zitierten unter anderem aus einer 1999 veröffentlichten Studie der Deutschen Bundesbank, in der es heißt: „Ende 1989 lagen die Liquiditätsreserven der DDR immer noch bei 29 Milliarden Valutamark und deckten 59,3 Prozent der Verschuldung ab.“

Siegert und Blessing schrieben zum Kurs der damaligen Bundesregierung unter Helmut Kohl und der Bitte der DDR-Regierung unter Hans Modrow um finanzielle Hilfe beim Übergang: „Von Kohl wurde Politik gemacht, und die hieß: Die DDR muss weg. Staaten, die man einverleiben will, gibt man kein Geld für deren Weiterbestehen.“

Sie verwiesen auf Aussagen von Thilo Sarrazin, seinerzeit Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank, aus dem Jahr 2010. Der sagte damals in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“:

„Es stand doch die große Gefahr eines ‚dritten Weges‘ im Raum. Die DDR als weiterer Staat deutscher Zunge. Es kam darauf an, in diesen Monaten vollendete Tatsachen zu schaffen. Denn wären wir diesen Schritt nicht gegangen, hätten wir eine innerdeutsche Zollgrenze aufbauen müssen und das Recht der DDR-Bürger auf Leistungen als vollwertige Bundesbürger bestreiten müssen.“

Traumhafte Nettoverschuldung

Die beiden sachkundigen Autoren stellten in der „Berliner Zeitung“ fest, die Nettoverschuldung der DDR im Ausland habe zum damaligen Kurs rund 12 Milliarden Dollar  betragen, annähernd 750 Dollar je Einwohner der DDR. Sie fügten hinzu: „Eine Größenordnung, von der heute die meisten Länder der Welt nur träumen können. Die Auslandsschulden der Weltmacht USA betrugen Anfang des Jahres 2018 etwa acht Billionen US-Dollar. Das entspricht 24.000 US-Dollar je Einwohner.“

Solche Erkenntnisse und Zusammenhänge sind bei der „taz“-Wirtschaftsredakteurin Herrmann leider nicht zu finden. Dafür könnten eine Reihe ihrer Aussagen auch von damaligen Akteuren wie Bundesfinanzminister Theo Waigel oder Treuhand-Chefin Birgit Breuel stammen. Bleibt zu hoffen, dass ihr Beitrag in der aktuellen LMd-Ausgabe wie auch das Buch insgesamt keine Bankrotterklärung der ansonsten als sachkundig eingeschätzten Autorin sind.