„Gewalt war keine Option“: Egon Krenz über DDR-Untergang 1989 – Teil 4

Ausgerechnet in ihrem 40. Jahr hat die DDR unrettbar mit wachsenden Problemen innen und außen zu kämpfen. Die Folgen: Demonstrationen, Fluchtwelle und Grenzöffnung. Sputnik hat mit dem letzten DDR-Staats- und Parteichef Egon Krenz darüber gesprochen. In Teil 4 beantwortet er unter anderem die Frage, warum Gewalt keine Option war.

Egon Krenz am 9. Mai 2018 in Berlin

Im Herbst 1989 befürchteten viele in der DDR eine „chinesische Lösung“: Dass die Partei- und Staatsführung nach langem Schweigen versucht, mit Gewalt auf die zunehmenden Demonstrationen zu reagieren. Doch stattdessen kam zu den Massendemonstrationen und Tausenden DDR-Bürgern, die auf verschiedenen Wegen das Land verließen, am 9. November vor 30 Jahren die voreilige Grenzöffnung – friedlich und ohne Blutbad. Die neue Partei- und Staatsführung hatte anders reagiert, als viele es erwartet hatten. An deren Spitze stand seit dem 18. Oktober 1989 Egon Krenz, der den langjährigen Generalsekretär Erich Honecker abgelöst hatte – allerdings viel zu spät.

„Keine Gewalt“ habe im Herbst 1989 nicht nur auf den Schärpen der Demonstranten in der DDR gestanden. Das sei ebenso Maxime des Staates gewesen, erklärte Krenz im Gespräch gegenüber Sputnik. Darüber habe er am 8. Oktober im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) eine Beratung mit den höchsten Vertretern aller DDR-Sicherheitsorgane gehabt. Dort habe er eine Erklärung verlesen, vorbereitet für die nächste Sitzung des SED-Politbüros.

Die Erklärung endete laut Krenz mit den Worten: „Politisch entstandene Probleme müssen politisch und dürfen nicht mit polizeilicher oder militärischer Gewalt gelöst werden.“ Die sonst so sachlichen Militärs hätten daraufhin geklatscht, beschrieb er die Reaktion der Anwesenden. Mit ihnen habe er vereinbart: „Der Staat wendet keine Gewalt an“.

Kein Schießbefehl vor und nach dem 9. Oktober 1989

Seit jenem 8. Oktober habe es keine Zusammenstöße der Staatsmacht mit friedlichen Demonstranten mehr gegeben. Das habe besonders für den 9. Oktober 1989 in Leipzig gegolten, betonte Krenz. Alt-Bundespräsident Horst Köhler hatte 2009 dazu behauptet: „Vor der Stadt standen Panzer, die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rücksicht zu schießen. Die Herzchirurgen der Karl-Marx-Universität wurden in der Behandlung von Schusswunden unterwiesen, und in der Leipziger Stadthalle wurden Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt.“

Krenz sagte dazu, er könne es auf seinen Eid nehmen, dass dies nicht stimme. Er sei nach der friedlich verlaufenen Demonstration am 9. Oktober gemeinsam mit anderen für Sicherheit Verantwortlichen am 13. Oktober 1989 in Leipzig gewesen. Dabei sei ein Befehl für den Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates – damals noch Honecker – vorbereitet worden, dass die Anwendung der Schusswaffe bei den Demonstrationen grundsätzlich verboten ist. 

Bitte an die sowjetische Armee in der DDR

Auf dem Rückflug nach Berlin habe ihn Generaloberst Streletz informiert, dass die sowjetischen Einheiten im Oktober und November ihre jährlichen Herbstmanöver durchführten. Streletz war NVA-Stabschef und Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates der DDR. „Stellen Sie sich vor“, sagte Krenz, „im Herbst wären sowjetische Panzer zu Manövern durch Leipzig, Magdeburg oder wo auch immer gerollt. Das wäre mit Sicherheit von Demonstranten als Provokation gewertet worden und hätte die Situation nur verschärft.“ 

Daraufhin habe die DDR-Führung die sowjetischen Militärs in gebeten: „Bleibt in den Kasernen“. Nach 1990 sei in der Bundesrepublik das Gegenteil behauptet worden. DDR-Sicherheitskräfte hätten, so selbst Alt-Bundespräsident von Weizsäcker, die sowjetischen Truppen um militärische Hilfe gebeten. Diese seien aber auf Befehl Moskaus in ihren Kasernen geblieben. 

Laut Krenz haben die sowjetischen Truppen damals gemacht, was in den entsprechenden Unterlagen in ihren Panzerschränken stand. Dazu hätten sie keine Befehle aus Moskau gebraucht. Die Einheiten seien in ständiger Gefechtsbereitschaft gewesen, die Führungskräfte in erhöhter Gefechtsbereitschaft.

Untergang als Wendepunkt

Armeegeneral Boris Snetkow, nicht nur Chef der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte, sondern auch ein guter Freund der DDR, habe ihm mehrmals gesagt: „Wenn Ihr in Schwierigkeiten seid, wir sind immer an Eurer Seite!“ Die sowjetische Truppenführung habe auf den Freundschafts- und Beistandsvertrag mit der DDR verwiesen, ebenso auf den „Warschauer Vertrag“, deren Verpflichtungen sie erfüllen würden.

Auf die Frage, ob die DDR nach der Grenzöffnung am 9. November 1989 noch eine Chance als eigenständiger Staat hatte, sagte Krenz, er habe diese Illusion zu lange gehabt. Gorbatschow habe ihm am 1. November 1989 in Moskau versichert, dass die deutsche Einheit nicht auf der Tagesordnung stünde und die Sowjetunion mit der DDR solidarisch sei.  Auf der Tagung des SED-Zentralkomitees am 10. November 1989 sei noch ein Aktionsprogramm für eine reformierte DDR beschlossen worden. In Folge der Grenzöffnung habe das Programm aber keine Rolle mehr gespielt. 

Erinnerung an Folgen

Der letzte SED-Generalsekretär bezeichnete in seinem Buch über den Herbst vor 30 Jahren den Untergang der DDR als Wendepunkt in der europäischen Geschichte. „Mit dem Untergang des Sozialismus in der DDR hat sich in ganz Deutschland wieder der Kapitalismus durchgesetzt“, erklärte er das im Gespräch.

„Alles, was die Welt heute so durcheinanderbringt, hat seine Ursache in dem Untergang der Sowjetunion.“

Deshalb stimme er Russlands Präsident Wladimir Putin zu, dass der Untergang der Sowjetunion eine globalpolitische Katastrophe gewesen sei. Zu dieser gehöre, dass die Trennlinie zwischen zwei Systemen, die einst quer durch Europa ging, jetzt an der russischen Grenze liege.

„Nie wieder sollen ausländische Truppen so nahe an der heimatlichen Grenze stehen wie an jenem 22. Juni 1941als Hitler-Deutschland die Sowjetunion überfiel!“ Das sei ein Versprechen von Generationen zu Generation in der Sowjetunion und ihren Völkern gewesen. Heute stünden nun aber die Truppen der Nato ungefähr dort, wo die faschistische Wehrmacht kurz vor dem Überfall auf die Sowjetunion stand. 

Hinweis für Angela Merkel

Die Menschen seien 1989 nicht auf die Straßen gegangen, „damit deutsche Soldaten wieder an der russischen Grenze stehen“, betonte Krenz. „Die Länder der NATO sind mit Gorbatschow und Jelzin gut ausgekommen, weil diese ihnen Zugeständnisse machten, die dem Westen gegenüber Russland strategische Vorteile verschafften. Da Präsident Putin die nationale Würde des russischen Volkes in den Mittelpunkt stellt, wird er hierzulande so kritisch behandelt.“

Für ihn ist unverständlich, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel Putin vorwirft, er habe die Nachkriegsgrenzen in Europa verändert.

„Die Nachkriegsgrenzen existierten, als Frau Merkel noch Bürgerin der DDR war. Da verliefen sie quer durch Europa und trennten NATO und Warschauer Vertrag. Jetzt besteht diese Grenze zwischen NATO und Russland. Dass sich Russland dagegen wehrt, sei mehr als verständlich.“

Auf die Frage, was von der DDR bleibt, wenn die Feierlichkeiten und Veranstaltungen zum 30. Jahrestag von 1989 und dann der deutschen Einheit von 1990 vorbei sind, meinte ihr letzter Partei- und Staatschef:

„Man hört jetzt oft von Politikern aller Richtungen, man müsse die Lebensleistung der Ostdeutschen anerkennen. Dass man für diese Erkenntnis 30 Jahre gebraucht hat, spricht Bände. Sie stehe aber wohl mehr mit den drei Landtagswahlen in Ostdeutschland in Verbindung als dass sie ein Gesinnungsumschwung wäre.“

Deutschland führt wieder Krieg

Niemand könne die Leistungen der Ostdeutschen respektieren wollen und gleichzeitig den Staat, in dem viele Ostdeutsche gern gelebt hätten, verteufeln, meint Krenz. Für ihn sei das Wichtigste an der deutschen Einheit, dass die Deutschen in Ost und West nicht mehr mit der Angst leben müssen, dass zwei deutsche Staaten gegeneinander Krieg führen könnten. „Diese Gefahr bestand in der Zeit der deutschen Zweistaatlichkeit. Die Kehrseite ist leider, dass Deutschland heute wieder im Krieg steht. Erst in Jugoslawien, dann in Afghanistan und in weiteren Kriegseinsätzen.“

Er kritisiere nicht die deutsche Einheit, aber die Art und Weise ihres Zustandekommens und den Umgang der heute Herrschenden mit den Ostdeutschen.

„Solange Biografien von Millionen DDR-Bürgern als Irrweg vom Pfad der wahren Tugenden denunziert werden, wird es bei der inneren Einheit erhebliche Probleme geben. Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte. Und die Geschichte der DDR-Bürger ist vielseitiger und komplizierter als wir sie in den bürgerlichen Medien, von Politikern, offiziell bestellten und gut bezahlten Historikern und leider auch in zahlreichen schöngeistigen Büchern, Kino- und Fernsehfilmen serviert bekommen.“

Krenz zog einen Vergleich: „Eine Ehe kann nicht funktionieren, wenn die eine Seite vermeintlich alles Gute und Schöne und der andere Partner angeblich nur Schulden und Verbrechen eingebracht haben sollen.“ Und fügte hinzu: „Als die DDR der Bundesrepublik beitrat, lag die öffentliche Pro-Kopfverschuldung der DDR-Bürger bei 5.298 DM und die der Altbundesbürger bei 16.586 DM.“

Was die Bundesbank wusste

Die Deutsche Bundesbank habe im August 1999 eine „Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989“ vorgelegt. „Ende 1989“, so heißt es darin, „betrug die Nettoverschuldung 19,9 Milliarden Valutamark“. Der letzte SED-Chef dazu: „Umgerechnet sind das nicht einmal zehn Milliarden Euro. Daran geht kein Staat bankrott. Ungeachtet dessen führen Politiker aller Couleur seit fast 30 Jahren, zuletzt selbst die Bundeskanzlerin und ein Theologieprofessor, immer wieder ein vergilbtes Papier des Politbüros aus dem Jahre 1989 an, um der DDR wahrheitswidrig zu unterstellen, sie sei wirtschaftlich bankrott gewesen.“

Wer das sogenannte Schürer-Papier wirklich gelesen habe, erkenne, dass es ein ausgewogenes Verhältnis von Erfolgen und Misserfolgen der DDR-Wirtschaft enthalte. Zu fragen sei vielmehr:

„Warum wird verschwiegen, dass sich der Kollaps der DDR-Industrie, die übrigens die produktivste unter den damaligen sozialistischen Staaten war, erst unter Führung der Treuhand ereignete? Innerhalb von nur drei Jahren ist ihr Potential um 70 Prozent, das der industrienahen Forschung sogar um 80 Prozent zerstört worden. Das war ein Kahlschlag, wie es ihn nicht einmal nach den beiden Weltkriegen gegeben hatte.“

Er sei kein Ignorant, sagte der letzte SED-Generalsekretär:

„Ich sehe durchaus die Fortschritte seit 1990 beim reichhaltigen Warenangebot, bei der Versorgung mit hochwertigen Konsumgütern, der Renovierung historischer Altbauten und dem Ausbau der Infrastruktur. Doch ich frage mich auch, zu welchem Preis? Deutschland ist wirtschaftlich und sozial weiterhin dort geteilt, wo einst die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten verlief. Wenn die Einheit weiter gedeihen soll, wäre es notwendig, dass die Bundesregierung diesen Tatsachen ins Auge sieht und die Bürger nicht jedes Jahr neu durch geschönte Einheitsberichte täuscht.“

Lesetipp:

Egon Krenz: „Wir und die Russen – Die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau im Herbst ’89“
Verlag edition ost, 2019. 304 Seiten. ISBN 978-3-360-01888-5. 16,99 Euro