In ihrem 40. Jahr hat die DDR mit immer mehr Problemen und wachsender Unzufriedenheit der Bevölkerung zu kämpfen. Die Folgen: Demonstrationen, Fluchtwelle und dann die Grenzöffnung am 9. November. Sputnik hat mit dem letzten DDR-Staats- und Parteichef Egon Krenz darüber gesprochen. In Teil 3 geht es um Reaktionen auf die Grenzöffnung.
Das Ende der DDR nahm im Herbst 1989 dramatische Formen an. Zu den Massendemonstrationen und Tausenden DDR-Bürgern, die auf verschiedenen Wegen das Land verließen, kam am 9. November vor 30 Jahren die voreilige Grenzöffnung. Dafür sorgte SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski, der selbst die eigene Partei- und Staatsführung überraschte, zu der er gehörte. An deren Spitze stand seit dem 18. Oktober 1989 Egon Krenz, der den langjährigen Generalsekretär Erich Honecker abgelöst hatte – allerdings viel zu spät.
Am Morgen des 10. November 1989 versuchten West-Berliner, vom Brandenburger Tor aus über die Mauer zu klettern. „Das wäre ein illegaler Grenzdurchbruch vom Westen her gewesen“, so Krenz im Gespräch mit Sputnik. „Zeitweilig waren über 1.000 West-Berliner auf der Mauer westlich am Brandenburger Tor. Einige sprangen ins DDR-Grenzgebiet.“ Das sei die „bis dahin gefährlichste Situation“ gewesen. Sie hätte jederzeit militärische Eingriffe auslösen können, erklärte der letzte SED-Chef.
Es sei nicht undenkbar gewesen, dass ein gewaltsamer Mauerdurchbruch von Westberlin aus versucht worden wäre. Krenz meinte 30 Jahre später dazu: „Heutzutage wird in den Medien fast nur noch gemeldet, am 9. November sei die Mauer gefallen – so als habe der Heilige Geist sie zerstört oder sie sei einfach zusammengefallen. Welche Anstrengungen die DDR unternehmen musste, dass alles friedlich verlief, wird kaum noch berichtet.“
Was Helmut Kohl sagte
Moskau habe die Situation ebenfalls als gefährlich bewertet. Das gehe aus Botschaften hervor, die Gorbatschow an US-Präsident George Bush, an Frankreichs Präsident Francois Mitterrand und an die britische Premierministerin Margaret Thatcher richtete. Der KPdSU-Generalsekretär habe die Repräsentanten der drei Westmächte aufgefordert, ihren Vertretern in West-Berlin Weisungen zu erteilen, „damit die Ereignisse nicht einen Verlauf nehmen, der nicht wünschenswert wäre“.
Krenz berichtete über ein Telefonat am 11. November 1989 mit Bundeskanzler Helmut Kohl, der sich zu dem Zeitpunkt mehrere Tage in Warschau aufhielt. Der Bundeskanzler habe die geöffnete Grenze begrüßt. Sie sei angetan, die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten weiterzuentwickeln, gab der SED- und DDR-Chef die Aussagen wieder. Kohl habe gesagt:
„Ich glaube, wir stehen jetzt in einem ganz wichtigen Zeitabschnitt, ein Zeitabschnitt, in dem sehr viel Vernunft und gar keine Aufgeregtheit am Platze ist, sondern eine ruhige Gelassenheit, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.“
Kohl habe nicht vom „Fall der Mauer“ gesprochen und stattdessen gesagt: „Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, … dass jede Form von Radikalisierung gefährlich ist. Wir werden uns nicht zu unterhalten brauchen, was für Gefahren das sein könnten. Das kann sich jeder leicht ausrechnen.“ Der Bundeskanzler habe noch hinzugefügt: „Und wenn noch irgendwas ist, Herr Krenz, um das klar zu sagen, das ist ja eine Situation, die leicht dramatisch werden könnte, dann greifen Sie zum Telefon und ich umgekehrt.“
Was der Papst anbot
Laut Krenz gab es in den dramatischen Tagen vor 30 Jahren sogar ein Signal aus dem Vatikan an die DDR: „Wenn es der Stabilität der DDR und der Autorität des Staatsratsvorsitzenden dienlich wäre, gäbe es die Bereitschaft, einen Papst-Besuch in der DDR zu organisieren.“
Zwischen den Geschehnissen von 1989 und ihrer aktuellen Interpretation 30 Jahre Später „liegen Welten“, so Krenz. Damals habe niemand vom „Sturm auf die Mauer“ oder vom „Fall der Mauer“ gesprochen. „Es gab noch die Hoffnung auf ein friedliches Miteinander aller europäischen Staaten, einschließlich der DDR“.
Er erinnerte:
„An diesem Abend kam niemand mit Handwerkszeug an die Mauer, um sie einzureißen. Fernsehbilder, die diesen Eindruck erzeugen sollen, stammen entweder von der Westseite der Grenze oder wurden Monate später aufgenommen. Viele, die damals dabei waren, mögen auch jetzt noch nicht von einem ‚Sturm auf die Mauer‘ sprechen, sondern eher von einem Volksfest.“
Wie Moskau reagierte
Für ihn sei es am Morgen des 10. November, noch einmal problematisch geworden, erinnert sich der Ex-Staatsratsvorsitzende der DDR. Der sowjetische Botschafter Wjatscheslaw Kotschemassow habe an dem Tag telefonisch mitgeteilt, Moskau sei beunruhigt über die Lage an der Berliner Mauer.
„Ich erwiderte, unser Außenminister habe doch die Reiseverordnung mit der sowjetischen Seite abgestimmt. Kotschemassow entgegnete, dies stimme nur zum Teil. Abgestimmt sei die Öffnung von Grenzübergängen zur BRD. Die Öffnung der Grenze in Berlin berühre aber die Interessen der Alliierten. Dazu hätte die DDR kein Recht.“
Die Frage habe in den Beziehungen zwischen der UdSSR und der DDR in den letzten Jahren keine Rolle gespielt, erklärte Krenz. Aus sowjetischer Sicht habe das Vierseitige Abkommen nur für West-Berlin, nicht für Ost-Berlin als Hauptstadt der DDR gegolten. Krenz sagte nach eigener Auskunft Moskaus Vertreter:
„Dies ist jetzt nur noch eine theoretische Frage. Die Grenzöffnung wäre nur durch militärische Mittel zu verhindern gewesen.“
Was Erich Honecker wusste
Kotschemassow habe zugestimmt, dass ein militärischer Einsatz zu einem „schlimmen Blutbad“ geführt hätte, und habe Krenz daraufhin gesagt: „Teilen Sie dies bitte Gorbatschow mit. Nachdem ich Gorbatschow ein entsprechendes Staatstelegramm geschickt hatte, kam von ihm bald der Glückwunsch für den Mut der DDR-Führung zur Grenzöffnung. Dass es innerhalb so kurzer Zeit zwei so grundlegende Meinungen aus Moskau gab, hat mich schon verunsichert, wer denn in Moskau noch das Sagen hatte.“
Der letzte SED-Chef erinnerte mit Blick auf die äußeren Faktoren daran, dass im April 1989 der CIA-General Vernon Walters neuer US-Botschafter in der BRD wurde. Der habe schon bei seinem Dienstantritt erklärt, dass es noch in seiner Amtszeit zur deutschen Einheit kommen werde. Das habe Walters nicht ohne Hintergrundwissen gesagt, ist sich Krenz heute noch sicher.
„Den USA ging es aber gar nicht in erster Linie um die deutsche Einheit. Ihr Ziel war: Die Sowjets, später die Russen, aus dem Zentrum Europas zu vertreiben, was ihnen letztlich gelungen ist.“
Honecker habe Anfang der 1990er Jahre in seinen „Moabiter Notizen“ geschrieben, dass er 1986/87 eine geheime Information aus dem Weißen Haus erhalten habe. Dieser zufolge sei die KPdSU-Führung unter Gorbatschow bereit gewesen sei, die DDR aufzugeben. Das sei im Zusammenhang mit Gorbatschows Idee von einem „gemeinsamen Haus Europa“ geschehen, in dem es für die DDR künftig keine „Wohnung“ mehr geben sollte. In diesem Kontext sah Honecker laut Krenz, dass die Moskauer Führung ihm seit 1983 nicht gestatten wollte, einen offiziellen Staatsbesuch in der Bundesrepublik zu machen. Erst nach sieben Anläufen kam der Besuch 1987 zustande, ohne Zustimmung Gorbatschows.
Was Eduard Schewardnadse wollte
Mitarbeiter der Gorbatschow-Stiftung in Moskau haben inzwischen Protokolle aus dem Politbüro des ZK der KPdSU veröffentlicht. Sie würden zeigen, dass in Moskau „sehr viel hinter dem Rücken der DDR-Führung agiert wurde“, so Krenz. Danach soll Außenminister Eduard Schewardnadse am 3. November 1989 in einer Politbürositzung der KPdSU sogar gesagt haben: „Wir sollten die Mauer lieber selbst abbauen.“
Krenz dazu:
„Eine solche Äußerung zwei Tage nach meinem Treffen mit Gorbatschow am 1. November 1989 in Moskau und einen Tag vor der großen Kundgebung am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz wirft viele Fragen nach der Moskauer Aufrichtigkeit auf. Zum Beispiel: Wer steckt hinter der Warnung, dass es am 4. November zu einem gezielten Marsch von Demonstranten vom Alexanderplatz auf das Brandenburger Tor kommen würde?“
Diese Informationen hatte Krenz nach seinen Worten am 1. November persönlich vom sowjetischen KGB-Chef Wladimir Krjutschkow erhalten. Er sei kein Verschwörungstheoretiker und wolle nicht spekulieren, so Krenz, was Schewardnadse mit seinen Äußerungen tatsächlich gewollt habe. „Ehrlichkeit unter Freunden war dies jedenfalls nicht mehr.“
Er mache aber einen „großen Unterschied zwischen dem Denken und Handeln einzelner sowjetischer Führer unter Gorbatschow einerseits und den freundschaftlichen Gefühlen und Verbindungen mit den Völkern der Sowjetunion andererseits.“ Krenz bedauert, „dass die heute Regierenden in Deutschland das zu DDR-Zeiten Erreichte im Verhältnis zu den Völkern der Sowjetunion durch ihre Politik der Sanktionen gegenüber der Russischen Föderation aufs Spiel setzen“.
Teil 4 erscheint am Sonntag, 8. September. Darin geht es darum, warum Gewalt keine Option für die neue DDR-Führung war, welche Chancen das Land nach dem 9. November 1989 noch hatte und was dann bis heute folgte.
Lesetipp:
Egon Krenz: „Wir und die Russen – Die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau im Herbst ’89“
Verlag edition ost, 2019. 304 Seiten. ISBN 978-3-360-01888-5. 16,99 Euro