Die rund 900 Tage Blockade von Leningrad durch die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg hat tiefe Spuren bei jenen hinterlassen, die sie überlebt haben. Davon kündet das „Blockadebuch“ von Ales Adamowitsch und Daniil Granin. Deutsche Künstler haben am Dienstag daraus gelesen und an das Geschehen sowie die deutsche Verantwortung dafür erinnert.
„Kindergreise, die niemals lächelten, die schweigsam und kraftlos waren, die alles verstanden und doch nichts begriffen. Die Deutschen, der Krieg, die Faschisten waren irgendwo vor der Stadt.“ Das machte die deutsche Blockade Leningrads aus den Jüngsten. Daran haben die beiden Schriftsteller Ales Adamowitsch und Daniil Granin in ihrem 1984 erstmals erschienenen „Blockadebuch – Leningrad 1941 – 1944“ erinnert.
„Konkret waren die Dunkelheit, der Hunger, die Sirenen, die Bombeneinschläge – unbegreiflich, warum all das über die Menschen hereingebrochen war“, so die beiden Autoren in dem Buch, in dem sie die Erinnerungen von Überlebenden des Leides festhielten. „Die Kindheit der Kleinen fand ein jähes Ende. Später fiel es diesen kleinen Greisen nicht leicht, ins Leben, in die Kindheit, zu sich selbst zurückzufinden.“
Am 8. September 1941 begann die deutsche Blockade von Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg. Sie dauerte fast 900 Tage, bis es den sowjetischen Truppen am 27. Januar 1944 gelang, den Belagerungsring zu durchbrechen. Über eine Million Leningrader bezahlten die Blockade mit ihrem Leben.
Nebenrolle in deutscher Erinnerung
„Die meisten von ihnen starben den Hungertod, andere erfroren“, erinnerte am Donnerstag in Berlin die deutsch-argentinische Filmemacherin Jeanine Meerapfel. Gemeinsam mit Schriftstellern und Publizisten las sie in der Akademie der Künste in Berlin aus dem „Blockadebuch“ von Ales Adamowitsch und Daniil Granin. Der Aufbau-Verlag hatte das Buch 2018 in einer neuen deutschen Übersetzung und auf Grundlage der ungekürzten russischen Originalfassung von 2014 neu veröffentlicht.
„Dass dieses Verbrechen, eines der brutalsten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, in der deutschen Erinnerungskultur nur eine Nebenrolle spielt, ist schwer begreiflich“, sagte Meerapfel zu Beginn. Das gelte umso mehr, „wenn man die Aufzeichnungen liest, die im Blockadebuch von Ales Adamowitsch und Daniil Granin versammelt sind.“
Die Regisseurin erinnerte zu Beginn der Lesung daran, dass Granin selbst als Soldat die Blockade Leningrads miterlebt hatte. „Er wusste also genau, wie die Situation in der belagerten Stadt war. Doch die vielen grausamen, traurigen Berichte, die Granin und Adamowitsch 35, 36 Jahre später hörten, machten beide krank. Es waren nicht nur Erzählungen von Hunger, Kälte, Bombardierungen, von den Bergen von Leichen, es waren auch Berichte über Kannibalismus. Aber es waren auch Erzählungen von Mitgefühl und Barmherzigkeit.“
Was beim Überleben half
Meerapfel verwies auf Granins Rede am 27. Januar 2014 vor dem deutschen Bundestag, in dessen damaliger Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus. Der Schriftsteller habe von den schrecklichen Ereignissen gesprochen, aber ebenso von den Beispielen menschlichen Mitgefühls:
„Häufig war es so, dass diejenigen überlebten, die anderen beim Überleben halfen. Die in den Schlangen anstanden, Brennholz organisierten, Kranke pflegten, ein Stückchen Brot oder Zucker teilten … Natürlich, auch die Retter starben, aber mich hat erstaunt, wie ihnen ihre Seele geholfen hat, sich nicht zu entmenschlichen.“
Granin schilderte vor fünf Jahren aber ebenso, wie die Blockade Menschen zwang, ihr Menschsein zu vergessen: „Ein Kind stirbt, gerade mal drei Jahre alt. Die Mutter legt den Leichnam in das Doppelfenster und schneidet jeden Tag ein Stückchen von ihm ab, um ihr zweites Kind, eine Tochter, zu ernähren. Und sie hat sie durchgebracht. Ich habe mit dieser Mutter und ihrer Tochter gesprochen. Die Tochter kannte die Einzelheiten nicht. Aber die Mutter wusste alles. Sie hat sich selbst gezwungen, nicht zu sterben und nicht wahnsinnig zu werden, weil sie ihre Tochter retten musste. Und gerettet hat.“
Beitrag zur Erinnerungsarbeit
Diese Geschichte gehörte nicht zu den gelesenen Auszügen aus dem „Blockadebuch“, im Beisein der Töchter von Adamowitsch und Granin, Natalia und Marina. Aber die Stellen, die die deutschen Publizisten, Schriftseller und Künstler vortrugen, waren nicht minder erschütternd und bewegend.
Angesichts des unfassbaren Leidens in Leningrad fragte sich einer unter den Zuhörenden, wie es seinem Großvater dabei ergangen sein muss. Der war als deutscher Soldat eine Zeit lang an der Blockade der Stadt beteiligt. Dieser Mann war Ofensetzer gewesen, hatte als solcher anderen Menschen geholfen, ein warmes Nest zu schaffen – um dann auf faschistischen Befehl als deutscher Soldat die Behausungen und warmen Nester anderer Menschen in Leningrad und anderswo in der Sowjetunion mit zu zerstören und zu vernichten. Er kam nicht wieder zurück zu seiner Familie, seiner Frau und seinen vier Töchtern, wurde Anfang 1944 auf dem Gebiet der Ukraine als vermisst gemeldet.
Das „Blockadebuch“ erinnere auch daran, „was uns zu Menschen macht“, sagte Filmemacherin Meerapfel. Sie nannte die Herausgabe der unzensierten Ausgabe durch den Aufbau-Verlag „einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungsarbeit“.
Auslöschung auf Führer-Befehl
Der Schriftsteller Ingo Schulze hat das Vorwort zur Neuausgabe verfasst. Der Leiter der Literatur-Sektion der Akademie der Künste erinnerte nicht nur an die beiden Autoren und daran, dass Adamowitsch die Menschenrechtsgesellschaft „Memorial“ mitgründete.
„Der Führer hat beschlossen, die Stadt Petersburg vom Antlitz der Erde zu tilgen“, zitierte er aus einer geheimen Direktive der deutschen Kriegsmarine vom 22. September 1941. „Es besteht nach der Niederwerfung Sowjetrusslands keinerlei Interesse an dem Fortbestand dieser Großsiedlung. Es ist beabsichtigt, die Stadt eng einzuschließen und durch Beschuss mit Artillerie aller Kaliber und laufendem Bombeneinsatz dem Erdboden gleich zu machen. Sich aus der Lage der Stadt ergebende Bitten um Übergabe werden abgeschlagen werden. Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teils dieser großstädtischen Bevölkerung besteht unsererseits nicht.“
„Die Blockade von Leningrad war ein geplantes Kriegsverbrechen“, betonte Schulze.
Schriftsteller Ingo Schulze
Als Adamowitsch Granin überzeugt habe, die Erinnerungen der Überlebenden aufzuschreiben, hätten beide noch nicht gewusst, „welch barbarischen Dinge sich hinter dem gewohnten Wort Leningrader Blockade verbergen, denn diese Menschen haben uns all die Jahre verschont. Doch wenn sie jetzt erzählen, schonen sie vor allem sich selbst nicht mehr.“ 200 der „Blokadniki“ wurden von ihnen befragt.
Unbegreifbare Lebensbedingungen
In dem Buch werde berichtet vom alltäglichen Leben „unter Bedingungen, die mit Begriffen nicht zu beschreiben sind“. Selbst normale Bezeichnungen für Alltagsdinge hätten ihre Bedeutung verloren. Zugleich hätten Solidarität und Würde ebenso überlebt, ebenso das Bedürfnis nach Kultur und Kunst. Das Buch erschüttere und schockiere „nicht nur durch Art und Ausmaß des Leidens und der Entmenschlichung “, sagte Schulze. „Von ihm geht zugleich eine seltsame Ermutigung aus. Es ist das Staunen darüber, wozu Menschen trotz alledem fähig sind.“
Schulze zitierte ebenfalls aus Granins Rede von 2014:
„Ich, der ich als Soldat an vorderster Front vor Leningrad gekämpft habe, konnte es den Deutschen sehr lange nicht verzeihen, dass sie 900 Tage lang Zivilisten vernichtet haben, und zwar auf die qualvollste und unmenschlichste Art und Weise getötet haben, indem sie den Krieg nicht mit der Waffe in der Hand führten, sondern für die Menschen in der Stadt Bedingungen schufen, unter denen man nicht überleben konnte. Sie vernichteten Menschen, die sich nicht zur Wehr setzen konnten. Das war Nazismus in seiner ehrlosesten Ausprägung, ohne Mitleid und Erbarmen und bereit, den russischen Menschen das Schlimmste anzutun. Heute sind diese bitteren Gefühle von damals nur noch Erinnerung.“
Der Schriftsteller hob hervor, „wie viel Kraft und Großmut notwendig sind, um solch einen Satz auszusprechen“. Er hoffe, dass die Lesung der Ausschnitte aus dem „Blockadebuch“ als „ein Zeichen, als eine Geste aufgenommen wird, dass wir unserer Verantwortung bewusst sind für das, was im Namen Deutschlands verübt worden ist. Wir können hier und heute nicht auf das Wissen verzichten, das aus diesem unermesslichen Leid entstanden ist. Wir hoffen und wünschen, dass diese Verantwortung und dieses Wissen in dem, was wir persönlich tun, aber auch in dem, was unser Land als Politik verfolgt, stets präsent bleiben möge.“
Aus dem Buch haben Volker Braun, Karin Kiwus, Jeanine Meerapfel, Ulrich Peltzer, Kathrin Schmidt, Gustav Seibt und Ingo Schultze gelesen.
Ales Adamowitsch, Daniil Granin: „Blockadebuch – Leningrad 1941-1944“
übersetzt von Helmut Ettinger und Ruprecht Willnow
Aufbau Verlag 2018. 703 Seiten. ISBN 978-3-351-03735-2. 36 Euro