1987 kam es mit dem INF-Vertrag zu dem ersten richtigen Abkommen über Abrüstung seit 1945 – mitten in der heißen Phase des „Kalten Krieges“. Das erscheint noch heute erstaunlich. Die Teilnehmer einer Diskussionsrunde am Donnerstag in Berlin haben darüber diskutiert, was das damalige „Wunder“ möglich gemacht hat und was es heute gefährdet.
Etwa 2700 Waffensysteme in Europa und Asien wurden in Folge des INF-Vertrages über nukleare Mittelstreckensysteme auf sowjetischer und US-amerikanischer Seite bis 1991 verschrottet. Das Dokument hatten der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow und der damalige US-Präsident Ronald Reagan am 8. Dezember 1987 in Washington unterzeichnet.
Daran erinnerte der Politikwissenschaftler Bernd Greiner vom „Berliner Kolleg Kalter Krieg“. Er stellte fest, dieser erste Abrüstungsvertrag seit 1945 und die Zukunft der nuklearen Abrüstung müssten in der Öffentlichkeit „politisch bewusster“ gemacht werden. Die Debatte um den heute gefährdeten Vertrag sei „noch längst nicht so weit, wie sie sein sollte“. Das „Berliner Kolleg Kalter Krieg“ hatte zusammen mit Partnern zu der Veranstaltung am Donnerstag in die Berliner Humboldt-Universität eingeladen.
Eine Frage des Vertrauens
Greiner verwies darauf, dass es sich um ein aktuelles Thema handele, weil der Vertrag gegenwärtig von mehreren Seiten „in die Zange“ genommen werde. Das werde mit der veränderten geopolitischen Lage, aber ebenso mit technologischem Fortschritt bei Waffen begründet. Otfried Nassauer vom „Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit“ (BITS) warnte in der Podiumsdiskussion vor einer „Renuklearisierung“, wie er es nennt. „Rüstungskontrolle und Abrüstung sind im Kern eine Frage des Vertrauens“, hob er hervor. Der INF-Vertrag sei eine „vertrauensbildende Maßnahme“ gewesen, weil sich beide neben der Abrüstung auf gegenseitige Inspektionen vor Ort einigten. Zudem hätten Gorbatschow und Reagan das Dokument als „Einstieg in die Lösung weiterer globaler Probleme“ betrachtet.
Damit sei vor 30 Jahren eine Trendwende zur „Denuklearisierung“ eingeleitet und die Rolle nuklearer Waffen in den militärischen Strategien reduziert worden. Das sei heute nicht mehr so, auch wenn noch nicht klar sei, ob es sich um eine neue Trendwende hin zur „Renuklearisierung“ handele. Die 2010 von US-Präsident Barack Obama veröffentlichten Bericht „Nuclear Posture Review“ habe spätestens diesen Wandel eingeleitet. Dieses Dokument gab als Ziel an, die US-Atomwaffen, auch die in Europa, zu modernisieren.
Nassauer sieht die Gefahr, dass die europäische Sicherheitspolitik sich „demnächst oder in den nächsten Jahren“ in diese Richtung verändern wird. „Damit wird das Sicherheitssystem in Europa durch eine solche Vorgehensweise noch einmal deutlich destabilisiert.“ Bis 2008/09 schien es möglich, dass es zu einer völligen „Denuklearisierung“ der europäischen Sicherheitspolitik kommt, meinte der BITS-Experte. Doch der dazu notwendige Abzug der US-Atomwaffen sei nicht erfolgt.
Regierungsvertreterin lenkt ab
Als Gefahr sieht dagegen Susanne Baum, stellvertretende Beauftragte der Bundesregierung für Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle, nicht nur Staaten wie Nordkorea, die mit Atomwaffen versuchen würden, „sich einen Platz in der Welt zu verschaffen“. Sie behauptete in Reaktion auf Nassauer auch, dass „sich die Sicherheitssituation in Europa mit der illegalen Annexion durch Russland gewaltig verändert hat“. Mit der wiederholten regierungsoffiziellen These lenkte sie nicht nur vom Thema ab. Baumann machte damit deutlich, wie geschichtsvergessen die Bundesregierung argumentiert.
Sie ließ außen vor, dass der Westen die europäische Friedensordnung nach dem Ende des Kalten Krieges gewaltsam brach, in dem die Zerstörung Jugoslawiens aktiv unterstützt wurde und die Nato 1999 einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen das Land führte, einschließlich der späteren Abtrennung des Kosovo von Serbien mit westlicher aktiver Hilfe. Jugoslawien hatte übrigens in den 1970er Jahren Möglichkeiten und Pläne zum Bau von Atomwaffen, die aber politisch nicht weiter verfolgt wurden, wie Filip Kovacevic, Professor an der University of San Francisco, unlängst gegenüber Sputnik erklärte.
„Versagen der westlichen Position“
Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München/Berlin, erinnerte bei der Frage nach den Gründen für die heutige veränderte Situation an das „Versagen der westlichen Position“ nach dem Ende des Kalten Krieges. Zu dem heute „aktualisierten Ost-West-Konflikt“ habe geführt, dass Russland nicht in ein kollektives Sicherheitssystem in Europa einbezogen wurde, was in den 1990er Jahren „eher möglich gewesen wäre als heute“.
Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und SPD-Politiker Egon Bahr hätten noch gefordert, Russland einzubinden. Dagegen sei die Nato nach Osten erweitert worden, was teilweise zum Vertrauensverlust beigetragen habe, so Wirsching. Leider meinte auch er, sagen zu müssen, dass es nach der „Krim-Annexion“ sehr schwer sei, Vertrauen zurückzugewinnen.
Während so Russland für die gefährdete nukleare Abrüstung und neue Aufrüstungsrunden verantwortlich gemacht wurde, erinnerte BITS-Experte Nassauer immerhin daran, dass die USA bei den Atomwaffen Russland technologisch voraus sei. Das sei auch bei Trägerwaffen wie den Marschflugkörpern der Fall, betonte Oliver Meier von der regierungsfinanzierten Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Russland versuche nicht mehr und nicht weniger als seine Bestände zu modernisieren, so Nassauer.
Putins Warnungen ausgeschlagen
Er machte ebenso darauf aufmerksam, dass die Vertrauensfrage seit Ende des Kalten Krieges permanent und zentral gestellt werde. Der BITS-Vertreter verwies dabei auf die Rede von Wladimir Putin 2001 vor dem deutschen Bundestag. Darin habe es „nur eine einzige kritische Passage gegenüber dem Westen“ gegeben, die sich auf das mangelnde Vertrauen in Sicherheits- und Abrüstungsfragen bezog. Putin habe 2007 vor der Münchner Sicherheitskonferenz denselben Gedanken formuliert – „nur wesentlich aggressiver, im Sinne von: Wenn Ihr Euch nicht bewegt, dann müssen wir wieder unsere nationalen Interessen deutlicher vertreten.“ Alle folgenden Schritte in dieser Richtung habe dann der Westen so interpretiert, als verletze Russland das Vertrauen. „Das ist klassisches und spiegelbildliches Kalter Krieg-Verhältnis“, hob Nassauer hervor. „Das ist eine der großen Gefahren im Moment.
Der Abrüstungsexperte blickte auf die Entspannungs- und Ostpolitik der Sozialdemokraten wie Egon Bahr zurück. Die sei noch davon ausgegangene, vor der Kritik an der anderen Seite sich in deren Lage zu versetzen und deren berechtigte Interessen zu beachten. Daraufhin drängte es Regierungsvertreterin Baumann erneut, Russland für die Lage verantwortlich zu machen und dabei die westlichen Verstöße gegen die KSZE-Charta und die europäische Friedensordnung auszulassen.
China in atomare Abrüstung einbeziehen
Friedensaktivistin Ute Finckh-Krämer verwies aus dem Publikum heraus auf die russischen Sorgen zum INF-Vertrag. Dieser lasse die Situation in Asien außen vor, kritisiert Moskau und fordert, das Dokument zu überarbeiten. „Was die US-Amerikaner für Sorgen haben, warum sie den INF-Vertrag loswerden wollen, ist mir bis heute nicht klar“, erklärte die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete (2013 bis 2017). Sie schlug vor, die Atomwaffenmacht China in einen erweiterten Vertrag einzubeziehen, weil so „ein Teil der russischen Ängste gelöst werden“ könnten. Sie plädierte dafür, zu schauen, wo Russland bei Abrüstung konstruktiv mitarbeite und welches seine Sorgen seien. Solche Sichten waren aber eher in der Minderheit an dem Abend.
Die Podiumsdiskussion war Teil der nicht öffentlichen internationalen Tagung „The INF Treaty: A Re-Appraisal“ vom 30. November bis 2. Dezember. Es bleibt die Warnung, dass die wegweisende Vereinbarung von 1987 „in den aktuellen Streitereien zwischen Washington und Moskau zerrieben zu werden – mit unkalkulierbaren Folgen weit über Europa hinaus“, wie die Veranstalter in der Einladung schrieben.