„Ein nuklearer Deal ist möglich!“ – Abrüstungsexperte über New Start-Verhandlungen

Kürzlich haben Russland und die USA in Wien über die Zukunft des New Start-Abrüstungsvertrages verhandelt. Einigen sich beide Seiten nicht darauf, ihn zu verlängern, geht ein weiterer Pfeiler der nuklearen Abrüstung zu Bruch. Sputniknews sprach darüber mit dem Politikwissenschaftler und Abrüstungsexperten Lutz Kleinwächter.

Herr Professor Kleinwächter, wie sehen Sie die Chancen, dass der New Start-Vertrag zwischen den USA und Russland über strategische Atomwaffen verlängert wird?

Auch im 21. Jahrhundert tragen vorrangig Russland und die USA eine gemeinsame Verantwortung bei der atomaren Rüstungskontrolle und Abrüstung. Sie verfügen über 90 Prozent der weltweit existierenden 13.400 nuklearen Sprengköpfe. Ihr bilateraler Verhandlungsprozess zur strategischen Stabilität läuft seit Anfang der 1960er Jahre. Er war bei aller Widersprüchlichkeit erfolgreich: Es gab keinen Atomkrieg, aber substanzielle Reduzierungen der Anzahl der Kernsprengköpfe von über 70.000 auf circa 12.000. 

Der 2011 vereinbarte und (noch) bis Februar 2021 gültige New Start-Vertrag sieht eine Reduzierung auf jeweils 1.550 einsatzbereite strategische Atomsprengköpfe sowie 800 Trägersysteme vor. Eine Verlängerung der Laufzeit bis 2026 ist möglich, wird aber trotz mehrfach erklärter Bereitschaft Russlands, von den USA in Frage gestellt. Scheitert der New Start-Vertrag zur Begrenzung der Kernwaffen wäre auch die Einhaltung früher vereinbarter Obergrenzen obsolet. Es droht – bar zivilisatorischer Vernunft und im Widerspruch zu den sicherheitspolitischen und sozial-ökonomischen Interessen beider Seiten – eine destabilisierende nukleare Hochrüstung.

Wie schätzen Sie die jüngsten russisch-US-amerikanischen Gespräche dazu ein?

Unter Zeitdruck begannen jüngst Konsultationen zwischen Russland und den USA zur strategischen Stabilität. Das erste Treffen selbst, auf Ebene der Außenministerien, am 22. Juni in Wien, und seine Ergebnisse waren wichtig. Sie blieben aber eklatant hinter den Notwendigkeiten zurück. Praktische Resultate zur strategischen Rüstungskontrolle – Fehlanzeige. Vereinbart wurden jedoch die Einberufung technischer Arbeitsgruppen und eine nächste Gesprächsrunde, eventuell im Juli oder August. Euphemistisch schätzte der US-Sonderbeauftragte für Abrüstung, Marshall Billingslea, das Treffen als „sehr positiv“ ein. Russlands Vize-Außenminister Sergej Rjabkow sprach von „signifikanten Fortschritten“, warnte aber zugleich, dass die Zeit davonlaufe.

Welche Probleme gibt es derzeit bei der atomaren Abrüstung?

Probleme für die strategische Stabilität türmen sich zuhauf: Erstens: Die Demontage der strategischen Abrüstungsarchitektur seitens der USA durch die Kündigungen des ABM-Vertrages über die die strategischen Raketenabwehrsysteme (2002), des INF-Vertrages über das Verbot landgestützter atomarer Kurz- und Mittelstreckenwaffen (2019) sowie die Ankündigung des Ausstiegs aus „Open Skies“, dem Abkommen über militärische Beobachtungsflüge (2020). Das Verlaufsmuster war immer dasselbe – nach gegenseitigen Vorwürfen über strittige Vertragsverletzungen und dem russischen Verhandlungsangebot zur gemeinsamen Lösung der Probleme, verließen die USA destruktiv den entsprechenden Vertrag. Umso wichtiger wäre, New Start als letzten großen Abrüstungsvertrag und dadurch den Prozess aufrecht zu erhalten.

Zweitens: Die Modernisierung der Nuklearpotentiale und die Verkündung neuer Militärdoktrinen. Die USA und Russland modernisieren mit hoher Dynamik ihre strategischen Streitkräfte (Miniaturisierung, Hyperschall-Waffen, Cyberrüstung, usw.). Dieser Prozess verläuft aufgrund der unterschiedlichen geostrategischen Lagen, technologischen Voraussetzungen sowie militärischen Traditionen asymmetrisch und unübersichtlich. Dazu kommt das gegenseitige Misstrauen im Zusammenhang mit der Neuformulierung der Nukleardoktrinen in den USA („Nuclear Posture Review“ von 2018) und in Russland („Grundlagen zur nuklearen Abschreckung“ von 2020). Es impliziert wechselseitige Unterstellungen eines Strebens nach nuklearer Überlegenheit und Kriegsführungsfähigkeit. Das ist also „alter Wein in neuen Schläuchen“. Dabei werden politisch übergeordnete Interessen und militärpolitische Gesamtzusammenhänge durch waffentechnische Argumente dominiert. Angesagt sind aber nüchterner Realismus und Vertrauensbildung durch Verhandlungen.

Ein Großkrieg liegt nicht im Interesse von Kernwaffenstaaten. Reale gegenseitige „direkte Angriffs-Bedrohungen“ existieren nicht. Die Seiten ziehen sich in ihren Doktrinen auf eine fragile, letztlich destruktive „Abschreckung“ zurück. Seit den 1960er Jahren ist und bleibt die (selbst)abschreckende Wirkung der „gegenseitig gesicherten Zerstörung“ (Mutual Assured Destruction) eine Konstante der strategischen (In)Stabilität. Auch bei Nichteinigung über New START bleiben die Realität der Nichtführbarkeit eines atomaren Krieges bestehen. Die Grenzleistungsfähigkeit von Kernwaffen ist mehrfach überschritten. Es gibt keinen sinnvollen militärischen Einsatz, keine Siegoption im Nuklearkrieg und eine Drohung ihrer Anwendung ist politisch unglaubwürdig.

Das dritte Problem liegt in den USA, in deren Innenpolitik und dem Wahlkampf. Innerhalb der USA-Eliten spitzen sich im Jahr der Präsidentenwahlen die Auseinandersetzungen zu. Die Gegner Trumps in der Regierung, im Staatsapparat und in den Geheimdiensten torpedieren mögliche außenpolitische Erfolge. Russland drängte mehrfach, auch mit Blick auf die US-Präsidentenwahl im November, auf einen Beginn der New Start- Verhandlungen. Trumps Wiederwahl ist zunehmend fragwürdig. Die Vereidigung des (neuen) Präsidenten findet im Januar 2021 statt. Die Zeit von Dezember bis Februar wäre relativ knapp. Dennoch, komplizierte Verhandlungen sind für eine Verlängerung des New Start-Vertrages von 2021 auf 2026 nicht nötig. Der politische Wille ist ausschlaggebend, für fünf Jahre Zeitgewinn.

Welche Rolle spielt China dabei? US-Präsident Donald Trump begründet sein Vorgehen unter anderem damit, dass China in die Abrüstungsgespräche einbezogen werden müsse.

Der Faktor China stellt das vierte Problem dar. Die Trump-Administration forderte mit dem Verweis auf die nukleare Aufrüstung Chinas eine Einbeziehung des Landes in die New Start-Verhandlungen. Das chinesische Außenministerium lehnte die Teilnahme an den nuklearen Abrüstungsgesprächen ab, mit den Hinweisen, dass „Chinas atomare Schlagkraft nicht in der Größenordnung der USA und Russlands“ sei und es „noch nicht der richtige Zeitpunkt“ sei. Auch Russland lehnt trilaterale Verhandlungen ab, wenn auch zurückhaltender, orientiert auf Gespräche im jeweils bilateralen Rahmen und verweist außerdem auf die Kernwaffen Frankreichs (280) und Großbritanniens (215).

Die im „Weißbuch: Die Landesverteidigung Chinas im neuen Zeitalter“ von 2019 dargelegte Militärdoktrin orientiert sich an einer „Minimalabschreckung“. Gegenwärtig verfügt China über 320 atomare Sprengköpfe. Eine Verdopplung in 10 Jahren wird prognostiziert und in der staatlich gesteuerten Presse Chinas zirkuliert die Zahl 1.000. Eine Großmacht China entwickelt sich auch nuklear.

Der Disput wirft ein grundsätzliches Problem auf: Die bipolare Welt des Kalten Krieges ist seit Jahrzehnten Vergangenheit. Ein neuartiges multipolares Kräfteverhältnis entwickelt sich. Multipolarität heißt aber auch Übernahme von Verantwortung in internationalen Verhandlungen durch alle großen Mächte und im Besonderen für die militärstrategische Abrüstung. Die in Russland, den USA und auch China andiskutierte „Multilaterale Strategische Stabilität“ wird zu einer sicherheitspolitischen Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Wenn auch die Hoffnung schwindet – ein nuklearstrategischer Deal zwischen Russland und den USA im Rahmen von New Start ist noch möglich!