„Friedensgutachten 2020“: Warnung vor Pandemiefolgen – und Verständnis für „Defender 2020“

Seit 1987 stellen bundesdeutsche Friedensforscher jährlich das „Friedensgutachten“ vor. Längst ist es vom kritischen Kurs an Militarisierung und Aufrüstung abgekommen und wird von seinen heutigen Herausgebern als Instrument der Politikberatung verstanden. Sie haben nur noch Empfehlungen für die Bundesregierung, so auch mit der aktuellen Ausgabe.

Die Corona-Pandemie hat alarmierende Auswirkungen auf den globalen Frieden. Das erklärten Vertreter führender Friedensforschungsinstitute am Dienstag in Berlin, als sie das „Friedensgutachten 2020“ vorstellten. In vielen Konfliktgebieten hätten sich die jeweiligen Militärs oder Polizeieinheiten zurückgezogen, was extremistische und lokale Milizen ausnutzen würden, hieß es. Als Beispiele wurden Afghanistan, Mali oder die Region um den Tschadsee genannt.

Zudem würden UN-Friedensmissionen nur noch sehr eingeschränkt operieren können und würden Friedensverhandlungen wie in Afghanistan stillstehen. „Die weltweite Krisendiplomatie kocht auf Sparflamme“, erklärte stellvertretend Conrad Schetter vom Bonn International Center for Conversion (BICC). „Israels angekündigte Annexion von Teilen des Westjordanlands droht, die Lage im Mittleren Osten eskalieren zu lassen.“

Schetter machte außerdem darauf aufmerksam, dass die Covid-19-Pandemie Folgen für die Rüstungskontrolle hat. Er verwies darauf, dass die 10. Überprüfungskonferenz des Vertrags zur Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV) verschoben wurde. Damit schließe sich „ein wichtiges Zeitfenster der nuklearen Rüstungskontrolle“, was bei der Verbreitung von Nuklearwaffen „dramatische Folgen“ haben könne.

Keine Zweifel an „Defender 2020“

„Der New-Start-Vertrag zwischen den USA und Russland läuft im kommenden Februar aus“. Erinnerte der Friedensforscher. In dem 2010 unterzeichneten Vertrag ging es darum, die strategischen Atomwaffen beider Seiten weitet zu reduzieren. Im Oktober 2019 hat der russischen Präsident Wladimir Putin darauf gedrängt, den Vertrag zu verlängern und erklärt, Russland habe den USA Vorschläge unterbreitet. Putin bezeichnete den Vertrag als „praktisch das letzte Instrument, das ein ernstes Wettrüsten“ einschränke. Eine positive Antwort der USA erfolgte bisher nicht.

Auf Nachfrage erklärte Friedensforscher Schetter, dass noch nicht absehbar sei, ob die weltweiten Konflikte in Folge der Pandemie weiter zunehmen. Das ließe sich erst nach einem längeren Zeitraum einschätzen. Das durch die Pandemie „eingefrorene“ US-Manöver „Defender 2020“ stellte Nicole Deitelhoff Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) grundsätzlich nicht in Frage.

Das Manöver sei notwendig, um das Zusammenspiel der Truppen zu üben, „solange wir in der Nato sind“, sagte sie. Sie äußerte Verständnis für die osteuropäischen Nato-Mitglieder, die sich Sorgen wegen Russland machen würden. HSFK-Friedensforscher Christopher Daase sprach sich für vertrauensbildende Maßnahmen aus. Er sagte zur angekündigten US-Truppenverlegung, es sei „kein gutes Signal“ an Russland, wenn die US-Soldaten aus der Bundesrepublik nach Polen verlegt würden.

Dramatische Folgen der Pandemie

Das Friedensgutachten wird jährlich vom Bonn International Center for Conversion (BICC), dem Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), dem Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) und dem Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) herausgegeben. Es analysiert aktuelle Gewaltkonflikte, zeigt Trends der internationalen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik auf und gibt Empfehlungen für die Politik. In diesem Jahr trägt es den Titel: „Im Schatten der Pandemie: Letzte Chance für Europa“.

Die Friedensforscher warnen in dem Gutachten vor den Folgen der Covid-19-Pandemie.

„Sie verschlingt ungeahnte Ressourcen und hat weitreichende politische Interventionen in das gesellschaftliche Zusammenleben zur Folge. Gerade in fragilen Weltregionen drohen sozioökonomische Verwerfungen, politische Unruhen und gesellschaftliche Spaltungen.“

Die politischen Entscheidungen in der am 11. März von der Weltgesundheitsorganisation WHO ausgerufenen Pandemie werden aber nicht in Frage gestellt.

„Grundsätzlich begrüßen wir die Konjunkturpakete der Bundesregierung und der Europäischen Union, um die Auswirkungen der Corona-Pandemie in Europa in den Griff zu bekommen“, betonte denn auch BICC-Experte Schetter am Dienstag.

„Diese werden friedenspolitisch allerdings verpuffen, wenn sie nicht durch ein globales Konjunktur- und Kooperationspaket flankiert werden. Wenn es nicht gelingt, den internationalen Handel wieder anzukurbeln und die Verelendung großer Bevölkerungsteile in Ländern des Globalen Südens zu verhindern, sind alle innerstaatlichen Programme zum Scheitern verurteilt.“

Kaum Kritik an westlicher Politik

Die Friedensforscher wollen, dass die Europäische Union (EU) und die Bundesregierung gemeinsam mehr dafür tun, um weltweit den Frieden zu fördern und Konflikte zu bewältigen. Es gehe darum, Krisen vorzubeugen, damit Militär nicht eingesetzt werden müsse, hob HSFK-Forscherin Deitelhoff hervor. Die Pandemie verschärfe soziale Ungleichheiten, warnte ihr Fachkollege Schetter. Deshalb müsste die medizinische und soziale Infrastruktur in den ärmeren Ländern gestärkt und die wirtschaftspolitischen Bedingungen und Umschuldungsmaßnahmen für die Länder des Südens gelockert werden. Die Friedensforscher sprechen sich für „ein koordiniertes Konjunktur- und Kooperationspaket“ aus.

In dem Gutachten wird gefordert, dass der Konflikt in Syrien politisch gelöst wird, wofür sich die Bundesregierung einsetzen solle. Ebenso müsse die grenzüberschreitende humanitäre Hilfe sichergestellt werden. Die westlichen Sanktionen gegen das kriegsgeschundene Land und das Festhalten westlicher Regierungen am Ziel des Regimewechsels in Damaskus werden nicht als Teil der Ursachen benannt.

Die Friedensforscher erklärten bei der Vorstellung des Gutachtens, dass sich humanitäre Notlagen in Ostafrika, dem Mittleren Osten und in Südasien in Folge der Covid-19-Pandemie dramatisch verschärfen. Sie fordern deshalb unter anderem:

„Mit Hilfe massiver EU-Unterstützung für Griechenland sollten etwa die völlig überfüllten Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln aufgelöst, die Asylverfahren stark beschleunigt und anerkannte Flüchtlinge in aufnahmewillige EU-Staaten umgesiedelt werden.“

Einmischung in andere Länder

Das „Friedensgutachten 2020“ warnt vor dem Rechtsterrorismus. Dieser müsse als solcher ausdrücklich benannt werden und sei „nachhaltig zu bekämpfen“, erklärten die Friedensforscher. Sie fordern ebenso von der Bundesregierung, Protestbewegungen in anderen Ländern zu unterstützen, so in Hongkong. Finanzielle Hilfe für andere Regierungen solle an die Bedingung geknüpft werden, „dass zivilgesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten gewährt werden“. Damit  sprechen sich die Institute dafür aus, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumischen.

Außerdem wollen sie, dass die Corona-Krise genutzt wird, „um endlich den strukturellen Wandel hin zu einer nachhaltigen Klimapolitik anzugehen“, wie BICC-Experte Schetter sagte.

„Das Friedensgutachten widmet sich besonders den Auswirkungen des Klimawandels auf Gewaltkonflikte. Es stellt fest, dass der Klimawandel bereits gegenwärtig in vielen Regionen die Lebensbedingungen erheblich beeinträchtigt, das Konfliktrisiko steigert und eine nachhaltige Friedenssicherung erschwert.“

Die Friedensforschungsinstitute haben ihre Wurzeln in der bundesdeutschen Friedensbewegung der 1970er und 1980er Jahre. Doch damit haben sie längst kaum noch etwas zu tun und keine Kontakte mehr zur heutigen Friedensbewegung. Das zeigte sich nicht nur in der Aussage von HSFK-Forscherin zum US-Manöver „Defender 2020“, das sie nicht in Frage stellten wollte. Mit dem diesjährigen „Friedensgutachten“ sprechen sich die Institute dafür aus, den angekündigten US-Truppenabzug zu nutzen. Das Ziel ist aber politischen Kurswechsel in Richtung Entspannung auch gegenüber Russland, sondern für „eine Stärkung der außen- und sicherheitspolitischen Identität der Europäischen Union – auch jenseits der NATO“.

Kein Nein zur „Nuklearen Teilhabe“

Schetter warnte immerhin davor, „dass das ‚Friedensprojekt Europa‘ gegenwärtig dadurch gestärkt werden soll, dass die europäische Rüstungskooperation vorangetrieben wird – ohne die europäische Rüstungsexportkontrolle zu stärken“. Doch auf die Frage von Journalisten nach der Debatte um die sogenannte Nukleare Teilhabe der Bundesrepublik an den US-Atomwaffen in Deutschland, betonte HSFK-Forscherin Deitelhoff, sie sei gegen einen Ausstieg.

Die Expertin meinte, die „Nukleare Teilhabe“ habe „Starärken und Schwächen“.  Sie erwartet eine von der Bundesregierung dazu angestoßene öffentliche Debatte statt zunehmenden Protest dagegen. Im „Friedensgutachten“ heißt es dann auch zur Frage um die Nachfolge der Bundeswehr-“Tornado“-Jets, die die US-Atombomben im Kriegsfall ins Ziel bringen sollen, nur: „Die politischen, finanziellen und technischen Auswirkungen der Beschaffung eines nuklearfähigen amerikanischen bzw. europäischen Trägersystems sind in einem transparenten Prozess zu klären.“

So sieht bundesdeutsche Friedensforschung heute aus, nachdem 1987 das erste „Friedensgutachten“ veröffentlicht wurde. Sie versteht sich eher als Politikberatung: So wird der Bundesregierung empfohlen, die „russische Bereitschaft für sicherheitspolitische Kooperation“ zu testen. Die Bundesregierung soll prüfen, „ob Russland aufgrund des Rückgangs seiner Militärausgaben bereit ist, über die Eingrenzung konventioneller militärischer Fähigkeiten zu verhandeln“.

Berlin soll Moskau testen

Denn immerhin sanken die russischen Militärausgaben von 2016 bis 2019 um rund 20 Prozent, wie festgehalten wird, während die der Nato-Staaten inzwischen das 16-fache der Russlands ausmachen. Die bundesdeutschen Rüstungsausgaben steigen in diesem Jahr um weitere vier Prozent, hält das „Friedensgutachten“ fest.

„Die Bundesregierung signalisierte 2019 der Nato, 2024 einen Anteil der Militärausgaben am BIP von 1,5 Prozent erreichen zu wollen … Das entspräche Militärausgaben von ca. 61 Mrd. € im Jahr 2024.“

Nur dank der Covid-19-Pandemie sollen die bundesdeutschen Militärausgaben zwischen 2020 und 2023 nicht weiter steigen, heißt es in dem Gutachten der Institute. Ausdrückliche Kritik an dem bundesdeutschen Rüstungskurs war am Dienstag nicht zu vernehmen.