DDR 1989: „Starres System führte in den Untergang“ – Ex-Diplomat und SED-Mitarbeiter

Warum haben die SED-Mitglieder und die Mitarbeiter des SED-Apparates dem Untergang der DDR 1989 anscheinend tatenlos zugesehen? Warum haben jene, die führen sollten, nur abgewartet? Diese und andere Fragen hat Andrej Reder, ehemaliger Diplomat und Mitarbeiter im zentralen SED-Apparat gegenüber Sputnik beantwortet.

Die dramatische Entwicklung in der DDR bis zum Herbst 1989 haben viele im Land „mit großer Sorge“ erlebt. Das traf auch auf die Mitarbeiter des Zentralkomitees (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zu. Eines der Probleme bestand in einer „zunehmenden Diskrepanz zwischen Wort und Tat“, berichtete einer von ihnen, Andrej Reder, im Gespräch mit Sputnik.

Der Widerspruch zwischen der Verfassung der DDR und der politischen Realität des Landes sei immer größer geworden. „Das, was wir als sozialistische Demokratie angesehen haben, verkam zunehmend zu einer Formalie.“ Das habe die Glaubwürdigkeit der SED und ihres Führungsanspruches „schwer belastet“.

Andrej Reder erlebte den Untergang der DDR  als politischer Mitarbeiter der Abteilung Internationale Verbindungen im ZK der SED. Er gehörte der sogenannten Konsultanten-Gruppe an, die sich mit Grundsatzfragen beschäftigte. Fachlich war er für Fragen der Dritten Welt, insbesondere Asiens, zuständig. Vorher hat er als Diplomat auf dem indischen Subkontinent gearbeitet.

Kritik nur intern

Im Gespräch mit Sputnik gestand er ein, selbst zu lange „naiv und zu positiv“ auf die Entwicklung der DDR geschaut zu haben. „Untereinander haben wir in der Gruppe offen miteinander gesprochen, über das, was uns am eigenen Land gefiel, aber auch darüber, was wir kritisch sahen.“ Letzteres sei vor allem in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre immer öfter geschehen.

„Besonders in den allerletzten Jahren, als der Generalsekretär Erich Honecker erkrankte, war das natürlich sehr dramatisch. Auch wir spürten eine Sprachlosigkeit, eine Hilflosigkeit. Die Tätigkeit von Partei und Staat sahen wir immer kritischer und hatten gehofft, dass das ganze Problem biologisch gelöst werden wird, in dem Moment, wo es eine neue Parteiführung gibt und der Staat neue Impulse erhält.“ Reder meinte rückblickend: „Viel zu lange, wie sich zeigte, hegten wir diese Hoffnung.“

Zwar hätten sich nicht nur sie Sorgen um die Entwicklung von Partei und Land gemacht, erinnerte sich Reder. Aber das sei nicht so weit gegangen, „dass wir geahnt hätten, dass dieser Verlust der Glaubwürdigkeit der Partei dazu führen könnte, dass die Existenz der DDR auf dem Spiel steht. Wir wähnten uns mit anderen, nicht nur in unserem Haus, zu sehr in den Gesetzmäßigkeiten des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. Der Rückfall vom Sozialismus zum Kapitalismus hat uns überrascht.“

Zu starres System

Reder meinte, dass die DDR ihre Chancen 40 Jahre „mehr oder weniger“ gut genutzt habe. Aber sie habe immer auch im Spannungsfeld des Wettbewerbs und Konfrontation mit dem kapitalistischen Westen, mit der Bundesrepublik gestanden. „Jede Regung und jede Äußerung“ sei immer danach geprüft worden, wem es nutzt. Deshalb unterblieb Kritik weitgehend und sei auf eine generationsbedingte Ablösung der alten Führungskader gehofft worden.

„Heute weiß ich, dass es in keinem der sozialistischen Länder geschah. Also lag es auch an unserem System, dass letztendlich diese Entwicklung hin zum Herbst 1989 geführt hat – und wahrscheinlich führen musste. Weil wir einfach zu starr geblieben sind, zu dogmatisch, und so den Anforderungen nicht gerecht werden konnten.“

Aus Sicht von Reder ist es heute schwer zu sagen, welche der Faktoren für den Untergang des „Sozialismus in den Farben der DDR“ die entscheidenden waren. Es sei eine Mischung aus inneren und äußeren Ursachen gewesen.

„Wir haben ja immerhin vier Jahrzehnte existiert. Und wir haben nicht nur Fehler gemacht. Wir haben die Chancen, die sich diesem Staat boten, durchaus wahrgenommen, und haben auch eine Spur gezogen, die weiterhin besteht, wenn auch nicht in staatlicher Form.“

Von der Sowjetunion abhängig

Menschen aus der DDR, die in der heutigen Bundesrepublik leben, würden merken, dass in dem untergegangenen Land „nicht alles schlecht war“, so Reder. Vieles sei vor allem sozial wesentlich  gerechter gewesen. Dabei sei die DDR der Teil Deutschlands gewesen, der nach dem Zweiten Weltkrieg und in dessen Folge ökonomisch viel ungünstigere Bedingungen vorfand und schwächer war. Zu deren Leistungen gehöre dennoch die Solidarität mit Entwicklungsländern und Befreiungsbewegungen in der Welt. „Wir haben nicht nur unseren Teller gesehen, sondern über den Tellerrand hinaus.“

Der einstige Diplomat und Mitarbeiter im Parteiapparat gestand ein:

„Dennoch haben wir eine Niederlage erlitten. Ich meine, das liegt durchaus an inneren Faktoren. Denn das, was 40 Jahre möglich war, hätte weiter Bestand im positiven Sinn haben können. Die inneren Faktoren waren aber mit den äußeren aufs Engste verbunden.“

Die DDR habe ohne die Sowjetunion nicht bestehen können, ist für Reder klar. „Wir sind ein Land, ein Staat gewesen, der vor allem von den Rohstoffeinfuhren aus der UdSSR abhängig war“. Doch je schwieriger die Lage und größer die Probleme im „Land des großen Oktober“ geworden seien, desto mehr seien die politischen und ökonomischen Hilfeleistungen für die DDR in Frage gestellt und verringert worden.

Konfrontation mit der BRD

Das habe bereits zuvor bestehende Meinungsverschiedenheiten zwischen den Führungen beider Staaten und Parteien anwachsen lassen. Die daraus entstandenen wirtschaftlichen Probleme hätten die von der SED verfolgte „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ gefährdet. Das habe sich im tagtäglichen Leben der Menschen unmittelbar bemerkbar gemacht und „hat natürlich dazu geführt, dass wir instabiler geworden sind.“

Zudem habe die DDR „nicht im luftleeren Raum eine perfekte Demokratie und Ökonomie aufbauen können, weil wir mit einem zweiten deutschen Staat konfrontiert waren“. Das habe er schon im diplomatischen Dienst der DDR direkt erlebt. So habe ihm damals im indischen Kalkutta ein ehemaliger Altnazi als Generalskonsul der BRD gegenüber gestanden.

„Er gehörte zu den ganz frühen NSDAP-Mitgliedern in Deutschland und hat alles versucht, um gegen die DDR im Sinne der berüchtigten ‚Hallstein-Doktrin’ vorzugehen, wo immer er konnte, auch persönlich.“ Dieser „unmittelbare Gegner“ auf der westlichen Seite habe nie aufgegeben, die DDR einzuverleiben – „was er letzten Endes viel später auch getan hat“. Das ist aus Reders Sicht ein wichtiger Faktor.

Kritik war unerwünscht

Einen anderen sieht er im Verständnis von Partei und deren führender Rolle in der DDR.  Wer führen wolle, müsse immer die Situation und die Entwicklung analysieren und auf Neues reagieren. Das sei aber von der SED-Spitze immer weniger geschehen.

„Unser System war leider hierarchisch aufgestellt, vergleichbar mit einer Pyramide – und nicht nur unseres. Die Spitze der Pyramide war viel zu lange an dieser. Wer dort thronte, war, je länger wir existiert haben, zur entscheidenden Person geworden, so dass die Meinungen des ZK oder der Bezirksleitungen, im Parteiapparat, in Basisorganisationen der Partei nicht mehr gefragt waren. Kritik an dieser Spitze der Pyramide, war nicht erwünscht.“

Die damit verbundene Lernunwilligkeit und -unfähigkeit der angeblich führenden Partei SED habe zu immer mehr Fehlentscheidungen ihrer Spitze geführt, so der einstige ZK-Mitarbeiter. Die SED-Führung habe sich immer mehr von der Realität des Landes entfernt.

Eigene Schwächung ausgenutzt

„Letzten Endes haben uns über viele Jahre innere Faktoren geschwächt, die dann 1989 zu einer Situation führten, die natürlich von den äußeren Faktoren durch offene Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR genutzt wurde.“

Reder ist sich sicher: „Ohne diesen Gegner hätten wir weiter existieren können.“

Er antwortete überraschend auf die Frage, welches Datum vor 30 Jahren aus seiner Sicht entscheidender war, der 4. November 1989 mit der großen Bürger-Demonstration mitten in Ost-Berlin oder der 9. November 1989 mit der so nicht geplanten Grenzöffnung:

„Ich entscheide mich für ‚Oder‘. Weil ich der Meinung bin: Die Entwicklung hätte nicht so weit kommen dürfen, dass es den 4. und den 9. November gegeben hat.“

Im direkten Vergleich der beiden Tage hält er aber den 4. November 1989 für wichtiger. „Das war ein Protest von sehr vielen Menschen [rund 500.000 – Anm. d. Red.] mit sehr weitreichenden Forderungen verglichen mit der Realität in der DDR. Ich habe das damals mit großer Sorge gesehen, weil niemand wissen konnte, wohin das Ganze führen wird.“

Grenzöffnung als Symbol

Damals habe er noch die Hoffnung gehabt, dass es darum gehe, „nicht die DDR abzuschaffen, sondern sie anders zu gestalten“. Und nicht bei allen Rednern der großen Kundgebung habe er geklatscht, erinnerte Reder sich. An dem 4. November vor 30 Jahren habe er zuvor mit Menschen vor dem ZK-Gebäude diskutiert und feststellen müssen, dass den Reformkräften in der SED nicht mehr geglaubt wurde.

Den 9. November 1989 habe er dagegen „buchstäblich verschlafen“, gestand er im Gespräch. Er sei relativ früh an dem Abend schlafen gegangen, so dass er erst am nächsten Tag sah, was geschehen war. Das habe ihn wegen der Art und Weise entsetzt, auch wenn er vorher wusste, dass es Veränderungen im Reiseverkehr für DDR-Bürger geben sollte.

„Der unkontrollierte Ablauf zeugte von dem Chaos, der inneren Verfasstheit der Partei und des Staates – auch davon, welche Leute bis ins SED-Politbüro gekommen sind.“

Reder meinte, SED-Politbüromitglied Günter Schabowski, der für die übereilte Grenzöffnung sorgte, sei gelinde gesagt „kein Aushängeschild für Klugheit“ gewesen. „Er hat nur reagiert, ob bewusst oder unbewusst. Wie er sich danach verhalten hat, Monate und Jahre später, da bin ich mir bis heute nicht sicher, was wirklich dahinter steckte.“ Der 9. November 1989 sei eine „Katastrophe und Blamage“ gewesen, vor allem, weil für den 10. November ohnehin vorgesehen war, die Grenzen für DDR-Bürger zu öffnen. Durch die überraschende Öffnung sei ein geordnetes Verfahren nicht mehr möglich gewesen.

Verhältnis zur Sowjetunion

Auf die Frage, wann ihm bewusst geworden sei, dass die DDR nicht weiter existieren kann, berichtete der einstige ZK-Konsultant von zwei Begebenheiten: 1987 habe ein Mitarbeiter aus dem Apparat der KPdSU bei einem Gespräch bemerkt, die DDR dürfe bei einer krisenhaften Situation nicht mit sowjetischer militärischer Hilfe rechnen. Das habe der Linie des KPdSU-Generalsekretärs Michail Gorbatschow entsprochen, nach der jedes sozialistische Land eigenständig über seinen Weg zu entscheiden habe. Diese Andeutung habe Reder zu denken gegeben, ohne, dass er damals die Gefahr für die Existenz der DDR ahnen konnte.

Die zweite Begebenheit war sein Besuch der Sowjetunion auf Einladung der KPdSU Ende 1990. Er sollte mit anderen aus der inzwischen in „Partei des demokratischen Sozialismus“ (PDS) umbenannten SED berichten, welche Erfahrungen sie seit 1989 machten. Bei zahlreichen Gesprächen habe er mitbekommen, wie schlimm die Lage der einfachen Menschen im „Land des großen Oktober“ war.

„Da wurde mir klar: Dieses Land und seine Ökonomie liegen am Boden. Dass es anderen sozialistischen Ländern nicht helfen kann, selbst, wenn es wollte.“

Beide Erfahrungen hätten seine Sicht bestätigt, „soweit hätte es nicht kommen dürfen“. Andrej Reder war schon durch die eigene Lebensgeschichte und die seiner Eltern eng mit der Sowjetunion verbunden. Er kam dort vor 82 Jahren zur Welt und erst mit 12 Jahren in die damalige sowjetische Besatzungszone (SBZ), aus der die DDR entstand. Sein Vater war als deutscher Kommunist unter Stalin grundlos der Spionage für die Gestapo bezichtigt und in das berüchtigte Gulag-Straflager nach Kolyma deportiert worden.

Auseinanderdriftende Interessen

Aus seiner Sicht musste die DDR für die Sowjetunion immer ein zuverlässiger Partner sein, was zu einem engeren und solidarischeren Verhältnis als zu anderen Ländern verpflichtet habe. In den späten 1980er Jahren habe aber das Vertrauen im gegenseitigen Verhältnis abgenommen, auch durch den Umgang der DDR mit der BRD.

Mit Gorbatschow und seinen Ideen vom „Neuen Denken“ seien zunehmende Differenzen spürbar geworden. Mit der Zeit seien unterschiedliche Interessen der beiden Seiten deutlich geworden. Das habe sich bei den Versuchen der SED-Führung unter Honecker gezeigt, die Beziehungen zum anderen deutschen Staat zu normalisieren. Da habe es verschiedene Sichten bei beiden Parteien gegeben.

„Die daraus entstandenen Probleme haben wir als Mitarbeiter immer berücksichtigen müssen, in der eigenen Arbeit oder bei Diskussionen“, erinnerte sich Reder. Doch den Mitarbeitern des Parteiapparates sei es nicht möglich gewesen, auf den Kurs der Parteiführung Einfluss zu nehmen: „Die Luft dafür war nicht vorhanden. Das war nicht gewollt.“

Tiefe Spur in der Geschichte

Er und andere seien aber nicht nur von oben diszipliniert worden, sondern sie hätten das auch von sich selbst aus getan. „Politisch leuchtete uns ein, dass wir nicht aus der Reihe tanzen können und dürfen“, erklärte Reder die Ursache für dieses Verhalten.

„Wir haben uns auch aus Überzeugung disziplinieren lassen. Das lief nach der Devise: Wem nützt das?“

Heutige Vorwürfe, so gehandelt zu haben, sind für ihn verständlich: „Ja, wir haben zu lange gewartet, auf verschiedenen Ebenen, bis es dann zu spät wurde.“

Für den ehemaligen Parteikader mit der bewegten Lebensgeschichte, geprägt von den Widersprüchen des 20. Jahrhunderts, ist im Rückblick auf die Ereignisse vor 30 Jahre „nicht nur eine Mauer gefallen. Gefallen ist ein Gesellschaftssystem. Dieses System hat seit 1917, auf deutschem Boden seit 1945, eine tiefe Spur in der Entwicklung hinterlassen.“ Geblieben sei „eine Welt, in der ein Sieg über das Vergangene gefeiert wird, was wir als Sozialismus verstanden haben – als ob es das Ende der Geschichte ist.“

Die Welt seit 1990 sei aber nicht sicherer geworden, betonte Reder, auch nicht sozial gerechter.

„Geblieben ist eine Welt der Armut und des Reichtums, mit einem von Profitgier bestimmten System. Es lässt die ‚Arm-Reich-Schere’ immer größer werden und gefährdet die Existenz der Menschheit.“

Heute seien ebenfalls Veränderungen notwendig, ist sich der weiterhin politisch Interessierte sicher. All das spiele auch in der Bundesrepublik 30 Jahre später eine Rolle, meinte er. Die sozialen Probleme würden nicht abnehmen, doch darüber werde heute hinweg gesehen.

„Geblieben sind auch Visionen, dass diese Welt nicht so bleiben kann, wie sie ist, bei allem Positiven, was bestimmte materielle Dinge betrifft.“

Es gehe um die Vision einer anderen Welt, „die ohne Kriege, sondern in Frieden, sozialer Gerechtigkeit und auf gleichberechtigter Grundlage“ existiere. Das falle aber nicht vom Himmel, sondern fordere von denen, die sich dafür einsetzen, statt über Unterschiede zu streiten, sich auf Gemeinsamkeiten zu verständigen und zu handeln.

Lesetipp:
Andrej Reder:
„Dienstreise – Leben und Leiden meiner Eltern in der Sowjetunion 1935 bis 1955“
Verlag Neues Leben, 2015. 272 Seiten. ISBN 978-3-355-01824-1. 18,99 Euro