Wie hat ein General der Staatssicherheit der DDR die sowjetischen „Waffenbrüder“ 1989 erlebt? Warum ist er nach dem Untergang des Landes nichts ins Exil gegangen? Was hält er von der „Aufarbeitung“ der Geschichte und wünscht er sich die DDR zurück? Darüber hat Sputnik mit dem ehemaligen MfS-General Heinz Engelhardt gesprochen. Teil 4
Heinz Engelhardt war mit Jahrgang 1944 nicht nur der jüngste General des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Am Ende hat er dieses 1990 aufgelöst. In seinem Buch „Der letzte Mann – Countdown für das MfS“ hat sich der einstige Generalmajor zum ersten Mal zu seiner früheren Tätigkeit geäußert. Es basiert auf Gesprächen mit dem Journalisten Peter Böhm. Sputnik hat die Möglichkeit gehabt, mit Engelhardt über seine Sicht auf die DDR und den Herbst 1989 zu sprechen.
Als die DDR unterging wollte der Ex-MfS-General nicht ins Exil gehen, nicht nach Kuba und nicht in die damalige Sowjetunion. Er liebe zwar die Insel in der Karibik, könne sich aber nicht vorstellen, täglich in der Sonne zu leben, erklärte er im Gespräch. (Foto: edition ost)
Zunehmende Enttäuschung
Die Sowjetunion habe er zwar schon als Kind verehrt und jeden Sowjetsoldaten als Helden angesehen. In seinem Buch beschreibt Engelhardt, wie ihn das Buch „Timur und sein Trupp“ von Arkadi Gaidar beeindruckt hatte. Allerdings sei es für ihn nicht in Frage gekommen, in die Sowjetunion auszuwandern. Das Bleiben in der vereinigten Bundesrepublik begründete er so: „Ich lebte hier. Meine Familie lebte hier. Und ich habe gesagt: ‚Ich werde dieses Land nicht lieben, aber ich werde mich mit Loyalität einbringen.‘“ Engelhardt fügte hinzu: „Ich liebe es auch heute noch nicht.“
„Das war keine verordnete Freundschaft“, sagte er zum Verhältnis zur Sowjetunion. So habe er während seiner Tätigkeit beim MfS viele Menschen aus der Sowjetunion kennengelernt. Dazu habe ein sowjetischer Offizier in Plauen gehört, der ihm beim Wodka erzählt habe, dass er als 16-Jähriger zusehen musste, wie die deutschen Faschisten seine Eltern erschossen. „Das hat mir einen Stich ins Herz gegeben, wie dieser Mann in diesem Land hier ohne irgendwelche Rachegefühle Dienst macht.“
Für Engelhardt war Michail Gorbatschow anfangs wie für viele andere in den späten 1980er Jahren ein Hoffnungsträger. Heute sieht er ihn eher als „nützlichen Idioten“ für ganz andere Kräfte, die ein Interesse hatten, den realen Sozialismus zu beseitigen. Aber in der Endzeit der DDR sei er von der Sowjetunion zunehmend enttäuscht gewesen und habe sich auch allein gelassen gefühlt – „nicht vom Land, sondern der damaligen Führung“.
Sowjetisches Interesse
Er habe von den Offizieren des sowjetischen In- und Auslandsgeheimdienst KGB wie Oberst Boris Jurinow, mit denen er in Frankfurt/Oder zu tun hatte, bis heute eine ganz hohe Meinung: „Ein kluger, kultivierter und gebildeter Mensch.“ Zu ihm und seiner Ehefrau hätte „echte freundschaftliche Beziehungen“ bestanden.
„Aber die sowjetischen Genossen haben dann auch den Befehl gehabt, so viele Quellen wie möglich zu bekommen“, was Engelhardt als Geheimdienstmann verständlich findet. „Wir waren uns aber einig, keine unserer Quellen an den KGB zu übergeben.“ Für die letzte MfS-Führung sei klar gewesen, dass die eigenen IM mit strafrechtlichen Folgen zu rechnen hatten, wenn sie in der Bundesrepublik für einen fremden Geheimdienst aktiv wären. Es sei auch versucht worden, mit bundesdeutschen Dienststellen eine Regelung zu finden, die eigenen Quellen offen zu legen, sie aber vor Strafverfolgung zu schützen. Das sei aber politisch verhindert worden.
Das damalige sowjetische Interesse an den MfS-Quellen und -Informanten sei ihm auch wie „Leichenfledderei“ vorgekommen, sagte er.
„Wir hatten ja herausragende Quellen, wie Rainer Rupp in der Nato. Damit haben wir dem Militärhaushalt der Sowjetunion Milliarden gespart. Da hatte die Hauptverwaltung Aufklärung Herausragendes geleistet.“
Wertlose Treuebekenntnisse
Es habe nicht mehr das Gefühl gegeben, dass der KGB seine einstigen DDR-Genossen vom MfS schützen wolle. „Ihnen war letztendlich das Hemd auch näher als die Jacke.“ Für ihn ändere das nichts an den freundschaftlichen Gefühlen, die er zu einzelnen Angehörigen des KGB hege, so Engelhardt.
„Wir haben uns in gewisser Weise nicht nur von der eigenen Parteiführung, sondern auch von der Führung der Sowjetunion allein gelassen gefühlt. Das war vor allem in der Umbruchzeit 1989/90.“
Er habe in der KGB-Vertretung in Berlin-Karlshorst am Ende des Jahres von den sowjetischen Offizieren noch Treuebekenntnisse gehört, so Engelhardt.
„Aber sie waren auch eingebunden in diese Hierarchie. Der KPdSU-Generalsekretär war ihr Oberbefehlshaber. Auch für sie war im Grunde genommen klar, dass die Messe gelesen war.“
Die Sowjetunion habe zu diesem Zeitpunkt selbst bereits wirtschaftlich am Boden gelegen, erinnerte Engelhardt an die Ausgangslage. Das habe er als MfS-Bezirkschef in Frankfurt(Oder) in den späten 1980er Jahren erlebt. Da habe die Frau seines KGB-Ansprechpartners Jurinow erklärt, sie fühle sich in einer DDR-Kaufhalle „wie im Paradies“ – obwohl sie vorher in Moskau gelebt habe.
Große Illusionen
Am Ende habe der Freundschaftsgedanke nur eine untergeordnete Rolle gespielt, schätzte Engelhardt das Verhältnis zwischen MfS und KGB in der Zeit des Untergangs der DDR ein. „Wir haben uns da viel vorgemacht“, was ebenso für das Verhältnis zu den anderen realsozialistischen Staaten gegolten habe. „Vom Prinzip her war das genauso ein fragiles Gebilde wie heute in der EU. Die nationalen Egoismen zwischen den sozialistischen Staaten waren nicht zu leugnen, auch wenn die offizielle Politik eine andere Lesart hatte.“
Für ihn ist klar:
„Die DDR war ein Kind der Sowjetunion. Und als die Eltern nicht mehr existierten, hat dieses Kind auch keine Daseinsberechtigung mehr gehabt. Mit einer starken Sowjetunion im Rücken wäre vielleicht etwas zu retten gewesen. Die DDR allein hatte keine Chance.“
Engelhardt ist überzeugt, dass der damalige Bundeskanzler Kohl gegenüber Gorbatschow durchaus politische Zugeständnisse gemacht hätte, wenn dieser eine andere Linie vertreten hätte. „Kohl wollte die Einheit unter allen Umständen. Gorbatschow meinte aber, das sind eure, das sind deutsche Angelegenheiten. Verhängnisvoll, wie sich erwies.“
Widerlegter Optimismus
Er habe 1990 damit gerechnet, dass nach etwa 15 Jahren über die DDR und auch das MfS „vernünftig“ geredet werden könne. Damals sei er optimistisch gewesen, dass es dann möglich sein könnte, „Geschichte so zu schreiben, wie sie war“. Doch das habe sich als Illusion herausgestellt, bedauerte der Ex-General. „Ich habe manchmal den Eindruck, dass sich das nach 30 Jahren noch verfestigt hat.“ Das könne an der offiziellen Politik liegen, aber ebenso daran, dass bestimmte Medien nur oberflächlich, verfälscht und tendenziös berichten, vermutet er.
„Dieses Halbwissen oder Unwissen führt zu Diskussionen und Emotionen. Die Menschen sind weniger bereit, über Fakten zu sprechen. Sie sind lieber bereit, Gruselgeschichten zu konsumieren als sich Gedanken über reale politische Hintergründe und geschichtliche Gegebenheiten zu machen.“
Er sei gern bereit, zu diskutieren und sich auch Kritik anzuhören, erklärte Engelhardt im Sputnik-Gespräch. Aber er vermisse auf der anderen Seite oft die Bereitschaft, sachlich zu diskutieren. In Medienberichten wurde dem Ex-MfS-General vorgeworfen, er würde Opfer verhöhnen. Das sei „ausgesprochener Unsinn“, empörte er sich darüber. Er könne an konkreten Beispielen belegen, dass das nicht stimme.
Veränderte Weltanschauung
Aus Engelhardts Sicht ist das MfS der willkommene Sündenbock „für alles Übel in der Welt“ und für alle Fehler, die in der DDR gemacht worden seien.
„Das MfS galt und gilt als die Inkarnation des Bösen. Es hätte ‚erfunden‘ werden müssen, wenn es nicht real existiert hätte. Das wird uns noch eine ganze Weile begleiten.“
Für ihn ist es weiter von Bedeutung, dass die DDR existierte, schon wegen ihrer sozialen Leistungen für alle ihrer Bürger. Das würden immer mehr vermissen, gerade aus seiner Generation. Engelhardt ist Jahrgang 1944.
„Aber die DDR, so wie sie war, will natürlich keiner mehr zurück – ich auch nicht.“
Er lebe heute ruhiger und zufriedener, mache sich aber Sorgen über die gesellschaftlichen Entwicklungen.
Und er müsse nicht mehr am 1. Mai auf der Tribüne stehen und „dem Volk zuwinken“, freute er sich augenzwinkernd. „Ich nehme mich nicht mehr so wichtig“, blickte er zurück auf die Jahre nach der DDR, in denen er für ein Reisebüro arbeitete. Das habe ihm geholfen, einen anderen Blick auf die Welt zu bekommen – und eine differenziertere Weltanschauung. Er habe viel Elend in anderen Ländern gesehen und begriffen, „dass wir nicht der Mittelpunkt, dass Deutschland nicht der Nabel der Welt ist.
Peter Böhm, Heinz Engelhardt: „Der letzte Mann – Countdown fürs MfS“
„edition ost“ im Verlag Das Neue Berlin, 2019. 288 Seiten. ISBN 978-3-360-01889-2. 16,99 Euro