„Das Ding war vergeigt“ – Ex-MfS-General über Untergang der DDR 1989. Teil 1

Warum hat das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) 1989 nicht seinen Auftrag erfüllt, den Staat, die DDR, zu sichern? Warum verlief der Untergang des Landes friedlich? Und was hat für den Untergang gesorgt? Über diese Fragen hat Sputnik mit dem ehemaligen MfS-General Heinz Engelhardt gesprochen. Teil 1 eines Gespräches über 1989.

„Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass die Staatssicherheit die DDR so wenig retten konnte, wie sie an ihrem Untergang Schuld war.“ Dieser Satz ist auf dem Umschlag des Buches „Der letzte Mann – Countdown für das MfS“ zu lesen. Geschrieben hat es Heinz Engelhardt. Er war mit Jahrgang 1944 nicht nur der jüngste General des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Am Ende hat er dieses 1990 aufgelöst. (Foto: edition ost)

In seinem Buch hat sich der einstige Generalmajor zum ersten Mal zu seiner früheren Tätigkeit und dem was er dabei erlebte geäußert. Es basiert auf Gesprächen mit dem Journalisten Peter Böhm. Sputnik hat die Möglichkeit gehabt, mit Engelhardt über seine Sicht auf die DDR und den Herbst 1989 zu sprechen.

Engelhardt war von 1962 bis 1990 Angehöriger des MfS. Er leitete ab 1971 die MfS-Kreisdienststelle in Reichenbach (Vogtland) und wurde 1976 Leiter der Abteilung XX in der MfS-Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt. Die war in der gesamten MfS-Struktur zuständig für Teile des Staatsapparates, die sogenannten Blockparteien CDU, LDPD, NDPD, DBD und die sogenannten Massenorganisationen, den Kultur- und Sportbereich, die Medien und die Kirchen. Diese Abteilung sollte auch die „politische Untergrundtätigkeit“ (PUT) bekämpfen, also die oppositionellen Gruppen. In diesen Bereichen war eine hohe Zahl „Inoffizieller Mitarbeiter“ (IM) aktiv.

Skrupelloser Gegner

1987 wurde Engelhardt Chef der MfS-Bezirksverwaltung in Frankfurt (Oder). Im Dezember 1989 sollte er den Verfassungsschutz der DDR aufbauen, ab Januar 1990 dann das MfS  auflösen. Nach Amtsantritt der Regierung unter Lothar de Maiziere im April 1990 wurde er deren Berater. Nach einer Umschulung zum kaufmännischen Angestellten arbeitete der Ex-General schließlich bei einem Reiseunternehmen.

Auf die Frage, warum die DDR als Staat trotz eines eigenen Ministeriums für dessen Sicherheit, unterging erinnerte Engelhardt daran, dass die DDR von Beginn an von außen bekämpft wurde. Grundlage sei die antikommunistische Staatsdoktrin der USA gewesen. Diese sei mit allen Mitteln, auch wirtschaftlichen wie der Embargo-Politik, durchgesetzt worden. „Die DDR musste sich in dieser Hinsicht immer eines starken, eines hochgerüsteten und skrupellosen Gegners erwehren.“

In seinem Buch verweist er auf die zahlreichen Sabotage- und Diversionsakte gegen die DDR-Wirtschaft vor allem in den 1950er und 1960er Jahren, einschließlich Mordanschlägen. Die westliche Abwerbung von gut ausgebildeten und hochqualifizierten Fachkräften aus der DDR habe dem Land einen immensen materiellen, ideellen und politischen Schaden zugefügt. Bis zum Mauerbau am 13. August 1961 waren etwa zwei Millionen Menschen aus der DDR in den Westen abgewandert, oftmals abgeworben.

Eigene Fehler

Engelhardt stellte klar:

„Dass das Klassenkampf zwischen zwei sich antagonistisch gegenüberstehenden Gesellschaftsordnungen war, wird heute in der Beurteilung der damaligen Situation tunlichst verschwiegen. Es ging für die DDR schließlich um Sein oder Nichtsein. Es ging um den Versuch, einen sozialistischen Staat auf deutschem Boden zu errichten.“

Der radikale Bruch mit den vorherigen Eigentumsverhältnissen in Deutschland, erst in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), dann in der DDR, werde jenen nie verziehen, die das durchgesetzt haben:

„Man verzeiht es uns bis heute nicht, dass wir an den Grundfesten der kapitalistischen Ordnung gerüttelt haben.“

Andererseits habe die DDR eine ganze Reihe eigener Fehler gemacht, hob Engelhardt hervor. Dazu zählt für ihn: „Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt.“ Die umfangreichen sozialen Leistungen seien „löblich“ gewesen, aber zu Lasten des DDR-Haushaltes gegangen. Ebenso hätten die Militärausgaben aufgrund der Mitgliedschaft in der Organisation des Warschauer Vertrages das Land stark belastet – am Ende der DDR mit rund 15 Milliarden DDR-Mark.

Überdimensionierter Sicherheitsapparat

Der „überdimensionierte Sicherheitsapparat“ ebenso wie die Ausgaben zur Grenzsicherung hätten gleichfalls dazu beigetragen. Das habe insgesamt die DDR-Wirtschaft geschwächt sowie zu Mängeln und Missständen geführt. Diese hätten bei den DDR-Bürgern zu Unverständnis und einer wachsenden Unzufriedenheit geführt. Diese besorgniserregende Entwicklung habe die Partei-und Staatsführung der DDR ignoriert, so Engelhardt. Selbst das MfS habe auf seine Fragen zur Lage keine Antworten mehr von der SED-Führung bekommen.

„Das war ein völliges Desaster und ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Man hatte das Zepter des Handelns aus der Hand gegeben. Das führte am Ende auch dazu, dass selbst der Sicherheitsapparat aus ‚Staatssicherheit‘, Volkspolizei, Kampfgruppen und NVA keine Veranlassung mehr sah, mit der Waffe in der Hand das Vaterland zu verteidigen. Der angebliche Feind auf der Straße, das war unser Volk.“

Aus Sicht von Engelhardt hätte sich mit der Unterschrift von SED-Generalsekretär Erich Honecker als DDR-Staatsratsvorsitzendem unter die KSZE-Schlussakte von 1975 im eigenen Land etwas verändern müssen. Er stelle sich heute noch die Frage, warum selbst das MfS den Untergang der DDR nicht verhindern konnte, gestand er im Gespräch ein. Die Sicherheitsorgane wären eigentlich dazu in der Lage gewesen, meinte er rückblickend.

Unvorbereitete Staatssicherheit

Aber: „Im Grunde scheiterte das daran, dass auch bei uns eine gewisse Resignation eingetreten ist.“ Er habe in seiner Zeit als Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Frankfurt (Oder) selber erlebt, wie Hinweise auf Probleme und Missstände von der SED-Führung ignoriert wurden. Das habe bis in die oberste Partei- und Staatsspitze gereicht. Im Gespräch stellte der Ex-MfS-General klar: Er hätte wie der überwiegende Teil der Mitarbeiter des MfS und der anderen bewaffneten Organe „kompromisslos“ die DDR mit der Waffe in der Hand gegen jeden äußeren Feind verteidigt.

„Dafür hätten wir unser Leben gegeben. Aber auf das eigene Volk hätten wir nicht geschossen. Wir waren nicht darauf vorbereitet, dass sich ein Teil des Volkes der DDR auf der Straße kritisch äußert. Diese Situation hat uns schlicht und ergreifend überfordert. Letztendlich brachen auch die Befehlsstrukturen zusammen.“

Als im Herbst 1989 auch in Frankfurt (Oder) demonstriert wurde, habe er einen Großteil der Teilnehmenden gekannt. „Die sind nicht auf die Straße gegangen, weil sie die DDR abschaffen wollten. Die wollten einen besseren Sozialismus, einen demokratischeren Sozialismus!“ Beim MfS wäre niemand auf die Idee gekommen, dagegen mit der Waffe vorzugehen, wiederholte Engelhardt mehrmals. Wie bei der Nationalen Volksarmee (NVA), die sich dann von der Bundeswehr entwaffnen lassen habe, habe sich auch bei den eigenen Leuten Unzufriedenheit breit gemacht.

Friedlicher Untergang

„Unsere Führungskader, beim Minister angefangen, waren zum Teil überaltert. Sie hatten als Gründergeneration große Verdienste beim Aufbau und der Sicherung der DDR. Später haben sie die Zeichen der Zeit nicht wahrhaben wollen. Da hätte ein Wechsel vollzogen werden müssen. Mit mir als jüngstem General hat man das vorsichtig versucht. Aber das waren letztendlich untaugliche Versuche. Auch die eigenen Mitarbeiter wollten ihre Chefs der Bezirksverwaltungen, der Hauptabteilungen – verdienstvolle Genossen – nicht mehr. Sie haben sich gefragt: Für wen sollen wir uns denn noch opfern?“

Die Ereignisse im Herbst 1989 verliefen weitestgehend friedlich, weshalb heute von der „Friedlichen Revolution“ in der DDR gesprochen wird. Er sei heute froh, dass das damals in der Folge alles friedlich verlief, „und dass nicht irgendwelche Fantasten die Nerven verloren haben“. Das sei aber nicht ausschließlich den Demonstranten zu verdanken gewesen, betonte der Ex-MfS-General.

„Der Dank gilt insbesondere den Angehörigen der Schutz- und Sicherheitsorgane für ihr besonnenes Verhalten. Wir hatten ja die Waffen.“

Es sei nicht auszuschließen, dass wie bei der NVA auch Teile des MfS bereit gewesen wären, einem Befehl der Partei- und Staatsführung zu folgen, die DDR zu „retten“. Aber genau diese Führung habe sich in den letzten Wochen der DDR als nicht mehr handlungsfähig erwiesen. Das Gros der eigenen Mitarbeiter hätte sich solchen Befehlen verweigert.

Kritische Lage

Engelhardt betonte, dass Honecker-Nachfolger Egon Krenz befohlen hatte, unter keinen Umständen von den Schusswaffen Gebrauch zu machen. Und: „Es gab auch bei der Führung dazu überhaupt keine Veranlassung mehr.“ Der Ex-MfS-Mann spitzt die damalige Stimmung so zu: „Das Ding war vergeigt.“

Es sei ein Ausdruck der politischen und moralischen Stärke gewesen, dass die MfS-Mitarbeiter nicht die Nerven verloren haben.

„Insbesondere in den Kreisdienststellen mussten Mitarbeiter unter Umständen um ihr Leben und ihre Gesundheit fürchten. Selbst in einer derart für sie völlig neuen Stresssituation haben sie einen kühlen Kopf bewahrt. Jeder hatte ja bildlich vor Augen, was mit Angehörigen der ungarischen Staatssicherheit 1956 geschehen ist.“

Engelhardt meinte: „Es wäre unter Umständen gekippt, wenn manche Demonstranten die Nerven verloren hätten.“ Er habe selbst mehrmals Situationen erlebt, wo er von Menschen bedrängt wurde und zum Teil in „sehr hasserfüllte Gesichter“ geschaut hätte. Einige seien auch alkoholisiert gewesen. Wenn es dabei wie in Ungarn 1956 zu Lynchjustiz gekommen wäre, „dann wäre auch geschossen worden“, ist er überzeugt. Das hätten ihm seine Mitarbeiter in Frankfurt(Oder) gesagt. Die damalige Lage habe „auf Messers Schneide“ gestanden.

Überraschende Besonnenheit

„Es war einerseits der Vernunft eines Großteils der Demonstranten geschuldet. Wir haben ihnen aber andererseits keinen Anlass gegeben, zu provozieren. Unsere Besonnenheit hat sie praktisch überrascht.“

Engelhardt bleibt dabei, dass das große Verdienst für den friedlichen Verlauf bei den Mitarbeitern der Sicherheitsorgane liegt.

„Es waren keine schießwütigen Grenzer, die den Schlagbaum aufgemacht haben – das ist in der Geschichte einmalig.“

Seit der Ex-General 1990 das MfS auflöste, wurde oft unterstellt, dass er mit seinen Mitarbeitern im Untergrund weiter geheimdienstlich tätig gewesen sei. Das stimme nicht, da sie allein mit der Aufgabe, das Ministerium aufzulösen und der Frage der jeweils eigenen Zukunft ausreichend beschäftigt waren. Da hätten sie gar nicht daran gedacht, „irgendwelche Geheimarmeen zu gründen und irgendwelchen Fantastereien hinterherzulaufen“.

Er selbst habe später von einigen sogenannten Bürgerrechtlern zu hören bekommen: „Es ist schade, dass wir sie nicht am Laternenpfahl aufgehängt haben.“ Andere hätten von der chilenischen Variante mit Stadien gesprochen, in denen die MfS-Mitarbeiter zusammengepfercht werden müssten. Aber der überwiegende Teil der Demonstranten wollte keine Gewalt, erinnerte sich Engelhardt.

Feindlicher Hass

„Derart hasserfüllte Äußerungen kamen nicht von den Bürgern, die eine bessere DDR wollten. Sie kamen von Feinden der DDR, die in dieser Zeit keinen Hehl mehr aus ihren wahren Absichten machten. Die Ereignisse haben sie ermutigt, ihr wahres Gesicht zu zeigen.“

Engelhardt erinnerte daran, dass es in der DDR nicht nur „Andersdenkende“ gab: „Es gab auch Feinde, die die verfassungsmäßige Ordnung aushebeln wollten.“

Er machte darauf aufmerksam, dass es für die Mitarbeiter der Sicherheitsorgane auch um die eigene Gesundheit und das eigene Leben ging. Wenn die Situationen damals wie beim „Sturm“ auf die MfS-Zentrale in Berlin-Lichtenberg am 15. Januar 1990 eskaliert wären, „wäre das in ein Blutbad ausgeartet. Das wäre ein gewisser Selbsterhaltungstrieb gewesen.“ Er habe seine eigene Wacheinheit in der Bezirksverwaltung Frankfurt (Oder) entwaffnen lassen und in die Kaserne geschickt, damit nicht einer der jungen Wehrpflichtigen Angst bekommt und schießt.

Teil 2 erscheint am Freitag. Darin wird es um die Überwachung durch das MfS gehen. Engelhardt beantwortet außerdem die Frage, wofür er sich entschuldigt und was aus seiner Sicht hätte anders laufen müssen.

Peter Böhm, Heinz Engelhardt: „Der letzte Mann – Countdown fürs MfS“
„edition ost“ in Verlag Das Neue Berlin, 2019. 288 Seiten. ISBN 978-3-360-01889-2. 16,99 Euro