September 1989: Ein Loch im „Eisernen Vorhang“ und ein Angebot der BRD an die DDR

Der 10. September 1989 gehört zu den wichtigen Daten in der Chronik des Untergangs der DDR vor 30 Jahren. Was an diesem Tag geschah, hat besonders durch die Folgen für Schlagzeilen gesorgt. Und an dem Tag hat sich schon gezeigt, in welche Richtung der Zug für das untergehende Land fährt – und wer vorn in der Lok stand. Eine Nachbetrachtung.

„Die Sowjets wussten alles.“ So kurz hat der Journalist Andreas Oplatka zusammengefasst, was Moskau über die Pläne Ungarns im Frühjahr und Sommer 1989 wusste, seine Grenze zu Österreich zu öffnen. Die sowjetische Führung hat in keiner Phase Anzeichen gezeigt, dagegen einzuschreiten. Er hat die Vorgänge in seinem Buch „Der erste Riss in der Mauer“, erschienen 2009, beschrieben.

Fotografiert im Sommer 2019 vor einem Museum in Budapest, in dem an die Ereignisse 1989 erinnert wurde

Die ungarische Regierung hatte am 10. September 1989 bekannt gegeben, sie werde die Grenze zu Österreich für DDR-Bürger öffnen. Die sollten auf ihrem Weg in die BRD nicht mehr zurückgehalten werden. Mit dieser Entscheidung wurde ein Ventil für die anschwellende Fluchtwelle von DDR-Bürgern geöffnet. Der Druck auf die bis dahin reformunwillige Partei- und Staatsführung der DDR wurde gleichzeitig weiter erhöht. Der ungarische Schritt kann durchaus auch als erstes Loch in der Mauer angesehen werden, die dann fast genau zwei Monate später aufgemacht wurde.

Stacheldraht aus dem Westen

Oplatka beschreibt in seinem Buch ausführlich die Vorgeschichte dieses Ereignisses. Das begann mit den Diskussionen in der ungarischen Regierung bereits 1988, was aus dem „Eisernen Vorhang“, den Grenzanlagen, zu Österreich wird. Die waren zum einen dringend reparaturbedürftig, zum anderen störten sie beim Budapester Kurs nicht nur in Richtung Wien, sondern auch in Richtung Westen.

Die Grenze wurde unter anderem durch ein Signalsystem aus der Sowjetunion aus den 1970er Jahren gesichert, das dort nicht mehr produziert wurde. Zum anderen war rostfreier Stacheldraht eingesetzt worden – der aus dem Westen kam und mit harten Devisen bezahlt werden musste. Die konnte Ungarn kaum noch aufbringen. Deshalb waren bereits Kredite beim Internationalen Währungsfonds (IWF) aufgenommen worden, samt dessen Forderungen nach einem Sparkurs.

Hinzu kamen, dass sich in der politischen Führung des Landes einiges geändert hatte. Anders als zum Beispiel in der DDR waren in der Partei und Regierung jüngere Kader nachgerückt. Sie brachten  neue Ideen ein und gingen viele Probleme weniger ideologisch an. Zunehmend verlor die alleinherrschende „Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei“ (USAP) ihren Einfluss. Selbst die Regierung des Landes nahm immer weniger Rücksicht auf die ideologischen Vorgaben und entschied zunehmend eigenständig. So begannen Kräfte wie Ministerpräsident Miklos Németh, der spätere Außenminister Gyula Horn, Innenminister István Horváth oder auch Parteichef Károly Grósz, schrittweise die bisher scharf bewachte Grenze zu schleifen.

Ahnungslosigkeit im Osten

Doch das geschah laut Oplatka gerade in den ersten Monaten des Jahres oftmals, ohne dass den Handelnden in Budapest klar war, welche internationalen Folgen sie damit auslösten. Der Autor hat dazu mit damals auf den verschiedenen Seiten Handelnden sprechen können. Er zeichnet die einzelnen Schritte nach und versucht, Motive der Mitwirkenden zu ergründen.

Der Weg führte vom im Mai begonnenen Abbau der Grenzanlagen und des Stacheldrahtzaunes über das „Paneuropäische Picknick“ am 19. August  1989 bei Sopron, mit dem Grenzdurchbruch durch DDR-Bürger, hin zur am 10. September vor dreißig Jahren verkündeten Entscheidung. Sie trat in der Nacht um 0 Uhr in Kraft und machte den Weg für die DDR-Bürger frei, die inzwischen zu Tausenden in Flüchtlingslagern und in der BRD-Botschaft warteten, in die Bundesrepublik ausreisen zu können.

Nach dem Grenzdurchbruch bei Sopron und den Medienberichten darüber waren immer mehr DDR-Bürger nach Ungarn gereist, um zu versuchen, über Österreich in die Bundesrepublik zu kommen. Selbst die kurzzeitig wieder verschärften ungarischen Grenzkontrollen und auch ein toter DDR-Flüchtling am 21. August 1989 konnten das nicht verhindern. Die DDR-Führung blieb mit ihren Protesten gegen Budapests Politik erfolglos, wie Oplatka zeigt. Auch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) konnte mit seinen Leuten vor Ort nichts verhindern.

Moskau ohne Interesse an DDR-Problemen

Der Autor beschreibt auch, wie die private Initiative für das Picknick an der ungarisch-österreichischen Grenze von der Regierung in Budapest für ihre politischen Zwecke benutzt wurde – auch wie bundesdeutsche Stellen den DDR-Bürgern halfen, nach Sopron zu kommen. Ministerpräsident Németh habe mit dem Ereignis testen wollen, wie die sowjetische Führung auf die vorsichtige Öffnung der Grenze reagiert. Doch aus Moskau kam entweder Schweigen oder vorsichtige verbale Zustimmung statt Widerspruch.

Gorbatschow sagte laut Oplatka am 3. März 1989, als er von Németh vorsichtig über die Pläne informiert wurde: „Ich sehe da, ehrlich gesagt, gar kein Problem.“ Auch bei nachfolgenden Begegnungen habe er nie Widerspruch geäußert. Der Autor gibt zusammenfassend wieder, was ihm einstige führende sowjetische Parteikader übereinstimmend dazu sagten: „Wir wussten von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde, was in Ungarn vor sich ging.“ Dabei halfen ungarische Informationen ebenso wie das eigene KGB-Netzwerk in dem „Bruderland“.

Zu den Problemen der DDR mit den Ereignissen und der sowjetischen Sicht darauf ist in Oplatkas Buch unter anderem zu lesen:

„Die Verfechter der Perestroika um Gorbatschow trugen den Parteichef der DDR, Honecker, nicht in ihrem Herzen; sie wären ihn gern losgeworden, und so war es nicht ihr dringendstes Bedürfnis, ihm in der Not beizustehen.“

Zudem habe Moskau zu dem Zeitpunkt längst mehr mit eigenen Sorgen wegen der Entwicklung in der Sowjetunion zu tun gehabt, als dass sie die Bitten aus Ost-Berlin, gemeinsam den realen Sozialismus auch in Ungarn zu retten, nachkommen hätte können.

Erster Riss in der Mauer

Und so entschied Ministerpräsident Németh bereits am 22. August 1989, die Grenze nach Österreich für DDR-Bürger zu öffnen, die ununterbrochen genau mit dieser Hoffnung ins Land strömten. Das wurde dann am Abend des 10. September 1989, einem Sonntag, 19 Uhr im ungarischen Fernsehen durch Außenminister Horn offiziell verkündet. Ein erster großer Riss in der noch stehenden Mauer wurde aufgetan. Durch den gelangten bereits in den ersten Tagen mehr als 10.000 DDR-Bürger nach Österreich und von dort mit österreichischer und der Hilfe internationaler Organisationen weiter in die BRD. Oplatka schreibt, dass selbst das MfS bis zum 5. November 1989 50.000 Ausreisen über Ungarn zählte.

Das Ereignis war vor allem eine Folge der wachsenden inneren Probleme vornehmlich der DDR, aber auch der sozialistischen „Bruderstaaten“ wie Ungarn und Sowjetunion. Die Macht, die sie einst hatten und die dafür sorgte, dass der Aufstand in Ungarn 1956 ebenso wie später der „Prager Frühling“ 1968 militärisch niedergeschlagen wurden, schwand jeden Tag für Tag mehr.

Das wurde aufmerksam auf der anderen Seite verfolgt. Doch die US-Führung habe sich kaum für Ungarn 1989 interessiert, ist bei Oplatka zu lesen. Umso mehr griff die damalige Bundesregierung in die Ereignisse ein und beförderte diese. Dabei nutzte sie ganz aktiv ihre nie aufgegebene Haltung, die Staatsbürgerschaft der DDR nicht anzuerkennen. Die Grundlage: Nach Artikel 116 des Grundgesetzes besitzen alle Deutschen innerhalb der Grenzen des früheren Deutschen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 die deutsche Staatsangehörigkeit. Und so wurden die ausreisewilligen DDR-Bürger schon in Ungarn mit bundesdeutschen Pässen ausgestattet.

Erstaunliches Angebot an DDR-Führung

Am selben 10. September 1989 zeigte sich an einem anderen Ort, was Bonn aus der Entwicklung im realen Staatssozialismus für sich schloss: Führende Kräfte der BRD hatten bereits zu diesem Zeitpunkt eine Vereinigung zwischen der DDR und BRD im Blick. Darüber hat der Staatsrechtler Ekkehard Lieberam kürzlich in der Tageszeitung „junge Welt“ berichtet.

„Noch vor der ‚Wende‘ gab es, um den 10. September 1989 herum, ein Angebot des Außenministeriums der Bundesrepublik an die Regierung der DDR, miteinander ‚über die Vereinigung‘ zu verhandeln. Die Voraussetzungen der Zweistaatlichkeit, ‚Jalta und die Stärke der Sowjetunion‘, seien entfallen.“

An der entsprechenden Beratung in Ost-Berlin mit Vertretern des BRD-Außenministeriums nahm laut Lieberam unter anderem der 1991 verstorbene Rechtswissenschaftler Karl-Heinz Röder vom Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR teil. Er habe dem Autor am 15. September 1989 auf einer Konferenz davon Konferenz berichtet. „Wir beglückwünschten ihn dafür, dass er und die anderen DDR-Teilnehmer das Verhandlungsangebot abgelehnt hatten.“

Westen half beim Untergang

Lieberam betonte gegenüber Sputnik, dass es damals noch nicht um den später erfolgten Anschluss gegangen sei. Immerhin habe die Bundesregierung im September 1989 noch mit der DDR-Partei- und Staatsführung unter Erich Honecker verhandeln wollen. Aber der Kurs war damals schon klar, die Zeichen standen „auf Annexion“, schrieb Lieberam in der „jW“.

Die Begründung für das Verhandlungsangebot zeigt: Für den Westen war zu dem Zeitpunkt bereits klar, dem „Ostblock“ ging die Puste aus. Alles was dieser damals noch tat, ob ungarische Reformen oder starrsinniges „Weiter so“ in der DDR, war nur noch Rückzugsgefecht bzw. der sprichwörtliche Strohhalm, an den sich Untergehende klammern. Dazu gehört die am 10. September 1989 geöffnete Grenze Ungarns zu Österreich und das von Ost-Berlin abgelehnte Angebot aus Bonn.  Am Ende verschwand der reale Staatssozialismus und mit ihm auch seine führende Macht, die Sowjetunion.

Der Westen mit seiner Führungsmacht USA brauchte bloß zuzugreifen und bestimmte die Bedingungen des Untergangs des bisherigen Gegners. Nachzulesen ist das unter anderem in dem Buch von Mária Huber „Moskau, 11. März 1985 – Die Auflösung des sowjetischen Imperiums“. Sie stellte darin 2002 fest:

„Die USA hatten ihren Führungsanspruch im Umgang mit der UdSSR auf der ganzen Front bekräftigt und in der Regel durchgesetzt.“

Das sei dem Prinzip gefolgt:

„Was auch immer Gorbatschow zwischen 1985 und 1991 im Interesse des Westens geleistet haben mochte, die aktuelle Politik der USA gegenüber der Sowjetunion könne nicht mit Moskaus früheren Verdiensten begründet werden.“

Lesetipps:

Andreas Oplatka: „Der erste Riss in der Mauer. September 1989 – Ungarn öffnet die Grenze“
Zsolnay Verlag, Wien 2009. 304. Seiten. ISBN 978-3-552-05459-2. 21,50 Euro

Stefan Karner, Philipp Lesiak (Hg.): „Der erste Stein aus der Berliner Mauer. Das paneuropäische Picknick 1989“ 
Verlag Leykam, Graz-Wien 2019. 276 Seiten. ISBN 978-3-7011-0414-7. 24,90 Euro