Warum DDR-Botschaftsflüchtlinge 1989 ausreisen durften und wer dafür sorgte

Dramatische Situationen haben sich im Sommer 1989 in den BRD-Botschaften in Warschau, Prag und Budapest, aber auch in Ost-Berlin abgespielt. Bis zu mehreren Tausende DDR-Bürger haben damals versucht, über die Botschaften auszureisen. Eine Veranstaltung in Berlin hat am Mittwoch daran erinnert und Hintergründe und Zusammenhänge deutlich gemacht.

Die DDR-Führung hat 1989 beim Umgang mit der Fluchtwelle in BRD-Botschaften in Warschau, Prag und Budapest fast alles falsch gemacht. Sie hat dabei ihre Lage noch verschlechtert: Mit ihrer Forderung, dass die Züge ab Ende September mit den ausreisewilligen DDR-Bürger über das eigene Territorium in die BRD fahren müssen. Das hat am Mittwoch eine Veranstaltung in Berlin über die sogenannten Botschaftsflüchtlinge 1989 gezeigt.

In dieser sagte Jürgen Sudhoff, Ex-Staatssekretär vom bundesdeutschen Auswärtigen Amt, die Bundesregierung habe damals vermeiden wollen, dass die Züge über DDR-Gebiet fahren. Und die Botschaftsbesetzer in Warschau sollten ursprünglich per Schiff in die BRD gebracht werden. Doch die DDR-Führung habe trotzig darauf bestanden, die Ausreise-Strecke zu bestimmen – und damit die Fluchtwelle und die Proteste im eigenen Land noch verstärkt. „Diese Zugreisen waren mitauslösend für das, was sich im Oktober 1989 in der DDR abgespielt hat“, so der Ex-Diplomat.

Im ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in der Berliner Frankfurter Allee berichteten Sudhoff und Peter-Christian Bürger über das, was sie damals selbst erlebten. Bürger war im Juni 1989 einer der ersten DDR-Bürger, die in die BRD-Botschaft in Prag kamen und in die Bundesrepublik ausreisen wollten. Sudhoff war der Vertreter des BRD-Außenministeriums, der vor 30 Jahren versuchte, in Verhandlungen mit den Regierungen der DDR, der ČSSR, Polens und Ungarn die Probleme zu lösen.

Falsche DDR-Vorschläge

Die beiden sprachen gemeinsam mit dem Historiker Martin Stief von der „Stasi-Unterlagen-Behörde“ (BStU) und dem Filmemacher Ralf Kukula sowie Moderatorin Jacqueline Boysen über den „Weg in die Freiheit“. Der führte 1989 für viele Tausende DDR-Bürger nur noch über die BRD-Botschaften in Warschau, Prag und Budapest, aber auch in Ost-Berlin. Dabei kamen interessante Aspekte der Ereignisse vor 30 Jahren zutage, die damals den Untergang der DDR beschleunigten und zur übereilten Grenzöffnung am 9. November 1989 beitrugen.

Ex-Staatssekretär Sudhoff berichtete, dass Druck aus Moskau, vom damaligen KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow, die DDR-Führung erst dazu gebracht habe, die Botschaftsbesetzer in die BRD ausreisen zu lassen. Zuvor hätten die beiden Rechtsanwälte Wolfgang Vogel und Gregor Gysi unter anderem im Prag noch irrigerweise versucht, die inzwischen Tausende DDR-Bürger in der BRD-Botschaft zu überreden, zurückzukehren.

Sie sollten dann in der DDR einen regulären Ausreiseantrag stellen. Der werde dann innerhalb von sechs Monaten „wohlwollend“ geprüft, hätten Vogel und Gysi erklärt, berichteten Sudhoff und Botschaftsbesetzer Bürger übereinstimmend.

Hilfe durch Medien und Moskau

Der Ex-Staatssekretär erzählte, was er nach seinem Besuch am 26. September 1989 in der besetzten Botschaft in Prag gemacht habe. Dort hatte er nach seinen Worten den Auftritt von Vogel und Gysi miterlebt. Zuvor habe er ergebnislose Gespräche mit der ČSSR-Regierung geführt, um die Probleme zu lösen. Zu dem Zeitpunkt campierten inzwischen mehr als 5.000 DDR-Bürger in der BRD-Botschaft und auf deren Gelände.

„Ich bin nach Bonn zurückgefahren und habe zwei Dinge gemacht. Als ehemaliger Regierungssprecher kannte ich die ausländische Presse in Deutschland. Ich habe die Bonner Korrespondenten der ausländischen Medien angerufen und habe gesagt: ‚Fahrt nach Prag und filmt, was da am Zaun der deutschen Botschaft los ist, wie die Menschen versuchen, in die Freiheit zu klettern. Da könnt Ihr Bilder filmen, die seht Ihr nie wieder.‘“

Als Zweites habe er Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher angerufen, der damals zur Uno-Vollversammlung in New York weilte. „Ich habe ihm berichtet, was ich gesehen habe und was die tschechoslowakische Regierung mir gesagt hat, dass da überhaupt nicht irgendeine Bewegung in Richtung auf eine ‚ungarische Lösung‘ zu erwarten war. Die sagten immer: ,Klärt das mit der DDR, wir haben damit nichts zu tun.‘“ Er habe Genscher die Lage der Menschen in der Botschaft geschildert.

DDR bestimmte Zugrouten

Der Bundesaußenminister habe am selben Abend noch den sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse aufgesucht, der ebenfalls in New York war. Genscher habe seinem Amtskollegen aus Moskau alles erzählt, samt der von Sudhoff berichteten Dramatik der Lage. „Schewardnadse hat dann in der Nacht Gorbatschow angerufen und ihm geschildert, was in der Botschaft in Prag los war, die menschliche Lage dort.“

Zwei Tage späte habe sich der Ständige Vertreter der DDR in der BRD, Horst Neubauer, im Auswärtigen Amt gemeldet. Das vom DDR-Vertreter gewünschte Gespräch sei dann im Bundeskanzleramt gemeinsam mit Bundeskanzler Helmut Kohl und Genscher erfolgt.

„Wir haben damals versucht, der DDR klar zu machen: ‚Die beste Lösung ist, Ihr lasst die Leute mit dem Zug ausreisen und zwar direkt von Prag nach Westdeutschland. Die DDR in ihrer Status-Dusseligkeit hat das abgelehnt. Die Schiffsreise für die Flüchtlinge in Warschau haben wir nicht erreicht. Dann kam es zu diesen Zugreisen aus Prag über Dresden nach Westdeutschland und aus Warschau über Marienborn nach Helmstedt. Wo die Menschen in der DDR sahen, was passiert war: Die Ausreise der Flüchtlinge aus Prag und Warschau.“

Keine Geldzahlungen für Flüchtlinge

Sudhoff meint rückblickend, diese Zugfahrten und die Ereignisse am Dresdner Bahnhof am 4. Oktober 1989 haben „ganz entscheidend dazu beigetragen, das Regime zu unterminieren, und beigetragen zu dem Mut, der dann im Oktober bei den Montagsdemonstrationen notwendig war“. Auf eine Nachfrage aus dem Publikum sagte der Ex-Staatssekretär, es habe keine Zahlungen der BRD an die DDR für diese Ausreise der Botschaftsbesetzer gegeben.

„Das war der Druck von Gorbatschow, nach dem Anruf von Schewardnadse. Deshalb ist ja der Neubauer am Samstagmorgen bei mir erschienen. Das hatte mit Geld nichts mehr zu tun. Das war wirklich eine humanitäre Entscheidung.“

Der Ex-Staatssekretär erinnerte sich sichtlich bewegt an die Geschehnisse von vor 30 Jahren. Er fuhr in einigen der Züge mit den Botschaftsbesetzern aus der DDR in die Bundesrepublik mit. Er schilderte die unmöglichen Bedingungen wie nicht funktionierenden Toiletten und kaputten fenstern in der Waggons der Deutschen Reichsbahn (DR) der DDR. Und er schilderte die Stimmung und Reaktionen der Flüchtlinge bei den Stopps auf DDR-Gebiet. Er habe als offizieller Vertreter der Bundesregierung versucht, den Menschen zu zeugen, dass sie sicher sind und nichts zu befürchten haben.

Gründe für die Flucht

„Trotzdem war es für mich die schrecklichste Zugfahrt meines ganzen Lebens“, erinnerte sich Zeitzeuge Bürger bei der Veranstaltung. Er saß  in dem ersten Zug, der am 30. September aus Prag in Richtung BRD fuhr. „Diese Gefühle, die ich in diesen Stunden hatte, die kann kein Hitchcock nachfilmen. Das geht nicht.“

Zuvor hatte er berichtet, wie er im Juni 1989 den Weg über die grüne Grenze zwischen DDR und ČSSR nahm, um in die BRD-Botschaft in Prag zu gelangen. Zuvor hatte er bereits wegen eines verratenen  Fluchtversuches 1986 im Zuchthaus Cottbus gesessen. Durch die Amnestie 1987 sei er freigekommen, aber zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden und streng im Alltag kontrolliert worden.

Er habe wie viele andere die DDR verlassen wollen, weil ihm in dem Land „absolut die Selbstbestimmtheit gefehlt“ habe. Das im politischen Sinn „eingeschnürte Leben“ in der DDR habe er als kritischer Mensch, der schon immer alles hinterfragt habe – „das ist auch heute noch so“ –, auf Dauer nicht ertragen.

„Kritisches Nachfragen führte dazu, dass man bei den politischen Entscheidungsträgern suspekt war und ganz schnell auf die Seite der Leute gesetzt wurde, die Systemgegner waren.“

Erlösung durch Genscher

Er habe im Frühjahr in den TV-Nachrichten von den ersten DDR-Bürgern in der bundesdeutschen Botschaft in Prag gehört, die dort ihre Ausreise erzwingen wollten. Das sei für ihn, der nach seiner vorzeitigen Freilassung infolge der Amnestie 1987 immer noch flüchten wollte, wie „wie ein Blitzschlag“ gewesen. Danach habe er bei allen Schwierigkeiten als offiziell Vorbestrafter mit Bewährungsauflagen, darunter ohne richtigen Personalausweis, die Reise nach Prag vorbereitet und angetreten.

Bürger war etwa dreieinhalb Monate in der BRD-Botschaft in Prag und half am Ende mit, die zahlreichen Neuankömmlinge dort unterzubringen und zu versorgen. Er stand hinter Außenminister Genscher als der am 30. September auf dem Balkon des Palais Lobkowicz, der Botschaft, den zu Tausenden dort wartenden DDR-Bürgern erklärte, „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise möglich geworden ist.“ Die letzten Worte gingen damals im Jubel der Botschaftsbesetzer unter.

Sudhoff und Bürger sind sich damals begegnet und kennen sich bis heute. BStU-Historiker Stief sagte, der Fall Bürgers sei ein extremes Beispiel. Das MfS habe nur bis zu 13 Prozent derjenigen, die einen Ausreiseantrag aus der DDR stellten, mit seinen Mitteln „bearbeitet“. Aber auch wem das nicht geschah, habe allein durch die Bürokratie und persönliche Konsequenzen erlebt, dass die DDR-Spitze die Ausreise möglichst verhindern wollte.

Was das MfS berichtete und wusste

Stief erklärte, dass in den ersten drei Monaten des Jahres 1989 die Zahl der Ausreiseanträge von DDR-Bürgern anstieg. Bis zum Sommer des Jahres seien es rund 160.000 Anträge gewesen. Dazu habe die Ankündigung Ungarns im Frühjahr vor 30 Jahren, die Grenzanlagen zu Österreich abbauen zu wollen, beigetragen. Das MfS habe interessanterweise im ersten Halbjahr 1989 in ihren Berichten an die SED-Führung „fast nichts“ über die Flucht- und Ausreisebewegung weitergegeben.

„Das ändert sich ganz radikal im September. Im Juli gibt es einen ganz spannenden Aspekt: Die Staatssicherheit vermutet Anfang Juli, dass sie im August/September ein großes Problem bei Ausreiseantragsstellern bekommen würden, weil die Bearbeitungsfrist eines Antrages sechs Monate dauerte. Sie wussten schon, dass sie Absagen rausschmeißen werden und das die Leute dann ‚in nichtsozialistische Einrichtungen‘ flüchten werden – das steht wirklich so drin.“

Aber die tatsächlich eintretenden Botschaftsbesetzungen seien dann nicht in diesen MfS-Berichten an die Parteiführung weitergegeben. Stief vermutet andere Kanäle für die Informationen über das Geschehen. Zuletzt habe das MfS seine Berichte überhaupt nicht mehr geschönt und die zunehmend krisenhafte Lage klar beschrieben, so der Historiker. Doch die Führung der SED noch unter Erich Honecker und später unter Egon Krenz reagierte nach alten Mustern – und beförderte so den Untergang des eigenen Landes.

Dankbarkeit und Scham

Der führte zur deutschen Einheit 1990, die für den Ex-Staatssekretär Sudhoff ein „Geschenk der Geschichte“ ist. Das werde 30 Jahre später zu wenig gewürdigt: „Ich bin tief betroffen, dass so viele Menschen in unserem Land nicht anerkennen wollen, dass dies eine großartige Chance der Geschichte gewesen ist.“ Er wünsche sich „ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit“, statt zu hinterfragen, was alles falsch gelaufen sei.

Das sieht auch Zeitzeuge und Ex-Botschaftsflüchtling Bürger so. Wie er heute denkt, zeigte er, als er aus einem Brief der BRD-Botschaft in Damaskus vom 19. September 1989 an das Auswärtige Amt vorlas. Darin ging es um eine Spende eines syrischen Bürgers für die aus der DDR-Flüchtenden in den BRD-Botschaften. Die Spende in Höhe von 2.000 syrischen Pfund seien mehr als der damalige Durchschnittsmonatsverdienst eines Syrers gewesen.

Bürger sagte dazu:

„1989 spendet ein Syrer für völlig fremde DDR-Flüchtende. 2015 schickt er vielleicht seinen Sohn oder Enkel auf die Flucht vor diesem Krieg da unten. Und der kommt hier an in Deutschland und muss hier miterleben, wie manche, teilweise viele, gegen solche Flüchtlinge hetzen und sie rausschmeißen wollen – dafür schäme ich mich zutiefst.“