Experte warnt: Westen gefährdet mit Kriegs- und Rüstungspolitik die eigene Existenz

Der völkerrechtswidrige Interventionismus des Westens führt zu dessen Selbstdemontage. Davor warnt August Pradetto, ehemaliger Professor an der Universität der Bundeswehr Hamburg. Er kritisiert: Der Westen hat seit Ende des Kalten Krieges Interventionismus und Völkerrechtsbruch „zu gängigen Praktiken in der Außenpolitik“ werden lassen.

Das schreibt Pradetto in seinem Beitrag „Der Krieg finanziert den Krieg“ in der aktuellen April-Ausgabe der Zeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“. Darin stellt er fest: Die westliche Außenpolitik sei seit dem Ende der Systemkonfrontation darauf ausgerichtet gewesen, die Welt neuzuordnen – ausgerichtet an den eigenen Interessen und angeblichen Werten. Diese „transformatorische Außenpolitik“ sei von “einer Negation grundlegender völkerrechtlicher Prinzipien gekennzeichnet“, so Pradetto.

„Die Souveränität von Staaten, das Verbot der Unterstützung von Gewaltgruppen in anderen Ländern und von Waffenlieferungen in Krisengebiete wurden massiv verletzt. In ‚Koalitionen der Willigen‘ wurde eine Vielzahl von Akteuren solcherart sozialisiert. Auf diese Weise sind Interventionismus und Völkerrechtsbruch zu gängigen Praktiken in der Außenpolitik geworden.“

Die Politik habe „zur Selbstdemontage des Westen“ geführt, so der emeritierte Bundeswehr-Politikwissenschaftler. Verantwortlich dafür sei die Politik der führenden Kräfte innerhalb der Nato „an erster Stelle die USA, dann Großbritannien und Frankreich, die sich besonders hohe Militärausgaben leisten“. Diese würden nicht erst seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten explodieren. 2016 seien „weltweit ungeheure 1700 Mrd. US-Dollar für Militär ausgegeben“ worden. Auf die Nato-Mitglieder würden mit 900 Milliarden Dollar allein mehr als die Hälfte dieser Summe entfallen.

„Addiert man die Ausgaben sonstiger Verbündeter und Freunde wie Israel, Australien, Südkorea, Japan und einige andere hinzu, entfallen auf ‚den Westen‘ etwa drei Viertel der weltweiten Rüstungsausgaben.“

Statt „Friedensdividende“ immer mehr Kriege  und Interventionen

Das „Sicherheitsunternehmen Nato“ habe in den in den letzten zwei Jahrzehnten etwa 15 Billionen US-Dollar für militärische Zwecke ausgegeben. Das aktuelle Ergebnis: „Noch nie seit dem Ende des Kalten Krieges gab es so viele bewaffnete Konflikte und so viel externe Einmischung.“ Pradetto stellt fest: „Die Diskrepanz zwischen Aufwand und Ertrag ist damit höchst deprimierend.“ Nach den Hoffnungen zu Beginn der 1990er Jahren auf eine weltweite friedliche Entwicklung und Rüstungsabbau seit heute das Gegenteil festzustellen. Aus der damals erhofften und möglichen „Friedensdividende“ sei nichts geworden.

Stattdessen sehe es heute so aus:

„25 Jahre später erleben wir ein Krisenszenario, das seinesgleichen sucht: Kriege und Bürgerkriege in der unmittelbaren Nachbarschaft, Nordafrika und der Nahe Osten im Chaos, eine Unzahl an failed states und ein Millionenstrom an Flüchtlingen. Hinzu kommen zentrifugale Kräfte und implodierende Tendenzen in der EU, die in der tiefsten System- und Kohärenzkrise seit ihrer Gründung steckt, sowohl was die Wertegrundlagen ihrer Mitglieder betrifft als auch den Zusammenhalt in wirtschafts-, außen- und sicherheitspolitischen Fragen.“

Statt der möglichen Abrüstung der Nato sei es spätestens um die Jahrtausendwende zu einem massiven Anstieg der Rüstungsausgaben gekommen. Zu den Ursachen zählt der Experte unter anderem: „die Ausrichtung der Nato auf Einsätze außerhalb des Bündnisgebietes, außerhalb der Verteidigungsfunktion und außerhalb des UN-Rahmens“, die Entwicklung hin zu Interventionen mit humanitären, wirtschaftlichen oder strategischen Begründungen, die Osterweiterung der Nato, die Orientierung auf einen globalen „war on terror“ nach den Anschlägen von 9/11, Kriege und Militäreinsätze wie in Somalia, Afghanistan, Irak sowie die neue antirussische Konfrontationspolitik.

Trumps aktuelle Forderungen nach mehr Rüstungsausgaben der Nato-Mitglieder würden dem Trend seit den frühen 2000er Jahren folgen: dem „self-defeating military spending“, der sogenannten Selbst-Rechtfertigung der Militärausgaben. Das bedeute:

„Die negativen Folgen von Interventionen, so die Erfahrung, setzen eine nach oben weisende Spirale von Verteidigungsausgaben in Gang.“

Die westlichen Kriege und Militäreinsätze hätten nicht zur angeblich gewünschten Ordnung geführt, sondern „im Gegenteil zu Konfliktverschärfung und Chaos.“ Sie hätten genau jene Erscheinungen eskalieren lassen, „mit denen sie begründet worden waren: Hass, ideologische Radikalisierung, gewalttätiger Extremismus, grenzüberschreitender Terror, expandierende Gewalträume und failed states“.

Westen führt Krieg gegen die Folgen der eigenen Politik

So habe die westliche „Verteidigungs- und Sicherheitspolitik“ heute mit den eigenen Folgen zu kämpfen:

„Der Islamische Staat breitete sich am stärksten in jenen Ländern aus, deren staatliche und gesellschaftliche Ordnung durch Interventionen zerstört wurden, und das mit spill-over-Effekten: vom Irak nach Syrien und Libyen. Eine andere Folge ist eine Flüchtlings- und Migrationsbewegung, wie es sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gegeben hat.“

Pradetto sieht in der Folge ein „Scheitern des Westens“ und warnt vor dessen Selbstdemontage. 

„Die Bedrohungen für Europa liegen heute vorrangig nicht in äußeren Faktoren, sondern in Akteuren, die von innen her die Grundlagen liberaler Demokratie und der Europäischen Union unterminieren.“

Er verweist darauf, dass „selbst die terroristischen Anschläge zum allergrößten Teil“ vom „home grown terrorism“, vom hausgemachten Terrorismus, verübt werden. Das sieht er nicht einmal als „die Hauptgefahr“. Diese besteht für ihn darin: „die zunehmende Spaltung der Gesellschaften in Gewinner und (reale oder in ihrer Wahrnehmung) Verlierer der Neoliberalisierung und Globalisierung“. Dagegen sei eine „integrative Strategie“ notwendig.  

Rückkehr zu den Normen des Völkerrechts statt weiter Aufrüstung

Sicherheit, Freiheit und Wohlstand Europas hängen aus Sicht des ehemaligen Bundeswehr-Professors „von einer stabilen und produktiven Entwicklung in und von guten Beziehungen mit den geostrategischen Nachbarn ab“. Er fordert die „dezidierte Rückbesinnung“ auf die Grundlagen friedlichen Zusammenlebens im Verhältnis zwischen Staaten und Gesellschaften: „Achtung von Souveränität, keine Unterstützung von Gewaltgruppen in anderen Ländern und keine Waffenlieferungen in Krisengebiete.“

Er warnt davor, dass eine weitere Aufrüstung der Nato vor dem Hintergrund von zwei Jahrzehnten Interventionismus das Sicherheitsdilemma für Dritte verschärfe, ohne Namen zu nennen. „Verschärfte Rüstungsanstrengungen seitens anderer Akteure sind die zwangsläufige Folge.“ Pradetto will, dass das westliche Militärbündnis sich wieder „auf Verteidigung und friedensunterstützende Aufgaben” ausrichten solle.

Sicher muss der Autor sich fragen lassen, wie realistisch seine Vorschläge gerade angesichts der von ihm beschriebenen Entwicklung seit 1990 sind. Die Frage, ob die von ihm kritisierte Politik mit ihren Folgen nicht sogar so  gewollt ist, weil sie die Profite der Rüstungskonzerne sichert, lässt er leider aus. Sein Beitrag kann zumindest die Debatte um eine Rückkehr zur Vernunft in den internationalen Beziehungen und zu den bewährten Standards des Völkerrechts beleben und befördern.