Den wachsenden Unmut in der DDR 1989 hat Heinz Bilan auch in der Nationalen Volksarmee (NVA) und selbst in der SED, der führenden Partei, erlebt. Der ehemalige General und Polit-Offizier der DDR-Militärakademie in Dresden hat darüber mit Sputnik gesprochen. Dabei hat er unter anderem berichtet, was er im Oktober 1989 in Dresden erlebt hat.
Die Ereignisse 1989 in der DDR lassen sich nicht ohne die Entwicklung zuvor verstehen. Wer das nicht mit in den Blick nimmt, bleibt nur auf der Oberfläche. So sieht es Heinz Bilan, als Generalmajor zuletzt stellvertretender Chef der Militärakademie „Friedrich Engels“ der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR in Dresden, zuständig für politische Arbeit und damit Vertreter der Sozialistischen Einheitspartei (SED).
Die Situation von 1989 sei über die Jahre zuvor herangereift, stellte der heute 88-jährige Ex-Offizier im Gespräch mit Sputnik fest. Es sei aber lange nicht klar gewesen, wie tief der Bedarf nach Veränderung in der Gesellschaft gewesen sei. Es seien revolutionäre Bedingungen entstanden: „1989 wollte das Volk nicht mehr so wie das Politbüro im Olymp in Berlin. Leider war unsere Parteiführung sehr abgehoben und wenig mit dem Volk verbunden.“
Realitätsferne Sichten
Die allgegenwärtige SED habe nicht richtig über die Lage im Land informiert, so der einstige Polit-Offizier im Rückblick. Zugleich habe die Parteiführung die ausführlicheren Informationen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) über die realen Zustände nicht wahrhaben wollen. Bilan erinnerte sich, dass zu Beginn des Jahres 1989 die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung deutlich zu spüren war. Das habe selbst für die Militärakademie gegolten.
Deren Politstellvertreter war gleichzeitig Mitglied der SED-Bezirksleitung Dresden unter Hans Modrow. Auch so erfuhr Bilan mehr über die tatsächliche Lage, wie er sagte. Er habe regelmäßig in der Politischen Hauptverwaltung der NVA über das Stimmungsbild berichten müssen. Doch meistens sei als Antwort gekommen: „Hast Du denn nicht Honecker gelesen? Oder: Liest Du nicht das Neue Deutschland?“
„Es gab kein Gehör bei den Genossen zwischen uns und dem Politbüro“, stellte er rückblickend fest. Und erinnerte sich an einen Fall, bei dem er „aus der Haut gefahren“ sei. Er habe seinem Gegenüber gesagt: „Mich interessiert nicht, was Honecker gesagt hat. Mich interessiert, wie sich die Lage ändert und wann der Herrmann mit seinen Siegesmeldungen aufhört, die fern aller Realität sind.“ Er sei mit seinem Ärger nicht der Einzige gewesen, wie ihm Äußerungen anderer Offiziere und Soldaten gezeigt hätten.
Unterschiedliche Stimmungen
Er habe deshalb bereits vor 1989 eine Auseinandersetzung mit dem damaligen Chef der Politischen Hauptverwaltung der NVA, Generaloberst Heinz Keßler, gehabt, berichtete Bilan. Die Stimmung sei immer schwieriger geworden. „Den großen Anstoß gaben die Wahlen im Mai 1989. Als Egon Krenz das Ergebnis der Kommunalwahlen öffentlich bekanntgab, gab es ein großes Rumoren, auch in der NVA.“
Es habe Unterschiede in der Stimmungslage unter den Soldaten und der unter den Offizieren gegeben, erklärte der Ex-General. „Der Soldat hat wie der Arbeiter im Betrieb nichts zu verlieren. Der Offizier hatte was zu verlieren. Wenn der Offizier eine andere Meinung hatte, dann hat er sie geäußert. Wenn er eine konträre Meinung hatte, hat er sich zurückgehalten. Das ist aber nicht typisch NVA, das ist sicher in allen Streitkräften dieser Welt so.“
Diese Unterschiede seien aber an der Militärakademie nicht so deutlich spürbar gewesen, dafür aber in der NVA selbst umso deutlicher. Er habe das durch seine Amtskollegen aus den Teilstreitkräften der Armee mitbekommen. Diese hätten bei gemeinsamen Beratungen mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg gehalten. „Nur eins war klar: Es rumorte in allen Dienstgrad-Gruppen und in allen Dienststellungen. Es gab auch genügend leitende Offiziere, die Unzufriedenheit mit den Antworten geäußert haben.“
Kritische SED-Funktionäre
Polit-Offiziere wie er hätten sich in einem Dilemma befunden, erinnerte sich Bilan. „Ich musste, wenn ich in Strausberg beim Verteidigungsministerium war und dann wieder nach Dresden kam, die Meinung der Politischen Hauptverwaltung und des Zentralkomitees der SED vertreten. Das war mein Beruf. Ich habe versucht, das nie gegen mein Gewissen zu tun. Ob mir das gelungen ist, müssen andere beurteilen. Und umgekehrt, wenn ich nach oben kam, musste ich die Meinung meiner Akademie vertreten, denn dafür war ich dort der Partei-Funktionär. In diesem Spannungsfeld habe ich ständig gelebt.“
In der SED-Bezirksleitung Dresden sei es viel kritischer zugegangen, so der Ex-General. Das sei auch Modrow als damaligen 1. Sekretär zu verdanken gewesen. Dieser habe zugelassen, dass Unzufriedenheit geäußert wurde. Bilan hat nach seinen Worten durch seine Tätigkeit fast alle 1. SED-Bezirkssekretäre erlebt, erst im Norden, dann im Süden der DDR. Bei Modrow habe es die am meisten offene Atmosphäre gegeben.
Als im September 1989 die ersten Demonstrationen begannen, sei es innerhalb der Partei zu großen Auseinandersetzungen gekommen. Er habe bei den Bezirksleitungssitzungen der SED neben Dresdens Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer gesessen. Dieser habe damals seinen Genossen erklärt, es sei nun Zeit, den Rückzug anzutreten: „Da ging ein Aufschrei in der Bezirksleitung los – und es stellte sich raus, dass der Mann Recht hatte.“ Was Berghofer später daraus machte, sei eine andere Sache.
Zunehmender Stillstand
Die Stimmung im Raum Dresden, dem „Tal der Ahnungslosen“, sei sehr aufgeheizt gewesen, so Bilan rückblickend. Das hätten auch die Lehrkräfte der Militärakademie zu spüren bekommen, die zum Teil in der Öffentlichkeit angefeindet worden seien. Manche von ihnen seien daraufhin nur noch in Zivil zum Dienst erschienen. Sie hätten ihn als Polit-Offizier nach dem Warum gefragt. Aber: „Auf vieles davon wusste ich keine Antwort.“
Ihm habe SED-Bezirkschef Modrow, mit direkten Kontakten bis zum damaligen SED-Generalsekretär Erich Honecker, auf seine Fragen dazu erklärt: „Sie wollen mich nicht immer hören.“ Die eigene Partei wie auch die anderen kommunistischen Parteien hätten eine große Schwäche gehabt: „Wir haben sehr oft Karl Marx zitiert, Friedrich Engels, Lenin – nur gemacht haben wir es nicht.“
Die innere Situation der DDR war in den 1980er Jahren von Stagnation und zunehmenden ungelösten Problemen gekennzeichnet. Externe Kräfte, ob westliche Medien oder auch Geheimdienste, brauchten die wachsende Unzufriedenheit der DDR-Bürger nur aufgreifen. Das geschah vor allem durch die bundesdeutschen Medien, die wie ein Verstärker der Stimmung in der DDR wirkten.
Berechtigte Forderungen
Allerdings war gerade in den sächsischen Bezirken Karl-Marx-Stadt und Dresden der Empfang der BRD-Sender eher schlecht, so dass sie im Volksmund als „Tal der Ahnungslosen“ bezeichnet wurden. Gleichzeitig zeigte sich hier im Herbst 1989 die Unzufriedenheit am deutlichsten, so dass nicht die westliche Propaganda als entscheidender Faktor angesehen werden kann.
Bilan sagte dazu, dass die Demonstranten auf den Straßen in Leipzig und anderswo lange Zeit einen reformierten Sozialismus gewollt hätten. Davon habe die Losung „Wir sind das Volk!“ gekündet: „So lange war es eine friedliche ‚Revolution‘.“ Die Menschen wollten anders behandelt werden, schätzte der Ex-Polit-Offizier ein – „wir sind der Souverän, nicht Ihr oben in Berlin!“
Das sei nach der Maueröffnung am 9. November 1989 gekippt, nachdem „Tausende Emissäre des Westens in Dresden“ und anderswo in der DDR auftauchten, so Bilan. Ab dem Zeitpunkt sei gezielt Einfluss aus der Bundesrepublik auf die Situation der DDR genommen worden. „Da wurde die berechtigte Forderungen nach Reformen in der DDR zu konterrevolutionären Forderung ‚Heim ins Reich!‘, ‚Wir sind EIN Volk‘.“ Allerdings sei das angesichts der trotz der rund 40-jährigen deutsch-deutschen Teilung bestehenden Verbindungen in beiden Ländern weniger verwunderlich.
Verschlafene Reaktionen
Die DDR habe aber nie diese Verbindungen kappen wollen, so der Ex-Militär. Er verwies dabei darauf, dass selbst das SED-Zentralorgan bis zuletzt „Neues Deutschland“ hieß – „und nicht ‚Neue DDR‘“. Die SED habe den Wunsch nach einem geeinten Deutschland nie aufgegeben, wenn auch mit anderen politischen Bedingungen. Darauf habe sich die DDR auch vorbereitet. „Wir haben zu wenig darauf geachtet, dass sich der Gegner darauf vorbereitet hat, uns zu übernehmen“, fügte Bilan hinzu. Davon zeuge, was ab 1990 bei der Übernahme und der Zerstörung der DDR-Wirtschaft geschah.
Am 19. Dezember 1989 kam der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl nach Dresden und hielt vor Tausenden an der Ruine der Frauenkirche eine mit „Helmut, Helmut“-Rufen bejubelte Rede. Bilan hat nach seiner Auskunft damals Modrow und andere SED-Funktionäre gefragt, warum die 70.000 Parteimitglieder der Stadt da nicht für eine Gegendemonstration mobilisiert wurden, wie er berichtete. Das sei zwar noch geschehen, aber viel zu spät, „da war nichts mehr zu retten“.
„Wir haben viel über die Einwirkung des Gegners und ideologische Diversion geredet, Lektionen und Vorträge darüber gehalten.“ Doch als es Realität wurde, sei die Theorie nicht praktisch angewendet worden. Schuld an dem Versagen trage nicht das MfS, sondern die SED, „die dort geschlafen hat“, so Bilan.
Ungewöhnliche Aufgabe
Der ehemalige Polit-Stellvertreter der DDR-Militärakademie sprach auch über die Ereignisse am 4. Oktober 1989. An diesem Tag wurden die Züge mit den ausreisewilligen DDR-Bürgern, die die BRD-Botschaft in Prag gestürmt hatten, über Dresden in die Bundesrepublik geleitet. Um die dadurch entstandenen Unruhen am Hauptbahnhof der Stadt – zahlreiche Ausreisewillige wollten in die Züge kommen – unter Kontrolle zu bringen, wurden auch Angehörige der Militärakademie eingesetzt. Das hatte Modrow unter anderem gegenüber Sputnik bestätigt.
Der damalige SED-Bezirkschef habe darum gebeten, dass die NVA die Sicherheitsmaßnahmen unterstützt, erinnerte sich Bilan. Daraufhin sei der Chef der Akademie, Generalleutnant Manfred Gehmert, von der Parade-Probe in Berlin nach Dresden zurückbefohlen worden. Er sollte Kompanien aus NVA-Lehreinrichtungen im Bezirk zusammenstellen, die gemeinsam mit der Polizei eingesetzt werden sollten.
Er habe „mit großem Unverständnis darauf reagiert“, erinnerte sich Bilan an die „sehr ungewöhnliche Aufgabe“. „Das ist ja wie im zaristischen Russland, wo man auch Offiziers- und Kadettenkompanien eingesetzt hat“, habe er gesagt. Er habe sich wie andere dagegen ausgesprochen, dass die eingesetzten Militärs mit Pistolen ausgerüstet werden. Die Kompanien seien dann eingesetzt worden, aber nicht in der „ersten Reihe“, was mit Modrow abgesprochen worden sei.
Gezielte Provokationen
Die für Aufsehen sorgende Gewalt am Dresdner Hauptbahnhof ging von Provokateuren aus, so Bilan, der sich auch auf Erkenntnisse der Abwehr des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) berief. Die Sicherheitskräfte der Volkspolizei seien von den „geschickten Leuten aus allen Teilen der Republik, bzw. direkt aus dem Westen“, angegriffen worden. Das sei zum Teil mit Brand-Flaschen und Pflastersteinen geschehen. Die Polizeikräfte hätten sich aber nicht zu massiver Gegengewalt provozieren lassen und die Situation nach einigen Stunden unter Kontrolle gebracht.
Die Einheiten der Militärakademie seien in mehreren Fällen eingesetzt worden. „Die Durchfahrt der Züge durch Dresden war wohl ein ‚Meisterstück‘ der SED-Führung“, meinte Bilan lakonisch im Rückblick, „dümmer geht’s nimmer“. Das hätten er und viele andere damals schon so gesehen.
Teil 2 des Berichtes über das Gespräch mit General a.D. Heinz Bilan folgt am Sonntag. Darin geht es insbesondere um die Frage, warum die NVA nicht gegen die eigene Bevölkerung sowie gegen die Öffnung der Grenzen eingesetzt wurde.