Der Theologe und Pfarrer Friedrich Schorlemmer hat vor 1989 und danach ausgesprochen, was viele in der DDR bedrückte und dachten. Gegenüber Sputnik beschrieb er seine Sicht auf das untergegangene Land, was in drei Teilen nachzulesen ist. In Teil 3 vor allem um den 4. November 1989, die Maueröffnung fünf Tage später sowie das, was folgte.
Er sei gegen den Begriff „Mauerfall“, sagte Friedrich Schorlemmer im Gespräch mit Sputnik in Wittenberg. Es sei dagegen ein Mauer-Durchbruch bzw. eine mächtig-friedvolle Maueröffnung gewesen. Zugleich sagte er, der 4. November 1989 mit der großen Demonstration auf dem Alexanderplatz sei für ihn bedeutender als der 9. November desselben Jahres.
Der Grund sei einfach:
„Ich sah ein Volk, dass eine schreckliche Diktatur hinter sich hatte, das dann auferstanden war aus Ruinen und sich der Zukunft neu zugewandt hatte und die Lehren der Geschichte wirklich ziehen wollte, dass ein solches Volk trotz dieser SED, dieser Kaderpartei, sich auf den Weg machte, diese Gesellschaft zu erneuern.“
An dem Tag vor 30 Jahren habe er erfreut festgestellt, in die Gesichter der Demonstrierenden schauend, dass diese Menschen trotz des Nazi-Terrors Jahrzehnte zuvor und der verrotteten, verödeten Ideologie der SED so aufgeschlossen und wach sein konnten, klar denkend. „Mit denen wollte ich das Land aufbauen“, erinnerte sich der bürgerbewegte Theologe, „und nicht einen bloßen Anschluss an den erfolgreichen Westen“.
Maueröffnung als Rache der SED
Schorlemmer, Jahrgang 1944, ist Pfarrer und Theologe und war einer der Aktivisten der Bürgerbewegung in der DDR. Der Schriftsteller Walter Jens beschrieb ihn 1990 als einen „Mann zwischen den Fronten“: „Gestern als rebellischer Pfaffe, Anwalt der Wehrdienstverweigerer und entschiedener Gorbatschowist in die Büros der Staatssicherheit zitiert …, gestern als Christ des Dritten Wegs bespitzelt, geschurigelt, an den Pranger gestellt, wird Schorlemmer heute als Roter beargwöhnt.“ Das erlebe der bürgerbewegte Pfarrer, weil er die Idee eines libertären Sozialismus nicht aufgegeben habe.
„Zurückblickend muss ich sagen: Wenn man doch im Blick hatte, dass die D-Mark den Leuten mehr wert ist als die Freiheit, und das ausnutzt, dann führt das dazu, dass man den 9. November 1989 für den größeren Tag hält. Ich sage dennoch wieder als ein Bürger des 4. Novembers: Dies war ein revolutionär-emanzipatorischer Akt. Und ich sehe auch auf die, die am 9. November nachts noch zurückgekommen waren, um am nächsten Tag ihrer Arbeit nachzugehen, als Krankenschwester, als Schaffner oder als Gemüsehändler und so weiter.“
Als „Tag der unterbrochenen Revolution“ sieht Schorlemmer den Tag, an dem in Folge einer scheinbaren Nebenbemerkung des SED-Politbüromitgliedes Günter Schabowski die Mauer geöffnet wurde. Der SED-Funktionär habe nicht gewusst, was er sagte, glaubt der Theologe aus Wittenberg. Doch gleichzeitig sieht er die Maueröffnung als „Rache der SED, keinesfalls zuzulassen, dass andere das Land in die Freiheit führen können“.
Dennoch: 9. November 1989 als Glückstag
Dass das in der Nacht vom 9. November geschah, an diesem ambivalenten historischen Datum, sei „entweder ganz dumm oder ganz zynisch“ gewesen. „Für mich war das dumm und zynisch zugleich.“ Schabowski wollte als „der Befreier“ und „Maueröffner“ in die Geschichte eingehen und habe vielleicht geglaubt, innerhalb der SED würde er nun die erste Geige spielen, meinte Schorlemmer dazu.
„Ich war in der Nacht des 9. November gar nicht glücklich. Warum? Weil wir gerade dabei waren, mit den damaligen Herrschaften, die nicht legitimiert waren, auseinander zu setzen, indem wir uns in großen Sälen zusammensetzten und das Mikrofon für alle offen war. Die Leute gingen an das Mikrofon. Und weil die Auseinandersetzung so verlief, dass sie zivilisiert verlief.“
Bei aller Kritik an den Folgen findet Schorlemmer heute: „Wir hatten wahnsinniges Glück, dass es diesen 9. November 1989 gab.“ Wenn er einen Wunsch frei gehabt hätte, hätte er ihn sich bloß drei Monate später gewünscht.
Wichtige Rolle von Hans Modrow
Er habe mitgestalten wollen, dass ein Land sich von einer Diktatur löste und sich zivilisiert umwandelte. „Und ich fand so viele Leute, mit denen ich das gern gemacht hätte.“ Das habe auch jene eingeschlossen, mit denen er vorher „größere Differenzen“ gehabt habe. Dazu zählt für Schorlemmer unter anderem der einstige SED- und spätere PDS-„Vordenker“ André Brie. Diesen habe er bereits zuvor wegen seiner veröffentlichten Aphorismen und seiner Debatten mit Schauspielern und Dramaturgen von Theatern geachtet.
Hans Modrow sei eine Integrationsfigur gewesen, so der Theologe. Modrow war als vorheriger SED-Chef im Bezirk Dresden am 8. November 1989 zum vorletzten DDR-Ministerpräsidenten ernannt worden, weil er als „Reformer“ galt. Heute würden einige der einstigen DDR-Revolutionäre nicht wahrnehmen, „welche wichtige, befriedende Rolle und welche menschliche Autorität Modrow sowohl im Volk wie auch in der Partei hatte“.
Das sei das große Verdienst des vorletzten DDR-Regierungschefs, hob Schorlemmer im Gespräch hervor: „Ich finde, dass Modrow längst überfällig ist für das Bundesverdienstkreuz!“
Er habe vielen Menschen in der DDR, die 1989 den Boden unter ihren Füßen verloren, die Gewissheit gegeben, dass das Leben weitergeht, und: „Demokratie wird sein und keine Galgen.“ Der Theologe bedauerte, dass die Rolle des einstigen SED/PDS-Politikers, mit dem einst Bundeskanzler Helmut Kohl über die deutsche Einheit zuerst verhandelte, in der nun vergrößerten Bundesrepublik nicht mehr anerkannt wird.
Aufruf „Für unser Land“ als Betonklotz
Nachdem die Mauer geöffnet wurde, versuchten zahlreiche Intellektuelle die DDR zu retten, indem sie am 28. November 1989 den Aufruf „Für unser Land!“ veröffentlichten. Schorlemmer gehörte damals zu den Erstunterzeichnern, sah den Aufruf aber später eher kritisch. Das bestätigte er im Gespräch. Auf die Frage, ob das Papier „Rettungsanker“ war oder eher Betonklotz wurde, der die DDR in den Abgrund zog, antwortete der Mitautor mit letzterem. Dazu habe die Unterschrift des letzten SED-Generalsekretärs Egon Krenz beigetragen, was er damals als „Unverschämtheit“ empfunden habe.
Krenz habe wie andere aus der SED oder aus dem MfS, die ebenfalls unterschrieben, „nicht ein bisschen Sensibilität gehabt, dass das nicht ging“. Er selbst habe danach als Pfarrer in der Öffentlichkeit „Tränen, Verzweiflung und Wut“ erlebt, weil er das mitunterschrieben hatte. „Da die SED den Aufruf an sich nahm, war das erledigt.“
Andererseits finde er 30 Jahre später, dass das „Entweder-oder“ des Papiers, gegen das er damals war, berechtigt gewesen sei: „Weil ‚Deutsche Wohnen‘ jetzt darüber bestimmt, wer eine Wohnung bekommt und wer wo eine kriegt.“ Heute wäre das eingetreten, wovor der Aufruf vor 30 Jahren warnte: Dass die Konzerninteressen über allem stehen.
„Auch, dass wir einen Ausverkauf erleben werden, von dem jene ohne besondere eigene Leistung wussten: Das wird ein Schnäppchen! Dass viele der im Westen Großgewordenen das Land im Osten erobert haben.“
Stimmung im Osten als Reaktion auf westliche Ignoranz
Für Schorlemmer gehört das zu den Ursachen für die aktuelle Stimmung wie in Sachsen, wo rechten Gruppen wie Pegida Zulauf haben und die „Alternative für Deutschland“ (AfD) viele Wählerstimmen bekommt. Das sei ein Ausdruck für das ostdeutsches Gefühl, mit dem was gedacht und gemacht wurde und dem, wie gelebt und gedacht wurde, sowie der eigenen Lebensleistung in der Bundesrepublik nicht anerkannt zu werden: „Der Westen hat alles besetzt.“
Aus dem Westen seien durch die offenen Grenzen jene gekommen, die wussten wie es funktioniert – „und es kamen Begabte, Engagierte, ehrliche Helfer, und es kamen Schnäppchenjäger en masse, die vielfach bis heute in gehobenen Positionen geblieben sind“.
Die Art und Weise der deutschen Einheit sei im Konkreten durch viele Westdeutsche auf gehobenen Positionen bestimmt worden, betonte er: „Drittklassige Leute haben auch auf erstklassigen Plätzen in der Gesellschaft Platz genommen und sind davon nicht wieder weggewichen.“ Zu der heutigen Stimmung unter den Ostdeutschen habe beigetragen, dass sie in den letzten 30 Jahren oft als Bittsteller behandelt worden seien.
18. März 1990: „Tag der tiefen Ernüchterung“
Die Geheimdienste hätten gewusst, was die Deutschen in der großen Mehrheit wollten, ist sich Schorlemmer sicher. Die vielen Tausende, die beispielsweise in Leipzig im Herbst 1989 auf die Straße gingen, seien viele gewesen, aber im Vergleich zur Gesamtbevölkerung doch relativ wenige. Die anderen, die inaktiv blieben, hätten dann die Richtung bestimmt, wie sich bei der letzten DDR-Volkskammer-Wahl am 18. März 1990 gezeigt habe.
Dieser Tag sei für ihn der „Tag der tiefen Ernüchterung“ gewesen, gestand Schorlemmer ein. Er sagte aber ergänzend, es sei gut gewesen, „dass wir endlich mitbestimmen konnten. Dass viele sagten, wir wollen einen Pass und Geld haben, um uns über die Welt zu bewegen, kann ich doch keinem vorwerfen, der 40 Jahre eingesperrt war.“
Andererseits könne er niemand dafür verantwortlich machen, „wenn die Leute eben die Banane für wichtiger halten als die Freiheit“. Als Demokrat trete er zwar dagegen an, müsse aber akzeptieren, dass es jene gebe, „die ich nicht so mag und die mich nicht so mögen“.
Frühe Warnung vor Drift nach rechts
Für ihn ist enttäuschend, dass eine Reihe der Aktiven aus der DDR-Bürgerbewegung „in Rechtskonservative wegrutschten, bis hin zur AfD“. Allerdings hätten viele Menschen aus der DDR nach ihrem eigenen Vorteil gesehen und Politiker danach bewertet. Und: „Wer macht deutlich, dass wir Deutsche zuerst dran kommen?“
Der kritische Theologe warnte bereits 1990 vor einer drohenden Drift der gesellschaftlichen Stimmung nach rechts. Allerdings trage zu den aktuellen Belegen dafür bei, dass „der Anteil vom Plebs und Pöbel in jedem Volk auch seine Stunde hat“. Er hoffe, „dass diese Stunde bald vorbei ist, denn was da aus dem Bauch kommt, ist Vorvorgestriges“.
Es sei wichtig, dagegen historische Bildung zu betreiben – „damit wir wissen, was wir mit der Demokratie gewonnen haben, und dass es auf jeden ankommt, wie wir diese Demokratie ausfüllen“. Sie bestehe nur dann, wenn sie auf der Zustimmung der Bürger beruhe, mahnte Schorlemmer an.
Zu viele auch heute inaktiv
Zu der Stimmung trage aber seit 1990 auch „lange unterdrücktes Deutschtum“ bei, befand der Theologe, das sich lange gehalten habe. Das zeige sich selbst in der Sprache. Die Rechten würden den Protest vieler gegen die Mächtigen für sich nutzen könne, „weil sie die niederen Instinkte im Menschen zu wecken verstehen“, sieht Schorlemmer als Hauptgrund.
Zu wenig würden auch heute fragen, was sie selber tun können, um etwas zu verändern. Stattdessen würden sie am Stammtisch oder beim Kaffee rechten Kräften wie der AfD zustimmen, „weil die es denen da oben endlich mal sagen“.
Das Jahr der Jubiläen vom 9. November 1989 bis zum 3. Oktober 1990 ist für den kritischen Geist aus der Lutherstadt Wittenberg eine Zeit zum Nachdenken. Er sieht es als Zeit, „in der wir uns sehr viel mehr Mühe geben müssten für die Antwort auf die Frage, wie wir dem gerecht werden, dass historisch einmalig in Deutschland ein diktatorisches System friedlich die Macht abgegeben hat“.
Grund zum Feiern und Sorge um Zukunft
Dazu zählt er ebenso, dass damals für viele Menschen in der DDR die Selbstbestimmung wichtig war. Und: „Nicht ein Stasi-Mann hat die Pistole gezückt und nicht einer von den Bürgerrechtler hat eine Harke in der Hand gehabt. Das ist doch unglaublich.“ Es müsse gefeiert werden, dass das gelungen sei.
Er erinnerte an seine einstige Warnung vor dem „Rückwärtsgang von dem gescheiterten Versuch einer sozialistischen Gesellschaft in das erfolgreiche, aber im Grunde scheiternden System des neoliberalen Welt-Kapitalismus“. Dessen Ideologie hat aus seiner Sicht die ganze Welt erfasst und sei jetzt dabei, „sehr effizient, alles zu steuern und zu manipulieren“. Schorlemmer zeigte im Gespräch, dass er mit scharfem und kritischem Blick wie vor 30 Jahren auch heute gesellschaftliche Entwicklungen und deren Folgen beobachtet und kritisiert.
Mit Blick auf für Sojapflanzen gerodete Urwälder und andere menschliche Sünden an der Umwelt zitierte er sogar Karl Marx aus dem 3. Band des „Kapitals“: „Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“
Warnung vor „blauem Wunder“
Rückblickend fragte der heute 75-Jährige:
„Warum ist es uns nicht gelungen, die großen Werte der Gerechtigkeit und der Freiheit politische Wirklichkeit werden zu lassen, und zwar so, dass das Scheitern nicht geleugnet wird, aber auch, dass die verlogene Selbstpreisung nie wieder beginnt?“
Er sei trotz aller Probleme in der DDR geblieben, „nicht dass wir in der DDR den Kapitalismus reinstallieren, sondern die großen Menschheitsziele mit einem Mehrwert weiterverfolgen und auszufüllen versuchen.“ „Gerechtigkeit ist das Brot des Volkes“, zitierte Schorlemmer auch Bertolt Brecht.
Menschen, die am Profit, am wirtschaftlichen Gewinn orientiert sind, sollten sich klar sein, dass es immer Verlierer gibt. Das ist für Schorlemmer einer der bewahrenswerten Ansprüche aus der Zeit vor 30 Jahren. Ebenso, dass eine friedliche Gesellschaft nur entstehen kann, wo es keine strukturbedingten Verlierer gibt. „Verlierer meint Menschen, die sich nicht gewürdigt fühlen in dem, was sie geleistet haben und was sie als Menschen, als unverwechselbare Individuen sind. Nicht, was sie haben.“
Für eine solidarische Gesellschaft
Der Theologe forderte „Prioritäten für unser Tun und Lassen“ ein, „sonst werden wir noch unser ‚blaues Wunder‘ erleben“. Er warnte dabei vor dem fortgesetzten Umgang mit der Natur ohne jegliche Rücksicht auf diese wie vor dem neuerlichen Befeuern der Rüstungsspirale. Ebenso dürften in globaler Perspektive jene nicht vergessen werden, die Hunger leiden, kein Dach über dem Kopf und kein sauberes Wasser haben.
„Ich möchte nicht in einer Welt leben, von der man später einmal sagt: Die hätten noch handeln – noch umsteuern – können und haben es nicht getan.“
Jeder und jede Einzelne seien gefordert, mitzuwirken, eine Gesellschaft zu bauen, „in der der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“, beschrieb der Theologe, worum es ihm grundsätzlich ging und geht.
Literaturtipp:
Friedrich Schorlemmer: „Klar sehen und doch hoffen – Mein politisches Leben“
Aufbau Taschenbuch Verlag. 523 Seiten. ISBN 978-3-7466-3024-3. 12,99 Euro
Friedrich Schorlemmer: „Unsere Erde ist zu retten – Haltungen, die wir jetzt brauchen“
Verlag Herder, 2016. 160 Seiten. ISBN 978-3-451-34978-2. 14,99 Euro