9. November 1989: Plan- und kopflose Maueröffnung – Hans Modrow über DDR 1989. Teil 3

Als Hoffnungsträger haben viele in der DDR im Herbst 1989 den damaligen SED-Bezirkschef von Dresden, Hans Modrow, gesehen. Der vorletzte DDR-Ministerpräsident hat sich im Sputnik-Gespräch an die damaligen Ereignisse erinnert. Das ist in einem dreiteiligen Beitrag nachzulesen. Im dritten Teil geht es vor allem um den 9. November 1989.

Für manche sind die Ereignisse in der DDR 1989 bis zu ihrem Untergang Folgen einer von außen geförderten Konterrevolution. Andererseits zeigte sich gerade in den sächsischen Bezirken wie Dresden, Karl-Marx-Stadt und Leipzig, die zum Teil ohne Empfang von BRD-Medien als „Tal der Ahnungslosen“ galten, der angestaute Unmut der Bevölkerung besonders.

Hans Modrow im Mai 2019

Der langjährige 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden spätere vorletzte DDR-Ministerpräsident Hans Modrow sieht das als „komplizierte Frage, aus meiner Sicht“. Er verwies im Sputnik-Gespräch auf geschichtliche Ursachen für unterschiedlich geprägte Regionen in Deutschland, was sich in der Bundesrepublik und in der DDR fortgesetzt habe. „Die Sachsen haben sich aus ihrer Geschichte heraus immer als etwas Besonderes gesehen.“ Das wirke bis heute und könne nicht ignoriert werden, ist sich der ehemalige SED-Bezirkssekretär sicher.

Er habe die zentrale DDR-Plan-Kommission in den 1970er Jahren darauf hingewiesen, dass die industriellen Investitionen vor allem in Ostberlin als DDR-Hauptstadt und im Norden des Landes dessen Süden auf Dauer zurückfallen lassen. Dabei habe sich dort, gerade in den drei sächsischen Bezirken, die industrielle Wirtschaftskraft der DDR konzentriert. Er habe gewarnt: „Die Kuh wird ununterbrochen gemolken, bloß Futter kriegt sie nicht.“

Abtritt der alten Regierung

Eine Analyse der Plan-Kommission habe ihm zwar Recht gegeben, aber die sei im Stahlschrank folgenlos abgelegt worden. Das regionale Gleichgewicht innerhalb der DDR sei missachtet worden. Das habe im „Tal der Ahnungslosen“ dazu beigetragen, dass sich die dortige Wirtschaft nicht mehr im notwendigen Maße dynamisch entwickeln konnte. Daraus habe sich eine Unzufriedenheit entwickelt, die zu den wachsenden Protesten im Herbst 1989 geführt habe. Ähnliche Probleme gebe es im heutigen Sachsen, so Modrow mit Blick auf die Gegenwart.

Zum Zeitpunkt der Maueröffnung am 9. November vor 30 Jahren war Modrow noch nicht Ministerpräsident der DDR. Die bisherige Regierung sei zwar am 7. November zurückgetreten, erklärte er. Zuvor sei Krenz wie auch Gorbatschow noch am 1. November des Jahres bei einem Treffen in Moskau davon ausgegangen, dass Willi Stoph wie bisher DDR-Ministerpräsident bleibt. Doch wenige Tage später hätten sich eine Reihe der bisherigen Minister geweigert, weiter zu machen.

Krenz habe zuerst mit einigen anderen gesprochen, ob sie das Amt übernehmen wollten, sogar mit Alexander Schalck-Golodkowski. Mit Modrow habe er als Viertem darüber gesprochen, erinnerte sich dieser selbst. „Für mich war klar in dem Moment: Du musst bereit sein, nun die Verantwortung zu übernehmen.“ Stoph sei laut DDR-Verfassung im Amt geblieben, bis eine neue Regierung gebildet wurde.

„Unfähigkeit, Oberflächlichkeit und fehlende Kompetenz“

Er selbst sei zwar am 13. November von der Volkskammer als neuer Ministerpräsident bestätigt worden, habe aber erst vier Tage später mit der neugebildeten Regierung das Amt übernommen. Deshalb habe es zum Zeitpunkt der Maueröffnung und kurze Zeit danach ein politisches Vakuum gegeben.

„Der 9. November 1989 ist eigentlich ein welthistorisches Ereignis, das aber so profan abläuft und in einem solchen Maß Unfähigkeit, Oberflächlichkeit und fehlende Kompetenz wiederspiegelt, wie es sie gewiß bei anderen historischen Ereignissen auch gab. Aber in dem konzentrierten Maß ist das wohl sehr selten in der Geschichte gewesen.“

Der eigentliche Druck sei zu diesem Zeitpunkt aus Prag gekommen, erinnerte Modrow. Die dortige BRD-Botschaft sei wieder voller Flüchtlinge aus der DDR gewesen. Die ČSSR-Führung habe verhindern wollen, dass sich die Oktober-Ereignisse mit den Zügen wiederholen. Deshalb habe sie Krenz aufgefordert, eine Regelung für die Ausreise von DDR-Bürgern zu finden.

„Wir Naivlinge stimmten zu“

Doch der erste Entwurf eines Reisegesetzes war bereits durchgefallen. Das habe unter anderem dazu geführt habe, dass Rechtsanwalt Gregor Gysi zu den Beratungen hinzugezogen worden sei. „Aber an keiner Stelle wird sachkundig beraten, um eine wirklich kompetente Entscheidung zu treffen.“ So sei dann Krenz am Nachmittag des 9. November in die ZK-Beratung gekommen, mit einer vorbereiteten Pressemeldung, die in der Nacht 4 Uhr erst freigegeben werden sollte.

Der Noch-Generalsekretär habe selbst nicht genau gelesen, was er da in der Hand hielt. Politbüromitglied Günter Schabowski, der dann für die spontane Maueröffnung sorgte, sei erst später dazu gekommen, erinnerte sich Modrow als Teilnehmer der Beratung. „Wir Naivlinge stimmen dem zu, was Krenz am Nachmittag vorgelesen hat.“

Krenz habe dann Schabowski den Zettel zugesteckt, mit der Bemerkung, es könne sich um eine Sensation handeln. Alles sei wie nebenbei besprochen worden. Auf der Pressekonferenz am Abend des 9. November 1989 antwortete Schabowski dann auf eine Nachfrage eines Journalisten, DDR-Bürger könnten „sofort“ frei reisen. Dabei sollte die neue Regelung erst 10 Uhr des Folgetages in Kraft treten.

Ahnungslose SED-Führungskader

Unterdessen im ZK-Gebäude: „Wir sitzen und beraten weiter“, erinnerte sich der spätere Ministerpräsident. „Auch die Führung der NVA berät weiter, auch Innenminister Friedrich Dickel und Staatssicherheits-Minister Erich Mielke. Erst nach 21 Uhr geht die Regierungsmannschaft auf ihren Posten und Krenz geht in sein Arbeitszimmer.“

Er sei daraufhin zum ZK-Gästehaus gelaufen, wobei ihn ein junger Mann angesprochen habe. Der habe von ihm wissen wollen, ob ihm bekannt sei, dass die Grenze offen ist. „Ich weiß das aber nicht“, blickte Modrow zurück. Er habe nachgefragt, wobei der Mann ihm von den Medienberichten zu Schabowskis Aussagen erzählt habe. Warum er über die Grenze wolle, habe er noch wissen wollen. Auf die geschilderten Probleme des jungen Mannes mit seinem Vater habe Modrow ihm geraten, erst mit seinem Vater zu sprechen, bevor er „nach drüben“ geht.

„Das heißt: Wir sitzen und beraten alle, ohne dass wir, einschließlich ich selbst, die Lage wirklich begreifen, in der wir uns befinden.“ Der ehemalige SED-Funktionäre beschrieb, die für die Grenztruppen verantwortlichen der NVA seien erst nach ein paar Stunden im Verteidigungsministerium in Strausberg bei Berlin angekommen. Es gab keine Funkverbindung zu ihnen, solange sie sich in der Hauptstadt aufhielten. Der Grund: Die DDR-Militärs wollten nicht von den westlichen Alliierten in Westberlin abgehört werden.

„Am 13. August 1961 wurde anders geführt“

So kam es laut Modrow dazu, dass erst nach der Ankunft und dem Prozedere, mit wem der Adjutant des Chefs der Grenztruppen reden darf, die DDR-Militärs von der offenen Grenze erfuhren. Verteidigungsminister Keßler habe aber nicht gleich gehandelt, wie andere aus der Partei- und Staatsführung.

Er habe auch den 13. August 1961 erlebt, als die Mauer gebaut wurde, erinnerte sich Modrow. Damals habe er ebenfalls die Entscheidungsprozesse miterlebt: „Da wurde anders geführt. Am 9. November 1989 entstand ein Vakuum. Der Einzige, der am meisten begriff, war anscheinend der sowjetische Botschafter Wjatscheslaw Kotschemassow. Dem war klar, die DDR darf etwas an der Grenze zur BRD machen, aber nicht an der zu Westberlin.“ Kotschemassow habe beklagt, dass die Öffnung der Grenze nicht mit ihm als Vertreter einer der vier Siegermächte abgesprochen worden sei.

Als Gorbatschow in Moskau von den Vorgängen informiert worden sei, habe dieser zur friedlichen Grenzöffnung gratuliert. Damit sei der sowjetische Botschafter beruhigt gewesen und das ZK der SED habe am 10. November 1989 weiter getagt, „als sei nichts geschehen. Uns überrollen die Ereignisse und für die Regierung, die ich dann übernommen habe, entstand eine Situation, in der die DDR und nicht die BRD-Seite unter Druck geriet.“

Keine Chance für realen Sozialismus

In der Folge sei eine Entscheidung nach der anderen über neue Grenzübergänge, neue Straßen und Regelungen für den Reiseverkehr getroffen worden. Die DDR-Seite sei in Vorleistung gegangen, ohne dass sich die Bundesregierung wie vorher üblich finanziell beteiligte, beklagte Modrow rückblickend. „Die BRD hat den ganzen politischen Gewinn einkassiert und wir sind in einer Situation der Instabilität.“

Aus seiner Sicht waren für die weitere Entwicklung der DDR entscheidend, in welcher Situation sich die Sowjetunion und der „Warschauer Vertrag“ sowie der RGW befanden. Auch diese hätten damals ihre Stabilität verloren. „So ist eine Lage entstanden, dass die Überlegenheit der Nato und die Stärke der EG so ins Spiel kamen, dass der Prozess der Implosion der sozialistischen Staatengemeinschaft ein solches Tempo bekommt, wo ein einzelnes Land nicht existieren kann.“

Keines der realsozialistischen Länder habe Ende 1989 noch die Chance, das eigene System zu bewahren. „Das war auch klar für die DDR. Als wollten wir weiter existieren, als Staatengebilde mit was?“ Der Zusammenfall seines bisherigen Systems hat das Schicksal des Staates DDR besiegelt, ist sich der vorletzte Regierungschef des Landes sicher. „Wir konnten nicht als sozialistischer Staat weiter existieren, weil wir kein Kuba und keine Insel sind.“

„Entwicklung seit 1989 noch nicht am Ende“

Ihm sei erst ab Mitte Januar 1990 eindeutig klar geworden, dass die DDR so wie bisher keine Überlebenschance mehr hatte. „Vorher hatte ich immer das Gefühl, dass wir eine Instabilität haben und dass wir umgestalten müssen. Meine Regierungserklärung vom 17. November zeugt davon. Da habe ich noch gesagt: Eine Wiedervereinigung steht nicht auf der Tagesordnung. Wir müssen eine Reform des Sozialismus betreiben.“

Modrow erinnerte dabei daran, dass die anderen damaligen DDR-Politiker bis hin zum CDU-Vorsitzenden Lothar de Maiziere – der ihn 1990 ablöste – ihm zugestimmt haben. Keiner habe ihm widersprochen und alle hätten noch zu Beginn des Jahres 1990 mitgespielt. Daran wolle aber niemand mehr erinnert werden. „Wie viel schon dahinter von de Maiziere mit Schäuble und wer sonst noch mit wem geredet hat, das wird heute nicht aufgedeckt.“

Sein Fazit:

„Ich denke, dass das Jahr 1989 im Rahmen der Weltgeschichte ein Jahr war, in dem die Gegensätze so aufeinander zugelaufen sind, dass beide Seiten in abwartenden Haltungen blieben. Und beide Seiten sind in dieser Phase der Geschichte absolut überfordert gewesen. Sie haben 1989 eine Entwicklung ausgelöst, die sich heute erst in einer bestimmten Art in Anzeichen widerspiegelt. Inwieweit sie in verheerende Situationen führt, wird sich zeigen.“

1989/90 sei der Kalte Krieg zu Ende gegangen. Das vereinte Deutschland sei entstanden, ebenso die erweiterte Nato und die erweiterte EG bzw. EU. „Das wird heute alles weggelassen.“ Ein neues großes und starkes Deutschland sei entstanden und habe die Krise von 2008 gut überstanden, mit der Folge: „Großdeutschland ist als europäische Wirtschaftsmacht ganz vorn und geht davon aus, dass es hinter den USA und China auf Platz 3 steht sowie deshalb eine militärische Stärke braucht, um die eigenen Interessen zu vertreten.“

Lektüretipp:
Oliver Dürkop, Michael Gehler: „In Verantwortung: Hans Modrow und der deutsche Umbruch 1989/90“
Studien Verlag Innsbruck/Bozen/Wien 2018. 584 Seiten; ISBN: 978-3-7065-5699-6. 49,90 Euro