Als Hoffnungsträger haben viele in der DDR im Herbst 1989 den damaligen SED-Bezirkschef von Dresden, Hans Modrow, gesehen. Der vorletzte DDR-Ministerpräsident hat sich im Sputnik-Gespräch an die damaligen Ereignisse erinnert. Das ist in einem dreiteiligen Beitrag nachzulesen. Im zweiten Teil geht es um die Wirtschaft, den Kalten Krieg und die Sowjetunion.
Hans Modrow galt inneren und äußeren Beobachtern des Geschehens der DDR als Reformer innerhalb der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Das führte dazu, dass der langjährige 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden im November zum dann vorletzten DDR-Ministerpräsidenten ernannt wurde. Er versuchte, notwendige Reformen in dem Land in die Wege zu leiten und zu gestalten, ohne den Untergang verhindern zu können.
Hans Modrow im Oktober 2018
Im Sputnik-Gespräch bestätigte Modrow, dass die wirtschaftliche Stabilität des Landes auch an seinem Ende größer war als heute oft behauptet. Die heutigen bundesdeutschen Statistiken dazu würden von dem Jahr 1991 als Grundlage ausgehen. „Die eigentliche Zerstörung der DDR-Wirtschaft, ihr Herausreißen aus einem Prozess der Integration der RGW-Staaten, erfolgte mit der sogenannten Währungsunion.“ Auch die heutige Bundesrepublik würde nicht überstehen, wenn über Nacht die D-Mark wieder eingeführt werden würde.
Beim Blick auf die DDR-Wirtschaft werde nur auf deren Verschuldung im Westen geschaut, bemängelte Modrow. Ihr Plus im Rahmen des „Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) der sozialistischen Staaten und gegenüber anderen Staaten werde bei den Berechnungen weggelassen. Die Urteile über den angeblichen maroden wirtschaftlichen Zustand der DDR kurz vor ihrem Untergang seien zumeist politisch gefärbt.
SED-Kader mit preußischem Leben
Unfähigkeiten und Inkompetenz seien kein typisches Merkmal der DDR gewesen, stellte Modrow mit Blick auf heutige Zustände und Vorgänge in der Wirtschaft fest. Er bedauerte, dass die von Honecker-Vorgänger Walter Ulbricht in den frühen 1960er Jahren eingeleitete Wirtschaftsreform, das „Neue Ökonomische System“ (NÖS), Ende der 1960er Jahre gebremst und abgebrochen wurde. Das sei auf Druck Moskaus erfolgt, meinte er.
Der einstige SED-Hoffnungsträger verwies in dem Zusammenhang auf die Rolle des Politbüromitgliedes Mittag, zuständig für Wirtschaftsfragen. Dieser habe neben Ulbricht nicht die Rolle gespielt wie neben dessen Nachfolger Honecker. Letzterer habe weniger Ahnung von Wirtschaftsfragen gehabt als sein Vorgänger. Das habe Mittags Aufstieg und dessen dominierende Rolle bis 1989 begünstigt.
Dass habe sich auch bei den Jagdausflügen der SED-Spitze unter Honecker gezeigt, als Mittag mit auf den Hochstand klettern durfte, merkte Modrow an. „Das gehört am Rande zu dem preußischen Leben, das sich dort mehr und mehr entwickelt hatte und ablesbar ist an den großen Trophäen, die man nicht nur von den preußischen Königen und Kaisern aus der Schorfheide kannte, sondern auch von den Oberen der DDR leider dazugekommen sind.“
Entmachtete Regierung
Statt einer Wirtschaftsführung habe sich eine administrative Führung der DDR-Wirtschaft entwickelt. Die politischen Vorgaben hätten eine effektive Entwicklung der eigenen Betriebe und Kombinate belastet. Durch den „gewaltig großen Anspruch an sozialen Leistungen“ sei die Wirtschaft des Landes „ständig überfordert“ worden, blickte Modrow zurück. Der notwendige wissenschaftlich-technische Fortschritt sei in der Folge nicht mehr im ausreichenden Maße finanzierbar gewesen.
„Ohne Zweifel liegt die entscheidende Verantwortung bei der SED-Führung“, antwortete der heute 91-Jährige auf die Frage, wer verantwortlich für den Untergang der DDR ist. „Dazu gehört die Tatsache, dass die Regierung weitgehend entmachtet war.“ Sein Vorgänger Willi Stoph habe sich das gefallen lassen. Er habe zwar unter vier Augen über Honecker geschimpft, aber in offiziellen Beratungen seine Rechte als Ministerpräsident nicht durchgesetzt.
Modrow machte darauf aufmerksam, dass zur Entwicklung der DDR und ihren Problemen die westliche Sanktions- und Embargopolitik beitrug. Dafür stand die „CoCom“-Liste, die praktisch alle Erzeugnisse der Hochtechnologie erfasste. Sie war Ausdruck des Wirtschaftskrieges des Westens gegen den realsozialistischen Osten während des Kalten Krieges.
Verschwiegener westlicher Beitrag
Die Embargobestimmungen hätten die Wirtschaftsentwicklungen der RGW-Länder „geradezu geknebelt“, sagte Modrow dazu. Über diese Seite des Kalten Krieges werde heute kaum gesprochen. Sie dürfe aber nicht unterschätzt werden.
Das gilt aus seiner Sicht erst recht für die gegenseitige Aufrüstung in dieser Zeit. Der „Warschauer Vertrag“ habe dabei eine „überzogene Geheimhaltung“ an den Tag gelegt. Dadurch sei oft verhindert worden, dass Entwicklungen der Rüstungstechnologie auch für zivile Zwecke genutzt wurden und damit der eigenen Wirtschaft zugutekommen konnten. Das sei in der kapitalistischen Wirtschaft anders, die frühzeitig militärische Entwicklungen zivil nutze.
In den realsozialistischen Ländern sei das gehemmt gewesen, was die wirtschaftlichen Belastungen durch die Rüstung noch ausdehnte. Damit habe das gegenseitige Wettrüsten zu unterschiedlichen Lasten auf beiden Seiten geführt.
Beide Seiten mit Verantwortung
Für Modrow ist bis heute eine Frage nicht offen beantwortet worden: „Wer hat eigentlich klare Aussagen und Kenntnisse über das Maß der Aufrüstung, der Stärken der Truppen, der realen Stärke der jeweiligen Bündnisse?“ Über den „Warschauer Vertrag“ gebe es „gewisse Auskünfte, die dennoch weiterhin zurückgehalten werden, nachdem diese Staaten Teil der Nato wurden“. Von dieser, der damaligen Gegenseite, gebe es entsprechende Informationen nicht.
Der einstige DDR-Ministerpräsident sagte, dass im Bewusstsein der Menschen im nach 1945 geteilten Deutschland immer die Kriegsgefahr eine Rolle spielte. Das habe die Bereitschaft und das Einverständnis dafür unterstützt, dass das jeweilige eigene System rüstet. Allerdings habe es in den ersten Jahren in Ost und West mehr Widerstand gegen die Aufrüstung gegeben als heute angesichts steigender Rüstungsausgaben, ohne tatsächliche Gefahr von außen und ohne Systemkonkurrenz. Er selbst habe in den 1950er Jahren in Westberlin Unterschriften unter den „Stockholmer Appell“ gegen die Kernwaffenrüstung gesammelt.
Ost und West haben sich aus seiner Sicht im Kalten Krieg „gegenseitig hochgeschaukelt“. „Beide Seiten tragen dafür die Verantwortung. Aber so zu tun, als hätte es nur die eine Seite getan, widerspricht den Tatsachen. So funktioniert eine Eskalation nicht.“
Verlorene Illusionen über Sowjetunion
Er habe zu jenen in der DDR gehört, welche die von Gorbatschow ausgerufene „Perestroika“, also eine Umgestaltung für das eigene Land für notwendig hielten. Das gestand Modrow bei der Frage nach der Rolle der Sowjetunion in den Ereignissen von 1989 ein. Er habe gehofft, dass damit ein Prozess der Reform in den realsozialistischen Staaten beginnt. Doch ihm sei bereits 1987 klar geworden, dass die Umgestaltung in der Sowjetunion nicht so lief, wie er sich das vorgestellt habe.
Für den entsprechenden Eindruck hätten die Partnerschaftskontakte zwischen dem Bezirk Dresden und dem Leningrader Gebiet beigetragen. Die von Gorbatschow angekündigten und versuchten Reformen hätten die soziale Lage und die Situation der Wirtschaft in der Sowjetunion nicht verbessert. Dagegen sei es zu einer Stagnation gekommen. „Ab da war für mich auch klar, die DDR braucht einen Prozess der Umgestaltung, aber das sowjetische Modell konnte kein Vorbild dafür sein.“
In der SED-Spitze sei ihm von Honecker und anderen gesagt worden: „Wenn in der Sowjetunion die Versorgung so gut ist, wie bei uns, dann werden wir über Perestroika nachdenken.“ Aber darum sei es ihm nicht gegangen, sondern um das, was im System der sozialistischen Gesellschaft verändert werden musste. Zu Beginn des Jahres 1989 habe er innerhalb der DDR Anzeichen für eine kommende Implosion des eigenen Systems erkannt.
Gorbatschow: Flotter Spruch, aber keine Analyse
Zur Frage, ob Moskau versucht habe, auf die Ereignisse in der DDR, dem Vorposten des „Warschauer Vertrages“, Einfluss zu nehmen, verwies Modrow auf zwei damalige Ereignisse. So sei der Besuch Gorbatschows zum 40. Jahrestag der DDR nicht selbstverständlich gewesen. Dazu habe es in Moskau Diskussionen gegeben, wie ihm Valentin Falin berichtet habe. Anlass sei unter anderem Gorbatschows Haltung gewesen: „Man belastet sich nicht zu sehr mit der DDR.“
Honecker habe an den KPdSU-Generalsekretär das Zeichen übermittelt, dass der Besuch helfen kann, die DDR zu stabilisieren. Gorbatschow habe dann einen „Halbe-halbe-Politik“ betrieben, als er am 7. Oktober 1989 in die DDR kam. Deren Entwicklung habe er öffentlich gelobt, während er dem SED-Politbüro bei einer Beratung erklärte: „Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte.“ Gorbatschow habe aber keinerlei eigene Analyse der sowjetischen Situation und von deren Probleme vorgelegt.
Das andere Ereignis gab es laut Modrow am 18. Oktober des Jahres. Als an diesem Tag Honecker auf internen Druck als SED-Generalsekretär zurücktrat, habe sich das Politbüromitglied Harry Tisch am 17. Oktober in Moskau aufgehalten. Dort habe er sich bei Gorbatschow den „Segen“ für das geholt, was eine kleine Gruppe innerhalb des SED-Politbüros vorbereitet hatte. Das gehört für den einstigen SED-Reformer zu der damaligen Art von Politik in der DDR, sich statt von Analysen von der Angst vor Fehlern leiten zu lassen.
Unfähige Führung in Moskau
Das sei so weit gegangen, dass Honecker im letzten Jahr noch prüfen ließ, ob gegen den damaligen SED-Bezirkssekretär von Dresden ein „Prozess wegen Hochverrat“ geführt werden könne. Das wisse er inzwischen durch Auskünfte der Bundesregierung über Erkenntnisse des BND zu ihm. Aber bis heute bekomme er keine Einsichten in die Akten und Auskunft, welcher Überläufer des MfS aus Dresden die BRD-Nachrichtendienste darüber informierte.
Wie unfähig die sowjetische Führung auf die damalige politische Entwicklung reagierte, machte Modrow an einem Beispiel deutlich. Gorbatschow habe sich Dokumenten zufolge erst am 26. Januar 1990 zum ersten Mal mit seinem engen Führungskreis mit der Lösung der deutschen Frage beschäftigte. „Sie hatten selber nicht einmal untereinander die politische Stärke, um eine kollektive gemeinsame Haltung einzunehmen.“ Später sei bekannt geworden, dass Ministerpräsident Nikolai Ryschkow und andere in der KPdSU-Spitze andere Positionen als Gorbatschow zu diesen Fragen hatten.
Zuvor habe das Treffen Gorbatschow mit dem damaligen US-Präsident George Bush in Malta Anfang Dezember 1989 gezeigt: „Gorbatschow ist unfähig und nicht vorbereitet auf eine Begegnung zur deutschen Frage.“ Das nachfolgende Treffen der Vertreter der Staaten des „Warschauer Vertrages“ am 4. Dezember 1989 in Moskau habe das Durcheinander im realsozialistischen Lager und die Unsicherheiten angesichts der „nicht mehr definierbaren Entwicklungen“ deutlich gemacht.
Kein Ausweg mehr
Im Januar 1990 habe der sowjetische Ministerpräsident Ryschkow auf dem RGW-Treffen in Sofia erklärt, Moskau beende den gegenseitigen Handel auf Basis des transferablen Rubels. „Damit war klar: Wir bekommen für unsere Schiffe und die Eisenbahn, die wir liefern, kein Öl mehr und müssen mit harter Währung, also D-Mark zahlen. Aber ob wir unsere Schiffe oder Eisenbahnen für D-Mark im Westen verkaufen können, ist offen.“ Damit seien die Strukturen des RGW, des realsozialistischen Gegenstücks zur „Europäischen Gemeinschaft“ (EG), auseinander gerissen worden.
„Das war für uns der Anlass, über einen Drei-Stufen-Plan der deutschen Vereinigung nachzudenken, weil nun klar war: Alles das, was mal mit der Siegermacht, dem Bündnis und der DDR verbunden war, hebt sich auf. Jetzt stehen wir als DDR vor der Frage: Sind wir ein Floß im offenen Strom oder sind wir politisch fähig, zumindest ein Konzept zu entwickeln, um handlungsfähig zu bleiben.“
Im dritten Teil geht es vor allem um den 9. November 1989 sowie um die weltgeschichtlichen Folgen.
Lektüretipp:
Oliver Dürkop, Michael Gehler: „In Verantwortung: Hans Modrow und der deutsche Umbruch 1989/90“
Studien Verlag Innsbruck/Bozen/Wien 2018. 584 Seiten; ISBN: 978-3-7065-5699-6. 49,90 Euro