Warum die Krim nicht annektiert wurde und der Westen „mit gespaltener Zunge“ redet

„Es hat sich nicht um eine Annexion gehandelt!“ – Damit widerspricht der Rechtswissenschaftler Reinhard Merkel erneut einer der Begründungen der westlichen Politik für deren antirussische Sanktionen. Er fordert vom Westen und insbesondere von Bundeskanzlerin Angela Merkel, von der eigenen harten Haltung abzurücken.

Die Rückkehr der Halbinsel Krim zu Russland war keine völkerrechtswidrige Annexion, wie es der Westen Moskau wiederholt vorwirft. Diese Position hat der Rechtswissenschaftler Reinhard Merkel in einem aktuellen Interview mit Sputnik wiederholt, nachdem er damit bereits im Frühjahr 2014 für Aufsehen sorgte. Damals hatte er in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) den westlichen Vorwürfen gegen Russland widersprochen.

Der Rechtsphilosoph aus Hamburg bekräftigte nun zum Jahresende 2017: Nach vielen Gesprächen, auch mit Kollegen aus dem Fachgebiet Völkerrecht, die ihn für diesen Artikel kritisiert hatten, und nachdem er „alle Dinge noch einmal durchüberlegt und erwogen“ habe, sei er „ganz genau der gleichen Meinung: Es hat sich nicht um eine Annexion gehandelt!“

Ungenaues Völkerrecht

Merkel sieht durchaus – wie bereits 2014 – russische Verstöße gegen das Völkerrecht. So habe russisches Militär mit einer Drohgebärde zunächst gegen das völkerrechtliche Gewalt(androhungs)verbot verstoßen, allerdings damit wohl auch einen „blutigen Einsatz von Waffengewalt auf der Krim verhindert“, indem es ukrainische Einheiten auf deren Territorium blockierte. Dass Blutvergießen vermieden werden konnte, anders als in der Ostukraine, sehe er auch heute noch als positiv an. Das zwischenstaatliche Interventionsverbot sei gleichwohl verletzt worden, erklärte der Experte vor fast vier Jahren. Russland habe auch dadurch das Völkerrecht verletzt, dass es schon zwei Tage nach dem entscheidenden Referendum am 18. März 2014 das Abkommen mit der Krim über den Beitritt unterzeichnet hatte.

Das alles rechtfertige aber nicht die westlichen Vorwürfe einer „völkerrechtswidrigen Annexion“, stellte Merkel nach fast vier Jahren gegenüber Sputnik erneut fest. Das gelte nicht nur, weil dieser Begriff „nirgendwo im Völkerrecht verbindlich definiert ist“, wie er betonte. Zwar gebe es zahlreiche historische Beispiele für eine damit gemeinte gewaltsame Inbesitznahme eines Gebietes durch einen anderen Staat, an denen sich orientiert werden könne, zuletzt die Annexion Kuwaits durch den Irak 1990. Aber die Krim sei dagegen – wie auch der Kosovo – ein Fall einer Sezession, einer selbst erklärten Abtrennung und staatlichen Unabhängigkeit eines Teilgebietes eines Staates. Diese Fälle würden von abstrakten Rechtsdefinitionen nicht sauber erfasst, meinte Merkel.

Schon deshalb sei die Frage einer Annexion nicht einfach und nicht nur Sache der Völkerrechtler, fügte er hinzu. Es handele sich um eine „begriffliche und normative Prinzipienfrage“ – „dafür sind die Rechtsphilosophen, also als solcher auch ich, ganz und gar genauso zuständig.“ Das habe er Völkerrechtlern in Diskussionen zum Thema gelegentlich entgegengehalten, die seine sachliche Kompetenz bezweifelten.

Kein Zweifel am Willen der Bevölkerungsmehrheit

Im Interview erklärte der Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg den Begriff der Annexion ausführlich. Dabei spiele die Bevölkerung des jeweiligen Gebietes eine wichtige Rolle:

„Annexion heißt gewaltsame Inbesitznahme eines Gebiets, gegen den Willen des Staates, dem es zugehört – und, füge ich hinzu, gegen den Willen der deutlichen Mehrheit der Bevölkerung dort.“

Merkel machte erneut darauf aufmerksam, dass die russische militärische Drohgebärde zwar gegen die UN-Charta verstoßen habe, aber sich, anders als bei einer Annexion, nicht als Drohung gegen die Bevölkerung der Krim gerichtet und daher das Ergebnis der Abstimmung nicht etwa zu einem schieren, abgenötigten Schwindel gemacht habe.

Der Experte hat zwar aus anderen Gründen durchaus Zweifel an der rechtlichen Gültigkeit des Verfahrens für das Referendum auf der Halbinsel im März vor vier Jahren – aber „überhaupt keinen Zweifel, dass die deutliche Mehrheit der Krim-Bevölkerung für einen Wechsel zu Russland war“. Das hatte erst kürzlich eine deutsche Umfrage bestätigt, wonach fast 80 Prozent der Bewohner der Halbinsel bei einem Referendum wieder für die Rückkehr nach Russland stimmen würden. Merkel erinnerte dabei an Folgendes:

„Im Kosovo, das sich von Serbien 2008 abgespalten hat, gab es überhaupt kein Referendum. Die haben einfach beschlossen: Wir spalten uns ab! Das hat der Westen auf der Stelle akzeptiert. Innerhalb von zwei Tagen haben alle bedeutenden westlichen Mächte das Kosovo als unabhängigen Staat anerkannt.“

„Rechtswidrige Gewaltpolitik Kiews“

Der Rechtsphilosoph ergänzte: „Dann mit Blick auf die Krim zu sagen: Das Referendum war doch nicht sauber! – das ist ein Reden mit gespaltener Zunge.“ Das habe ihm damals sehr missfallen und sei der Anstoß dafür gewesen, sich öffentlich zu äußern, erklärte er im Interview. Er verwies auf eine Umfrage des US-Instituts „Pew Research Center“ aus dem Frühjahr 2014, bei der sich fast 90 Prozent der Befragten auf der Krim erneut dafür aussprachen, zu Russland gehören zu wollen. Merkel sagte:

„Wer ehrlich ist, kann keinen Zweifel haben, dass die deutliche Mehrheit zu Russland wollte, also nicht gewaltsam gezwungen wurde. Und genau deswegen ist das keine Annexion gewesen!“

Es sei nicht rechtlich fundiert, dass die westlichen Regierungen wie auch die EU dennoch an diesem Vorwurf gegen Moskau festhalten, erklärte der Experte. Zudem würden die Sanktionen gegen Russland nicht nur mit der Krim, sondern auch mit der angeblichen russischen Rolle in der Ostukraine begründet. Dazu sagte Merkel, dass es für diese Region kein Recht auf Abspaltung gebe. Er ergänzte das mit dem Hinweis, wer für den Ausbruch der Kampfhandlungen im Osten des Landes im April 2014 verantwortlich ist:

„Aber ebenso wenig hatte die Regierung in Kiew ein Recht, auf der Stelle militärisch loszuschlagen. Weder haben die Separatisten in der Ostukraine ein Recht auf Abspaltung noch hat Kiew ein Recht auf Bombardierung dieser Leute gehabt.“

Diese Sicht setze sich für solche Fälle von abspaltungswilligen Regionen auch „langsam und vorsichtig“ im Völkerrecht durch. Es  müssten andere Wege gesucht werden, um diese Konflikte zu lösen. Die Kritik an Russland bleibe „einseitig, wenn sie das nicht erwähnt, was Kiew rechtswidrig an Gewaltpolitik dort durchgesetzt hat“, hob der Wissenschaftler hervor. Deshalb halte er die westliche Politik gegenüber Russland und vor allem die Sanktionen für verfehlt und ohne ausreichende rechtliche Grundlage: „Sie sind auch völkerrechtlich keineswegs plausibel.“

Westen soll von harter Haltung abrücken

Merkel hatte 2014 dem Westen empfohlen, „rhetorisch ein wenig abzurüsten“. Doch stattdessen sei an der westlichen „Empörungsgeste“ samt den Sanktionen festgehalten worden, mit der Folge, sich nun davon umso schwerer lösen zu können. Es gehe dabei nicht nur um die Haltung Deutschlands, sondern auch die der EU und der USA im Hintergrund. In Washington gebe es „derzeit ersichtlich kein Interesse, dass sich an der Anti-Russland-Attitüde der europäischen Staaten sich etwas ändert“.

Der Rechtsphilosoph kritisierte in dem Zusammenhang die Äußerungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel über die seit Kriegsende 1945 angeblich „beispiellose Erschütterung der rechtlichen Fundamente der europäischen Friedensordnung“ durch Russland.

„Das ist ein so übertriebener Ton gewesen, dass man anschließend natürlich schwer davon runter kommt. Bei der sogenannten Krim-Annexion ist noch nicht einmal ein Schuss gefallen, geschweige denn ein Mensch gestorben!“

Dagegen habe die Kanzlerin „leider“ elf Jahr vorher den USA applaudiert, als diese in den Irak einmarschierten – „ein eindeutig völkerrechtswidriger Aggressionskrieg mit Hunderttausenden von Opfern.“ Dieser habe „wirklich die Fundamente der Weltfriedensordnung erschüttert“. Dem habe die spätere Kanzlerin als CDU-Vorsitzende damals aber zugestimmt, so ihr Namensvetter. Auch die Kosovo-Intervention des Westens 1999 sei auf gefälschte Fakten gestützt worden und völkerrechtswidrig gewesen, bestätigte er.

Der Hamburger Rechtsphilosoph empfiehlt der westlichen Politik, den Konflikt zu lösen, indem sie von ihrer alten harten Haltung abrückt, wobei sie durchaus ihr „Gesicht“ wahren könne und solle. Berlin solle mit Blick auf die Krim und die Ukraine vorsichtig moderatere Töne gegenüber Moskau anschlagen. Selbst wenn weiter von einer „Annexion“ der Krim geredet würde, könne in der internationalen Medienöffentlichkeit z.B. ein Vertreter Deutschlands „vorgeschickt“ werden, der darauf hinweist, dass bei diesem Konflikt kein Mensch ums Leben kam. Der Tonfall der harten Kritik müsse beendet werden

„Annexion bedeutet m Unterton stets etwas ganz Verwerfliches. Darauf kann man im Regelfall mit Krieg reagieren, und sogar ohne Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat.“

Dieser Ton und die „harten polemischen Gesten“ müssten aus der Diskussion rausgenommen werden, forderte der Experte, „um ein friedliches und gedeihliches Auskommen mit Russland wiederzufinden“.