Ukraine-Krieg: Showdown zweier Weltordnungskonzepte

In der Ukraine versuchen die USA, die von ihnen beherrschte unipolare Weltordnung zu sichern – gegen eine multipolare Welt, wie sie Russland und China anstreben. Das erklärte der Philosoph und Publizist Hauke Ritz bei einem Vortrag in Berlin. Aus seiner Sicht kann nur eine starke gesellschaftliche Friedensbewegung aus der entstandenen Eskalation herausführen. Dazu sei die Politik nicht mehr in der Lage.

In der Ukraine ist es zum „Showdown zweier Weltordnungskonzepte“ gekommen. So sieht es der Philosoph und Publizist Hauke Ritz. Er habe das erwartet, aber nicht zu dem Zeitpunkt. So sei er überrascht gewesen, als Russland am 24. Februar 2022 in das Nachbarland einmarschierte. Er sei an dem Tag in Moskau gewesen, wie er am Montag, 27. März, während eines Vortrages in Berlin berichtete.

Ritz sprach über den Ukraine-Krieg und die Krise des Westens. Der Krieg in der Ukraine habe inzwischen einen „sehr hohen Bereich der Eskalation“ erreicht, stellte er fest. Und bezeichnete den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes in den Haag gegen Russlands Präsident Wladimir Putin als „Anschlag auf die Diplomatie“. „Wenn ich sage, dass der Präsident des Landes, mit dem ich jetzt eigentlich in Verhandlung treten müsste, in Friedensverhandlungen vielleicht, ein Krimineller und Gegenstand eines Haftbefehls ist, dann mache ich eigentlich Verhandlungen unmöglich.“

Auch die Lieferung von britischer Uran-Munition an die Ukraine sei ein neuer Bereich der Eskalation. Diese habe mit der darauf folgenden russischen Ankündigung, in Belarus taktische Atomwaffen zu stationieren, nun die nukleare Dimension erreicht. „Da wird, glaube ich, jetzt auch noch einiges folgen“, sagte Ritz. „Wir wissen aus der Geschichte, dass Eskalationsspiralen, die sich immer weiter nach oben schrauben, ab einem bestimmten Punkt auch nicht mehr anzuhalten sind. Ab einem bestimmten Punkt gibt es eine psychologische Dynamik der Vergeltung, der Rache, dass solche Eskalationsspiralen einfach weiter und weiterlaufen.“

„Es geht um die Existenz“

Der Publizist verglich das mit der Situation kurz vor dem Ersten Weltkrieg 1914. Damals hätten aber Regierungen nicht fürchten müssen, selbst angegriffen zu werden. Das sei nun, im Zeitalter der Distanzwaffen, anders. „Wenn es wirklich zu einem richtigen Krieg zwischen den USA und der Russischen Föderation kommen würde, dann wäre eine der ersten Dinge, die beide Seiten versuchen würden, die Kommandozentralen auszuschalten, die andere Regierung anzugreifen.“ Dazu diene die an die Grenzen Russlands verschobene Nato, während Russland mit Hyperschallwaffen drohe.

Warum sich der Konflikt in der Ukraine und um sie herum so zuspitzte, sieht Ritz in den absoluten Positionen beider Seiten verursacht. „Man hat den Eindruck, mir geht es jedenfalls so, dass beide Seiten den Entschluss gefasst haben, bis zum Ende das durchzuziehen, bis zum Äußersten zu gehen, nicht nachzugeben. Und wenn beide Seiten das so sehen, dann kann es wirklich gefährlich werden.“ Der Grund dafür sei, dass es auch für beide Seiten „in gewisser Weise um die Existenz geht“.

Er beschrieb den Aufstieg der USA zur globalen Weltmacht, die in verschiedenen Bereichen, von der Wirtschaft über die Technologie bis zum Militär, dominiere. Das gelte auch für die Kultur, die es der „einzigen Weltmacht“ (Zbigniew Brzezinski) ermögliche, mit „Soft Power“ zu herrschen. Dabei seien die Europäer nur begrenzt als Partner vorgesehen. Ihnen werde nur eine eingeschränkte Souveränität zugestanden. Die USA wollten sie nur als „schlafende Verbündete“ – und Russland als ehemalige Großmacht, noch versehen mit deren Institutionen sowie Atombomben, davon fernhalten. Eine „nördliche Zivilisation, die von Vancouver bis Wladiwostok reicht“, wie sie nach 1989 angedacht wurde, sollte es nicht geben, so Ritz.

„USA ist automatisch Gegner Russlands“

So hätten die USA ihren historisch entwickelten Expansionsdrang in den postsowjetischen Raum ausgedehnt. Ihre führenden Kräfte seien davon überzeugt gewesen, dass die Rolle als dominierende Weltmacht nach 1989 und später nicht aufgegeben werden dürfe. Die USA seien spätestens mit den 1990er Jahren zum einzigen Machtpol in der Welt aufgestiegen, mit dem globalen Gewaltmonopol. Damit sei die unipolare Weltordnung begründet worden.

Dazu gehörte laut Ritz das US-Interesse an einem schwachen Russland, ohne das bisherige Atomwaffen-Potenzial und ohne eine leistungsfähige Rüstungsindustrie. „Die Russen haben das erkannt“, stellte er fest und verwies auf die Rede von Wladimir Putin 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz (MSK). Dort habe sich der russische Präsident bereits ganz klar gegen das unipolare Weltkonzept ausgesprochen. In der Folge sei unter anderem das russische Nuklearpotenzial erneuert worden.

Die russischen Reaktionen und waffentechnischen Entwicklungen verhindern aus Sicht von Ritz, dass die USA ein Land wie China nuklear erpressen können. Dieses habe bedeutend weniger Atomwaffen als Russland und die USA. Russlands Atomwaffenpotenzial, dem der USA ebenbürtig, verhindere das globale Gewaltmonopol und bringe die unipolare Weltordnung zum Straucheln. „Das Konzept der Unipolarität macht die USA automatisch zum Gegner Russlands.“

Der Publizist ging in seinem Vortrag auch auf die Versuche der USA ein, die Landmasse Eurasiens mit seiner Geschichte voller Imperien und den Rohstoffen unter Kontrolle zu halten. Das sei im Fall Russlands aber bis heute nicht gelungen. Russland fordere durch seine bloße Existenz die unipolare Weltordnung der USA heraus. Das bezog Ritz auch auf den Bereich der Kultur, den die USA ebenfalls beherrschen, „durch den großen Einfluss von Hollywood-Filmen, durch Public Relations-Industrien. Sie sind sozusagen der Trendsetter, sie setzen die modernen Trends.“

„Russland sollte wirtschaftlich verbluten“

Die europäische Kultur habe der dominanten US-Pop- und Lifestyle-Kultur nichts entgegengesetzt, trotz ihrer reichen Geschichte. „Um diese Macht zu kontern, bräuchte man Zugang zur europäischen Weltkultur.“ Das sei China mit seiner eigenständigen 5000 Jahre alten Kultur nicht möglich. Die verstehe niemand in Europa und in anderen Teilen der Welt, so Ritz. Nur Russland, das zu Europa gehöre, könne das leisten. Es habe immer noch die kulturelle Souveränität und könnte andere Akzente setzen. Damit ist es aus seiner Sicht auch in diesem Feld ein potenzieller Gegner der USA.

Der Krieg in der Ukraine wurde vom Westen vorbereitet, sagte der Publizist. In dem gemeinsam mit Ulrike Guérot verfassten Buch „Endspiel Europa“ bringt er zahlreiche Belege dafür. „Man wollte erreichen, dass Russland sozusagen wirtschaftlich an diesem Krieg verblutet.“ Die gewünschte Folge: innere Unruhen und „dann eine Art Machtwechsel durch Netzwerke, die man inzwischen in Russland hat“. Doch das habe nicht funktioniert, stellte Ritz fest. „Russland hatte sich scheinbar doch besser vorbereitet auf diesen Konflikt, als manche dachten.“

Der Westen habe sich da verkalkuliert und nicht damit gerechnet, dass weite Teile der südlichen und östlichen Hemisphäre in diesem Konflikt neutral bleiben würden. Es sei wahrscheinlich nicht erwartet worden, dass Indien sehr große Ölmengen von Russland kauft, dass auch China zum Hauptmarkt für russische Produkte wird. Das sei aber gar nicht überraschend, so der Publizist. Vielen aufsteigenden Schwellenländer sei klar, „dass sie, wenn Russland als zweite Nuklearmacht nicht mehr da ist, dann ins Fadenkreuz der USA geraten können. Vor allem China weiß das, glaube ich.“

So sei der gegenwärtige Konflikt entstanden, in dem sich zwei Weltordnungskonzepte gegenüberstehen, das unipolare und das multipolare Konzept. Eine multipolare Weltordnung mit verschiedenen Machtzentren habe zwar ein empfindliches und anfälliges Gleichgewicht. Aber aus Sicht von Ritz kann sie friedlicher sein. Denn: „Eine unipolare Welt funktioniert eigentlich nur als Weltdiktatur. Und um als Weltdiktatur zu funktionieren, muss man vor allem gegen die kulturelle Verschiedenheit der Welt vorgehen. Weil, solange es eigenständige Kulturen der Welt gibt, können die als Basis für Unabhängigkeit da sein.“

„Höheres Kulturniveau ermöglicht Frieden“

Die Globalisierung zeige, dass andere Kulturen angeglichen und untergeordnet werden, zum Teil gewalttätig. „Die unipolare Weltordnung muss ständig eine Macht-Hierarchie aufrechterhalten und dafür Kriege führen und die Kultur angleichen sowie die Souveränität verschiedener Bereiche immer wieder infrage stellen“, erklärte Ritz dazu.

„In einer multipolaren Welt könnten sich die verschiedenen Kulturräume ihrer eigenen Logik nach entwickeln. Das Kulturniveau könnte insgesamt angehoben werden. Und wenn das Kulturniveau angehoben wird, besteht auch eine Friedensfähigkeit der Gesellschaften.“

„Es sollte es auch im Interesse des Westens sein, eine multipolare Weltordnung anzustreben“, sagte der Publizist. „Eigentlich widerspricht diese unipolare Weltordnung, die der Westen angestrebt hat, nicht nur den Grundsätzen der Aufklärung, sondern letztlich auch den westlichen Werten selbst.“ Er nannte als Beispiel das Prinzip der Gewaltenteilung. „In gewisser Weise würde eine multipolare Weltordnung diese Idee der Gewaltenteilung auf die Welt übertragen.“

Ritz bedauerte, dass sich Europa dem US-amerikanischen Konzept angeschlossen hat, „obwohl es ein Rezept für Chaos und einen dritten Weltkrieg ist“. Gegenwärtig gehe es darum, die Eskalationsspirale kurzfristig zu unterbrechen. „Wir brauchen jetzt einfach eine Friedensbewegung“, stellte er klar. Diese müsse die Konzepte von Unipolarität und Multipolarität verstehen und diskutieren. Gemessen an seiner Werteordnung, bräuchte auch Europa eine multipolare Weltordnung.

„Eigentlich könnten wir uns da mit den Chinesen und Russen einigen, denke ich, weil sowohl die wirtschaftliche Entwicklung der Welt als auch die kulturelle Vielfalt der Welt eigentlich nach einer multipolaren Ordnung verlangen.“ Anstatt sich mit den USA dagegen aufzulehnen „und sogar den Weltkrieg zu riskieren“, sollte das US-Konzept der Unipolarität in Frage gestellt werden. „Dafür lohnt es sich einfach nicht, einen Krieg zu führen.“

„Nur die Gesellschaft kann die Eskalation stoppen“

In der Diskussion nach seinem Vortrag erklärte Ritz unter anderem: „Ich denke, wir werden den Zusammenbruch der USA erleben.“ Das begründete er mit der von China vermittelten Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Das sei ein Moment wie 1989, als Ungarn den Zaun nach Österreich öffnete. Das gilt als erster Schritt zur Öffnung der Berliner Mauer und zum Ende des sozialistischen Systems.

Eine ähnliche Kettenreaktion erwartet Ritz nun durch die saudisch-iranische Annäherung, die die bisherige Dominanz der USA im Nahen Osten in Frage stellt. Saudi-Arabien galt seit Jahrzehnten als Verbündeter der USA, die gleichzeitig den Iran als Feind behandelten, seit dort 1979 der Schah gestürzt wurde.

Ritz befürchtet, dass die für den Konflikt verantwortlichen Politiker nicht mehr aus der Eskalationsspirale aussteigen können, wie er während des Vortrages sagte. „Diese Leute können jetzt gar nicht mehr umstellen auf Verhandlungen. Die können jetzt nicht wie Willy Brandt oder Egon Bahr sagen: Vielleicht sollte man sich mal in die Position des anderen versetzen und die Interessen der anderen Seite eruieren. Das geht gar nicht mehr angesichts der Position, die sie in der Vergangenheit bezogen haben.“

Die Eskalation zu stoppen, das müsse aus der Gesellschaft kommen: „Wenn wir in diesem Land eine Friedensbewegung auf die Beine stellen und wenn wir noch regelmäßiger Demonstrationen haben, als wir sie jetzt schon haben, in einem größeren Umfang. Und wenn Leute anfangen, Briefe an Abgeordnete zu schreiben oder an Journalisten, wenn die Leute, die dieses Land regieren, merken, es gibt einen Stimmungsumschwung in diesem Land, dann könnte sich etwas ändern.“