„Ich habe Gorbatschow zu lange vertraut“ – Egon Krenz über Verhältnis DDR-UdSSR 1989

Das Verhältnis zur Sowjetunion war in jeder Hinsicht für die DDR von existentieller Bedeutung. Ex-DDR-Staats- und Partei-Chef Egon Krenz hat in einem neuen Buch seine ungewöhnlichen Erlebnisse und Erfahrungen im Umgang mit den Russen öffentlich gemacht. Darin erzählt Krenz auch, warum Michail Gorbatschow Erich Honecker misstraute – und umgekehrt.

Im Sommer 1984 wurde Erich Honecker in Moskau von Michail Gorbatschow zurechtgewiesen, was das Verhältnis zwischen der DDR und der BRD anging. Honeckers Bemühungen um ein besseres Verhältnis zu Bonn und für nukleare Abrüstung würden den sowjetischen Interessen schaden. Der fast zwei Jahrzehnte Jüngere, damals noch stellvertretende KPdSU-Generalsekretär, hat die Zurechtweisung des älteren Generalsekretärs der SED und DDR-Staatschefs als „Uhrenvergleich“ bezeichnet. 

Egon Krenz bei der Buchvorstellung

So berichtet es zumindest der Honecker-Nachfolger Egon Krenz in seinem neuen Buch „Wir und die Russen. Die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau im Herbst ’89“. Passend dazu ist auf dem Titel ein Foto vom 7. Oktober 1989 zu sehen, auf dem Gorbatschow neben Honecker steht und auf die Uhr schaut. Gorbatschow war da bereits seit 1985 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Honecker hatte das Amt in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) seit 1971 inne.

„Verspätungen bedeuten Niederlagen“

Von dieser Begegnung aus Anlass des 40. Gründungsjubiläums der DDR ist die angebliche Aussage des KPdSU-Chefs berühmt geworden: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Diese Wiedergabe stammt allerdings nur vom Dolmetscher Helmut Ettinger, die genauen Worte Gorbatschows gelten als nicht nachvollziehbar. 

In den 1993 von Daniel Küchenmeister veröffentlichten Protokollen von Vieraugen-Gesprächen zwischen Honecker und Gorbatschow ist auch das der Begegnung beider am 7. Oktober 1989 in Ost-Berlin zu finden. Darin sind zwei Aussagen des KPdSU-Chefs enthalten, die dem berühmten Zitat nahekommen. Einmal soll er Honecker gesagt haben: „Aus eigener Erfahrung wisse er, dass man nicht zu spät kommen dürfe.“ An anderer Stelle sagte er der nicht wörtlichen Wiedergabe zufolge: „Verspätungen bedeuten Niederlagen“, die antisozialistische Kräfte ausnutzen könnten. Doch auch das passt zum Titelbild des neuen Krenz-Buches.

Das Buch wurde vorab von einigen Medien als Abrechnung des Honecker-Nachfolgers und letzten Generalsekretärs der SED mit dem letzten Generalsekretär der KPdSU und einstigen angeblichen Hoffnungsträger in Moskau bezeichnet. Doch es ist mehr, weil Krenz darin eine Entwicklung im Verhältnis beider Staaten und Parteien nachzeichnet, die angeblich in „unverbrüchlicher Freundschaft“ verbunden waren. Er zeigt vor allem anhand seiner eigenen Erfahrungen und Aufzeichnungen, wie sich diese Beziehung zuspitzte und spätestens 1989 zerbrach.

„Es hat mich um den Schlaf gebracht“

Am Donnerstag stellte Krenz das Buch im Russischen Haus der Wissenschaften und Kultur in Berlin vor. Mehr als 500 Zuhörende füllten den großen Saal des Hauses in der Friedrichstraße. Als der einstige SED-Generalsekretär den Saal betrat, kam Beifall von jenen auf, die zum Großteil in der DDR aufgewachsen sein dürften. Unter ihnen waren zahlreiche „Freunde und Weggefährten“ des einstigen SED-Hoffnungsträgers. Sie klatschten auch, als Krenz auf eine Frage des russischen Journalisten Wladimir Sergijenko zu den deutschen Panzern an der russischen Grenze sagte: „Eine Schande!“

Nach einem kurzen Blick auf die Uhr zu Beginn erklärte Krenz, das Schreiben des Buches sei ihm nicht leicht gefallen. „Es hat mir manche schlaflose Nacht bereitet. Es trägt nämlich auch autobiografische Züge. Das heißt, mir ist beim Schreiben alles noch einmal durch den Kopf gegangen, unsere Höhen, unsere Tiefen, unsere Chancen, unsere verpassten Chancen, vor allem aber die Freundschaft zur Sowjetunion. Bei allem, was man heute daran kritisieren kann: Ohne sie hätten wir 40 Jahre DDR nicht erlebt.“

An der Stelle bekam Krenz ebenfalls deutlichen Beifall von den Zuhörenden. In dem Buch beschreibt er die zahlreichen Querelen zwischen der DDR-Führung und Moskau. Am Donnerstag erklärte er, was dennoch das Entscheidende für ihn bleibe: „Dass künftige Generationen sich daran erinnern sollen, dass Russen und Deutsche viele, viele Jahre in Freundschaft und Eintracht gelebt haben und dass leider das von den heute Regierenden in Frage gestellt wird.“

„Verrat bleibt Verrat“

Das Buch beruhe auf dem, was er selbst erlebt und aus ihm zugänglichen, zum Teil lange geheimen Dokumenten erfahren habe. „Ich mache keine Abrechnung“, hob er hervor, „auch nicht mit Gorbatschow. Abrechnen gehört nicht zu meinem Charakter. Ich nenne Fakten, keine Vermutungen und lasse oft den Lesern das Urteil.“ Er fälle selbst nur sehr differenzierte Urteile, sagte der heute 82-Jährige. Allerdings zeigt er im Buch deutlich, wie sehr er inzwischen von Gorbatschow enttäuscht ist, nachdem er ihn einst ebenfalls als „Hoffnungsträger“ ansah und ihm lange Zeit vertraute.

„Es hat gedauert, bis ich Weggefährten verstand, die ihn einen Verräter nennen. Ich habe ihm vertraut. Heute weiß ich: viel zu lange.“ Und: „Verrat gibt es ja nicht nur aus Berechnung. Es gibt ihn auch aus Eitelkeit, aus Missgunst, Unwissen, aus Schwäche, Unentschlossenheit, Selbstüberschätzung, Eigenliebe und manch anderem. Doch objektiv bleibt es Verrat.“

Die benannten Tatsachen und Ereignisse reichen seinen Worten nach bis zum 4. Dezember 1989. Das war der Tag, an dem er als bereits zurückgetretener SED-Generalsekretär, aber Noch-DDR-Staatsratsvorsitzender nochmal in Moskau war und ein letztes Mal Gorbatschow traf. „Egon, weiche nicht zurück“, habe ihm dieser damals beim Abschied gesagt, wie in dem Buch von Krenz über den „Herbst ‘89“ zu lesen ist. Alles Weitere danach habe er nicht mehr selbst miterlebt.

„Moskau an der Wiege und am Sterbebett der DDR“

Die „Fans von Krenz“ hörten ihm aufmerksam zu, als er die Einleitung seines neuen Buches vorlas, bevor sie später Schlange standen, um sich Bücher von ihm signieren zu lassen. Auf 16 Seiten begründet er, warum er aufgeschrieben hat, was er erlebte und was er darüber denkt. Das reicht von einem Blick in die Geschichte, warum die DDR gegründet wurde, bis zum Blick auf das gegenwärtige deutsch-russische Verhältnis.

„Die Sowjetunion stand an der Wiege der DDR, aber auch an ihrem Sterbebett“, ist da zu lesen und war am Donnerstag von Krenz zu hören. Er erinnert zu Beginn des Buches daran, dass die DDR natürlich nicht losgelöst von der internationalen Situation existierte: „Die Politik beider deutscher Staaten war immer auch ein Anwendungsfall des Verhältnisses zwischen den USA einerseits und der UdSSR andererseits. War weltpolitisch Entspannung angesagt, dann durften sich auch die deutschen Staaten entspannen. Lagen die Großen im Streit, dann war das auch zwischen der BRD und der DDR so.“

Im Verhältnis zu Moskau habe gegolten: „Wenn sich die DDR an die Regeln hielt, war ihr Verhältnis zum großen Bruder in Ordnung. Durchbrachen wir aus Moskauer Sicht die Gemeinsamkeit, dann gab es Schwierigkeiten bis hin zur Aufgabe der DDR.“ Das sei 1953 der Fall gewesen, als Lawrentij Berija nach Stalins Tod die DDR für zehn Milliarden Dollar aus dem Westen loswerden wolle. 

Gorbatschows Verrat an der DDR als Rache?

Später habe die von Honecker aktiv betriebene deutsch-deutsche Annäherung in den 1980er Jahren Einfluss auf die Deutschland-Politik von Gorbatschow gehabt, so Krenz. Dieser auf Abrüstung und eine „Koalition der Vernunft“ ausgerichtete Kurs der SED-Spitze ist in Moskau lange Zeit auf Unverständnis und Widerstand gestoßen, wie in dem Buch zu erfahren ist.

Als Honecker 1987 nach Bonn reiste und dort von Bundeskanzler Helmut Kohl empfangen wurde, hatte die KPdSU-Führung das zuvor bereits sechsmal verhindert. Der SED-Generalsekretär fuhr dann doch, obwohl Gorbatschow das nicht wollte. „Den Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik haben wir alle gefeiert“, erinnerte sich Krenz bei der Buchvorstellung.

„Aber im Nachhinein erfahren wir nun, dass das für Gorbatschow Anlass war, seine Deutschland-Politik zu verändern.“ Der letzte KPdSU-Generalsekretär gab 1989/90 die DDR für den Versuch preis, mit westlicher Hilfe die Sowjetunion zu retten – mit bekanntem Ergebnis.

Zwischenruf zu chinesischem Weg

Es sei alles „komplizierter als nur Schwarz-Weiß“, erklärte Krenz den Zuhörenden und meinte, er sei für differenzierte Sichten.

„Es ist schade, dass es diese Auseinandersetzungen gab. Aus heutiger Sicht sage ich: Wenn Gorbatschow und dann auch Jelzin einen anderen Weg gefunden hätten, zum Beispiel einen Weg, den die chinesischen Kommunisten gegangen sind, wäre das vielleicht eine Alternative gewesen.“ 

Aus dem Publikum wurde an der Stelle die Frage dazwischengerufen, welcher Weg in China genommen wurde. Vielleicht spielte das auf die Gerüchte an, Krenz habe bei seinem Besuch in China im September 1989 die Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz in Peking vom Juni des Jahres gut geheißen und sei für eine „chinesische Lösung“ in der DDR gewesen. 

Doch inzwischen meinen Historiker wie Martin Sabrow, Krenz habe genau eine solche gewaltsame Lösung der Probleme im eigenen Land verhindern wollen. Davon zeugen auch zahlreiche seiner politischen Maßnahmen, als er im Oktober 1989 das Amt von Honecker übernahm. Am Donnerstag sagte er auf den Zwischenruf zu den chinesischen Kommunisten: „Sie haben immerhin in den letzten Jahren 800 Millionen Menschen aus der Armut geholt und stellen sich das Ziel, alle aus der Armut zu holen.“

„Keine Panzer und kein Schießbefehl“

Der einstige DDR-Staatschef las auch aus dem Kapitel seines neuen Buches vor, in dem es um den 9. Oktober 1989 in Leipzig ging. Damals beteiligten sich 70.000 Menschen an der „Montagsdemo“ auf dem Stadtring der Messe-Stadt. Zuvor gab es zahlreiche Gerüchte über einen möglichen Einsatz des Militärs gegen die Demonstranten, bis hin zu einem angeblichen Schießbefehl. Solche Behauptungen seien vor allem von bundesdeutschen Medien gekommen, schreibt Krenz.

Doch der 9. Oktober vor 30 Jahren sei ohne Blutvergießen geblieben. Krenz widersprach bei der Lesung erneut dem ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler, der 2009 die Gerüchte über die geplante Gewalt wiederholt hatte:

„Weder gab es Panzer vor noch in der Stadt. Es gab keinen Befehl, auf Menschen zu schießen. Es waren weder Blutplasma noch Leichensäcke bereitgestellt worden. Nicht einmal eine ‚Stadthalle‘ gab es. Frei erfunden, vorgetragen vom Bundespräsidenten, wiederholt von anderen Festrednern und verbreitet von den Medien.“

„Die schwierigste Nacht und die schwierigste Entscheidung“

Im Buch beschreibt er, was er als Lehre aus den Ereignissen sah: „Es müssen jetzt Befehle her, die garantieren, dass niemand mehr die Nerven verlieren kann.“ Das hat Krenz auch in der Nacht vom 9. November bewegt, als die Grenzen ungeplant geöffnet wurde. „Ich möchte die Nacht vom 9. zum 10. November nicht noch einmal erleben“, gestand er seinem Publikum. 

„Das war die schwierigste Nacht und die schwierigste Entscheidung, die ich zu treffen hatte.“ Er hätte ja beim Oberkommando der sowjetischen Truppen in der DDR in Wünstorf anrufen können und sie bitten können, gemäß ihrer Pflichten nach dem Vierseitigen Abkommens zu Berlin von 1972 aktiv zu werden. Ausdrücklich wandte er sich gegen die Sicht, dass es vor 30 Jahren keine Alternative zur Grenzöffnung gegeben habe. 

„Aber eine falsche Entscheidung in jener Nacht hätte Blutvergießen bedeutet.“ Das sei „Erbe der DDR“ sagte Krenz, dass das nicht geschehen sei. Die Grenzsoldaten der DDR hätten gemäß ihrer Erziehung in dem Land gehandelt, „dass man die Waffen nicht gegen das eigene Volk richtet“.

Er gestand ein, dass er in dieser Nacht Angst gehabt habe. Er ärgere sich auch darüber, wie die Öffnung der Grenze ablief, und sei darauf nicht stolz. Aber:

„Für mich ist das Allerwichtigste, dass am 9. November abends nicht Blut, sondern Sekt floss.“

In seinem neuen Buch beschreibt er im Kapitel „Wahrheiten und Legenden vom 9. November“ unter anderem die Reaktionen Moskaus und seiner Vertreter. Er habe am Folgetag ein Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter Wjatscheslaw Kotschemassow über die Ereignisse gehabt. Beim Abschied habe ihm der Diplomat erklärt: „Beachten Sie, Genosse Krenz, dass nicht alle Genossen des Politbüros, denen Sie vertrauen, auch Ihnen vertrauen. Ich versuche, einige Hitzköpfe zu beruhigen. Bedenken Sie aber bitte auch, dass ich zwar der sowjetische Botschafter bin, es gibt aber noch andere sowjetische Institutionen in der DDR, über die ich nicht Bescheid weiß.“

Wer mehr dazu erfahren möchte, der sollte das neue Buch von Krenz lesen. Es ist bereits auf Platz 1 von Beststeller-Listen gelandet, obwohl es gestern noch nicht im Buchhandel zu haben war, wie Verleger Frank Schumann berichtete.

Egon Krenz: „Wir und die Russen – Die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau im Herbst ’89“
Verlag edition ost, 2019. 304 Seiten. ISBN 978-3-360-01888-5. 16,99 Euro