Militärhistoriker Wette: „Wir müssen den Ernstfall Frieden lernen!“

Lässt sich in diesen Zeiten der Kriege und der Konfrontationen vom „Ernstfall Frieden“ reden und schreiben? Dem Militärhistoriker und Friedensforscher Wolfram Wette ist das Dilemma klar. Gerade deshalb hat er im vergangenen Jahr ein Buch unter genau diesem Titel veröffentlicht. Wette hält es besonders heute für wichtig, darüber zu reden.

Er hoffe, dass die Beziehungen zwischen den westeuropäischen Ländern und Russland „so stabil sind, dass sie insgesamt in der Zukunft tragen werden“, und sich mittelfristig wieder verbessern. „Die meisten Menschen haben begriffen: Nur ein gemeinsames Europa kann Stabilität schaffen und in dieser komplizierten Welt überleben.“ Das sagte der renommierte Militärhistoriker und Friedensforscher Wolfram Wette im Gespräch mit Sputniknews aus Anlass seines Buches „Ernstfall Frieden – Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914“.

Die Formel vom „Ernstfall Frieden“ geht zurück auf die Rede am 1. Juli 1969 des damals frisch gewählten Bundespräsidenten Gustav Heinemann. Darauf weist Wette in seinem Buch hin, das 2017 im Donat-Verlag erschienen ist. Im Gespräch mit Sputnik sagte er dazu, Heinemann habe es als seine „erste Verpflichtung“ bezeichnet, dem Frieden zu dienen. Der Frieden sei der „Ernstfall, in dem wir uns alle zu bewähren haben“, habe der damalige Bundespräsident hervorgehoben – besonders gerichtet an seine eigene Generation der Kriege.

„Das war ein gewichtiges Wort, ein Kristallisationspunkt, an dem sich die Geister geschieden haben“, erklärte der Historiker. „Die einen haben gesagt: Ja, das entspricht den Erfordernissen unserer Gegenwart. Die anderen haben gesagt: Das kann doch wohl nicht wahr sein, schon immer hat gegolten, der Krieg ist der Ernstfall. Das jetzt einfach umzudichten, das geht nicht!“ Besonders in militärischen Kreisen der Bundesrepublik sei Heinemanns Rede als „tendenzielle Entwertung der eigenen Profession und damit als eine Provokation empfunden worden“, schreibt Wette im Buch.

„Das dürfte bis zum heutigen Tag nicht wesentlich anders sein“, vermutet er. Die damals von Heinemann und der Koalition aus SPD und FDP in Gang gesetzte Entspannungspolitik hätten viele Menschen als Beweis empfunden, „dass Frieden geht und der Ernstfall sein kann“ – in beiden damaligen deutschen Staaten, wie Wette betonte. Er nimmt an, insgesamt habe die Mehrheit der Bevölkerung das so gesehen:

„Diejenigen, die strikt dagegen waren, das waren die, die an dem militärischen System irgendwelche Interessen hatten. Das waren die konservativen Militärs. Die haben sich gesagt: Dann wird unserer ganzen Legitimationsgrundlage der Boden entzogen, wenn der Frieden der Ernstfall sein soll und wenn der Bundespräsident sich bessere Lösungen als die Bundeswehr zur Friedenssicherung vorstellen kann. Solche Denkweisen hat es sicher auch in der Rüstungsindustrie gegeben und bei jenen Intellektuellen an den Universitäten und den Journalisten, die mit dem Militärisch-Industriellen Komplex irgendwie verknüpft waren.“

Angesprochen auf anderslautende Reden nachfolgender Bundespräsidenten wie der von Joachim Gauck über „Deutschlands Rolle in der Welt“ 2014 sagte der Historiker: „Ich überlege mir, was Gustav Heinemann dazu gesagt hätte.“ Dieser hätte wahrscheinlich eine „sehr kritische Position“ gegenüber dem, was Gerhard Schröder 2002 mit der neuen Legitimierung des Militärischen und dessen Enttabuisierung gefordert habe. Wette glaubt, Gauck, der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hätten von der Bevölkerung großen Beifall bekommen, wenn sie 2014 gesagt hätten, wie sich die nicht zu bestreitende gestiegene Verantwortung Deutschlands in nichtmilitärischen Formen zeigen kann. Stattdessen behaupteten sie, dass sich die Verantwortung militärisch zeigen müsse.

Aus Sicht des Militärhistorikers und Friedensforschers öffnet die Rede vom Militär als letztem Mittel der Vorstellung „Tür und Tor“, dass dieses immer bereitstehen müsse, „um angebliche Krisen und Konflikte lösen zu können“. Dem setzte er entgegen: „Es ist noch nicht die Einsicht durchgedrungen, dass der Einsatz von Militär eben keine Konflikte löst, sondern dass andere Mittel ergriffen werden müssen, um aktuell und um dauerhaft stabile Verhältnisse zu schaffen.“

Wette widersprach dem Eindruck, dass die heutige Regierungspolitik wieder auf Konfrontation und Eskalation gerade gegenüber Russland setze, während die Bevölkerungsmehrheit für Friedens- und Entspannungspolitik sei. Bei vielen Spitzenpolitikerin sei die Meinung aus der Bevölkerung angekommen. Er verwies auf die Aussagen von Kanzlerin Angela Merkel zum Beispiel in der Ukraine-Krise, wonach es keine militärische, sondern nur eine diplomatische Lösung geben könne. Ebenso erinnerte er an das Nein des damaligen Außenministers Guido Westerwelle zum Angriff auf Libyen 2011.

So habe die Kanzlerin auch aktuell eine deutsche Beteiligung am westlichen Angriff auf Syrien abgelehnt und sich für eine diplomatische Lösung ausgesprochen. Merkels nachträgliche verbale Unterstützung für den Völkerrechtsbruch der USA, Großbritannien und Frankreichs in der Nacht zum 14. April sieht der Historiker als „klaren Widerspruch“, den er sehr bedaure. Die Bundesregierung müsste gegenüber ihren Verbündeten eine klarere Sprache sprechen.

Er wolle mit seinem Buch über die „Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914“, wie es im Untertitel heißt, nicht als „Besserwisser“ erscheinen, der ein „politisches Programm daraus für die Gegenwart und Zukunft“ anbiete. Für ihn sei die historische Frage zentral: „Was haben die Deutschen gelernt durch den 1. Weltkrieg und durch den 2. Weltkrieg?“ Ihn beschäftigte ebenso die Frage, wie die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen damit umgingen.

Wetter erinnerte im Gespräch an die Vielen, die in Deutschland nach 1918 forderten: „Nie wieder Krieg!“ Das geschieht auch im Buch mit zahlreichen Fotos und Dokumenten, dessen Titel die Zeichnung von Käthe Kollwitz „Nie wieder!“  zeigt. Der Historiker verwies ebenso auf die Gruppen, die das „Unrecht von Versailles“ mit Gewalt sprengen wollten und die sich „geheim, aber sehr konsequent auf einen neuen Waffengang“ vorbereiteten – „in den alten Gleisen des Schwert-Glaubens“.

Doch dieser erste Anlauf eines Umdenkens sei damals für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung gescheitert. Dagegen war nach 1945 „der Krieg desavouiert, auf der ganzen Linie“, so der Historiker. Das habe auch für das deutsche Militär gegolten. Zur Parole „Nie wieder Krieg!“ sei nun auch „Nie wieder Militär!“ gekommen. Das habe es zum Beispiel dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer erschwert, die Pläne einer Remilitarisierung durchzusetzen. Immerhin hätten damals auch die deutschen Politiker nicht mehr auf einen Krieg hingearbeitet, sondern gelernt, in internationalen Kategorien der Friedenssicherung zu denken.

Die Gesellschaft der Bundesrepublik habe sich Schritt für Schritt dahin bewegt, dass der Frieden akzeptiert wurde, stellte Wette im Gespräch fest. Das sei bis heute zu spüren, so daran, dass vier Fünftel der Bevölkerung zivile statt militärische Mittel zur Konfliktlösung bevorzugen. Die gewachsene Verantwortung Deutschlands solle in „diplomatischer und ziviler Manier“ umgesetzt werden.

Mit dem Ende des Kalten Krieges seit 1989/90 hat sich aus Sicht des Historikers und Friedensforschers politisch viel verändert. Er sprach vom Prozess einer neuen Militarisierung der Außenpolitik und einer „jahrelangen Salami-Taktik“ der Befürworter von neuen weltweiten Einsätzen deutscher Soldaten, „um die Bevölkerung allmählich daran zu gewöhnen“. Wette meint, die Bevölkerung „hat bis zum heutigen Tag nicht mitgezogen – zum großen Leidwesen mancher Militärs“.

Für den Militärhistoriker ist bis heute klar, „dass in den allermeisten Fällen dann, wenn eine Kriegspolitik auf den Weg gebracht wurde, auch die Wahrheit auf der Strecke blieb. Die Bevölkerungen aller beteiligten Länder wurden zum Teil so gründlich in die Irre geführt über das, was die Regierungen tatsächlich inszeniert haben, dass das über ein Jahrhundert hin angehalten hat.“

Er verwies dabei auf die „deutsche Verteidigungslüge von 1914, die bis heute die Menschen beschäftigt“. Wette riet, gegenüber den Kriegslügen und jeglicher Legitimationen für Gewalt skeptisch zu sein. Das gelte auch für das, was derzeit über Giftgas-Einsätze in Syrien gesagt werde. „Die Wahrheit kommt immer erst sehr viel später heraus.“ Besser wäre es, in Konflikten immer die nichtmilitärischen Lösungen zu suchen. „Das ist für viele noch ungewohnt, die von dem Wort Heinemanns vom ‚Ernstfall Frieden‘ noch gar nichts gehört haben. Das muss gelernt werden!“

Wolfram Wette (Jahrgang 1940) ist ein deutscher Militärhistoriker und Friedensforscher, der unter anderem am Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) der Bundeswehr in Freiburg im Breisgau gearbeitet hat. Wette hat zahlreiche Bücher zum 2. Weltkrieg und dem deutschen Militarismus veröffentlicht. Er ist unter anderem Mitglied des Förderkreises des Arbeitskreises „Darmstädter Signal“. Er ist Ehrenprofessor der russischen Universität in Lipezk und im Verein „Kontakte-Контакты e.V. – Verein für Kontakte zu Ländern der ehemaligen Sowjetunion“ aktiv.

Wolfram Wette: „Ernstfall Frieden – Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914“
Donat Verlag 2017; 640 Seiten, 502 Abbildungen; ISBN: 978-3-943425-31-4; Preis: 24.80 Euro