Wie Deutsche sich an die Geschichte und vor allem die Zeit des Faschismus erinnern, hat eine aktuelle Studie untersucht. Das reicht von einem mehrheitlich abgelehnten Schuldgefühl bis hin zur moralischen Verantwortung Deutschlands aufgrund der NS-Zeit. Aber die Erinnerungen sind trügerisch, stellen die Studienautoren fest.
Viele Deutsche wollen wieder stolz darauf sein können, deutsch zu sein. Bei einer repräsentativen Umfrage haben das mehr als die Hälfte der Befragten angegeben. Zugleich meint eine Mehrheit, dass ihre Vorfahren Opfer des Faschismus in Deutschland waren. Das gehört zu den Ergebnissen der Studie mit dem Titel „MEMO Deutschland – Multidimensionaler Erinnerungsmonitor“, die am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde. Darin ging es um die Frage, wie wichtig den Deutschen die Erinnerung an die Geschichte ist und an was sie sich dabei hauptsächlich erinnern.
Der Stolz, Deutscher zu sein, schließe nicht das Bewusstsein um die Verbrechen des Nationalsozialismus aus, betonten Macher und Auftraggeber der Studie. Die wurde vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld erarbeitet und von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) gefördert. Für die zugrundeliegende Stichprobe wurden von Dezember 2017 bis Anfang Februar dieses Jahres 1016 Menschen befragt.
Deutsche als Volk der Opfer
Es gebe bisher kaum sichere Informationen über die Erinnerungen in der bundesdeutschen Bevölkerung und die Themen darin, erklärte Andreas Zick, Projektleiter und Wissenschaftler am IKG. Das sei eines der Motive für die Studie. Bei der Umfrage seien als die wichtigsten Ereignisse seit 1900, an die sich Deutsche erinnern, die Wiedervereinigung 1990 (39 Prozent) und der 2. Weltkrieg (37 Prozent) genannt worden, berichtete Mitautor Jonas Rees.
Nach seinen Angaben haben nur 18 Prozent der Befragten angegeben, dass unter ihren Vorfahren Täter im 2. Weltkrieg waren. 69 Prozent erklärten, dass es in ihren Familien keine Täter gegeben habe. Dagegen haben der Studie zufolge ebenfalls 18 Prozent geantwortet, dass Familienmitglieder Opfern des Faschismus, zum Beispiel Juden, geholfen hätten. Am erstaunlichsten finden selbst die Wissenschaftler, dass 54 Prozent meinen, dass ihre Vorfahren zu den Opfern gehörten. Projektleiter Zick sieht darin ein Zeichen dafür, dass sich die Deutschen nicht mehr als „Täter-Volk“, sondern als „Opfer-Volk“ sehen. Gegenüber Sputniknews sagte er dazu:
„Die Erinnerung daran, dass es in Deutschland viele Täter gab, die Erinnerung an den Faschismus versiegt.“
Allerdings sind der Studie zufolge gerade Jüngere immer unsicherer, was die Rolle der eigenen Vorfahren im 2. Weltkrieg angeht. Zugleich gaben etwa 81 Prozent der Befragten an, dass in ihren Familien nie, selten oder nur gelegentlich über den 2. Weltkrieg gesprochen wurde.
Negative Ereignisse verdrängt
Für die Studie wurde vor allem nach der Erinnerung an die Vernichtung der Juden durch den deutschen Faschismus, als Holocaust bezeichnet, gefragt. „Angesichts von Antisemitismus und Versuchen, Themen wie die Kriegsschuld für Propagandazwecke zu missbrauchen, steht Erinnerungskultur infrage“, so Andreas Zick auf der Pressekonferenz. Gegenüber Sputniknews sagte er, dass sich die Befragten selbst weniger an den Holocaust erinnern – „das mag aber daran liegen, dass Menschen sich an diese negativen Geschichten nicht erinnern möchten“.
Den Unterlagen und den Aussagen auf der Pressekonferenz nach war die Erinnerung an den deutschen faschistischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion mit 27 Millionen Toten kein Thema. Das dürfte ein negativer Beleg der wichtigen Rolle der Medien für die Erinnerung gewesen sein, auf welche die Studienautoren aufmerksam machten. Und so entscheiden sie sich selbst für den Jahrestag der Bombardierung Dresdens durch die westlichen Alliierten 1945, um ihre Studie vorzustellen.
Mehrheit gegen „Schlussstrich“ unter Nazi-Zeit
Es gebe keinen „Schuldkult“ in Deutschland wie rechte und rechtsextreme Kräfte von AfD bis zu den Neonazis behaupten. Das hob IKG-Direktor Zick gegenüber Sputniknews vor. Er verwies mit seinem Kollegen darauf, dass etwa 77 der Befragten antworteten, sie selbst hielten sich nicht für schuldig für den „Holocaust“. Zugleich machen sich den Angaben nach fast 50 Prozent Sorgen, dass sich so etwas wiederholen könnte. Und: 68 Prozent bejahten die Frage, ob Deutschland wegen der Zeit des Nationalsozialismus „eine besondere moralische Verantwortung“ habe. Über ein Drittel fordert außerdem mehr Erinnerung an die damaligen Verbrechen. Nur etwa ein Viertel der Befragten sprach sich für einen „Schlussstrich“ unter die dunkle Vergangenheit aus.
Die Wissenschaftler bezeichnen die Erinnerungen der Deutschen an die faschistische Diktatur als trügerisch. Dafür würde nicht nur sorgen, dass vor allem die Erzählungen in den Familien prägend seien. Das Internet werde zugleich und neben der Schule als Ort der Erinnerung und der Information über die faschistische Zeit bedeutsamer, hieß es bei der Pressekonferenz. Vor allem Jüngere beziehen aus Online-Quellen ihr Wissen oder werden dort auf die NS-Zeit aufmerksam. Zugleich habe aber mehr als die Hälfte der Befragten angegeben, es sei nicht prägend für ihre Erinnerung, was sie online erfahren. Zugleich hielten sie es nicht für besonders glaubwürdig.
Zeitzeugen sterben aus – Folgen für Erinnerung
Die Wissenschaftler sehen als Problem, dass jüngere Menschen hierzulande immer weniger Zeitzeugen kennen oder erleben. Auch das beeinflusse die jeweiligen Erinnerungen. Für Studienleiter Zick ist das mit ein Grund dafür, dass immer mehr Deutsche die eigene Familie als Opfer des Faschismus sehen, wie er im Interview erklärte. Die Erinnerungskultur gerate zudem zunehmend unter politischen Einfluss, was Jüngere verunsichere. Es sei auch bedeutsam, wie Politik offiziell reagiert, sagte Zick zum von der Bundesregierung verweigerten Gedenken an die Opfer der Schlacht von Stalingrad vor 75 Jahren. Zugleich sprach er sich dafür aus, an beide Seiten zu erinnern und nichts auszulassen.
Die Gedenkstätten und Mahnmale für die Opfer des Faschismus würden immer noch eine große Rolle spielen und seien von einem Großteil der Befragten mindestens einmal besucht worden, hieß es auf der Pressekonferenz. Von anhaltend großem Interesse berichtete dabei Jörg Skriebeleit, Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg in Bayern. Das erlebe er auch bei Migranten, neben einer „enormen Empathie“.
Studienleiter Zick sagte, dass sich die deutliche Mehrheit der Befragten gegen eine verordnete Sicht auf die Geschichte gewandt habe. Er bezeichnete es als wichtig, die Erinnerungen an die NS-Zeit zu nutzen, um sich heute für den Schutz vor Ausgrenzung, Rassismus und Neofaschismus einzusetzen. Gedenkstättenleiter Skriebeleit wies auf das große Bedürfnis nicht nur von Deutschen, sondern auch von jenen, die ins Land kommen, hin, mehr zu erfahren und sich auszutauschen. Im Ausland werde genau beobachtet, wie in Deutschland an die NS-Zeit erinnert wird, stellte EVZ-Vorstandsvorsitzender Andreas Ehrhardt klar.