Den Staaten Ost- und Mitteleuropas droht, weiter nur Absatzmarkt für deutsche Produkte und Werkbank deutscher Konzerne zu sein. Dagegen regt sich Widerstand durch die national-konservativen Regierungen dieser Länder. Hinter dem angeblichen neuen „Ostblock in der EU“ steckt mehr, wie eine Analyse zeigt. Die Frage bleibt, wer sich am Ende durchsetzt.
Die Bundesrepublik Deutschland profitiert am stärksten von der EU. Sie profitiert auch am meisten von der Osterweiterung, besonders in ökonomischer Hinsicht. Das macht ein Beitrag in der Februar-Ausgabe der Monatszeitung „Le Monde diplomatique“ (LMd) deutlich. Eine „wesentliche Voraussetzung für das deutsche Wirtschaftsmodell“ war der Aufbau eines Handelsnetzes mit den Ländern Mittel- und Osteuropas, wird darin der US-amerikanische Wirtschaftshistoriker Stephen Gross zitiert.
Die Zeitung bringt es so auf den Punkt:
„Genauer gesagt: der ungleiche Handel mit Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei – also den Ländern der sogenannten Visegrád-Gruppe. Seit einem Vierteljahrhundert praktiziert das reiche Deutschland mit seinen Nachbarn genau das, was die USA mit ihren Fabriken in Mexiko betrieben: die Produktionsverlagerung ins benachbarte Ausland.“
Nationalkonservatismus als Reaktion
Das macht deutlich, dass Deutschland mitverantwortlich ist für das, wovor einige Beobachter inzwischen warnen: Einen neuen „Ostblock“ innerhalb der Europäischen Union (EU). So hieß es unlängst in der Online-Ausgabe der sozialdemokratischen Zeitschrift „Internationale Politik und Gesellschaft“ (IPG):
„Der neue Ostblock ist eine lose Staatenallianz – angeführt von, aber nicht beschränkt auf die Visegrád-Gruppe aus Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei – mit einer ähnlichen national orientierten Sicht der EU, der Menschenrechte, der parlamentarischen Demokratie und der Beziehungen zu Russland.“
Diese Allianz habe „eine Vision für die Umgestaltung der EU: Europa als Konföderation unabhängiger Nationalstaaten, das über die Freihandelszone hinaus nur wenige überstaatliche Aufgaben übernimmt. Dieses ‚Europa der Nationen‘, wie es diese Osteuropäer und ultrarechte Gruppen auf dem gesamten Kontinent oft nennen, soll aus souveränen, christlichen europäischen Staaten bestehen, die geeint sind durch ihre Ablehnung des Islam wie auch des Multikulturalismus.“
„Verlängerte Werkbank der deutschen Wirtschaft“
Der EU-Experte Andreas Wehr hat bereits gegenüber Sputniknews betont: Die meisten großen osteuropäischen Industriebetriebe seien zu Tochterunternehmen westeuropäischer und vor allem deutscher Firmen geworden. „Das ist eine abhängige Entwicklung, die man dort feststellen kann. Das sah lange so aus, dass die Länder durch das starke Wachstum durch die Integration in die EU auch ganz zufrieden sind. Jetzt zeigen sich doch die Probleme: Man ist Arbeitskräftemarkt und exportiert Arbeitskräfte, so Polen nach Großbritannien, Irland, Skandinavien, Deutschland. Vor allem Fachkräfte. Es findet wenig eigene Initiative statt. Eigene große Unternehmen entstehen dort nicht. Das sind Sachen, an denen man sich jetzt stört und die zur Bewegung führen: Wären wir nicht besser aufgehoben, wenn wir wieder stärker auf die nationale Karte setzen?“
Der Politologe Erhard Crome beschrieb im Sputniknews-Interview die Situation der Visegrád-Länder so:
„Sie sind alle verlängerte Werkbank der deutschen Wirtschaft.“
Die inzwischen eher nationalkonservativen Regierungen in diesen Ländern hätten begonnen, „ein Gegengewicht zu bestimmten Vorstellungen aus Brüssel und Berlin abzugeben“.
Deutschland als Raubtier in Ost- und Mitteleuropa
Der LMd-Beitrag von Pierre Rimbert bestätigt die Aussagen von Wehr und Crome:
„Mit dem Fall der Berliner Mauer begann die Raubtierfütterung. Schon während des industriellen Niedergangs in den frühen 1990er Jahren warfen multinationale Konzerne aus Deutschland begehrliche Blicke auf die privatisierten Staatsbetriebe. In Erinnerung bleibt die Übernahme des tschechoslowakischen Autobauers Škoda durch Volkswagen im Jahr 1991.“
Der Autor verweist darauf, dass die bundesdeutsche Wirtschaft schon in den 1980er Jahren begann, in Ostmitteleuropa Zulieferer für die eigenen Produkte zu gewinnen. Das sei nach 1990 und den Veränderungen im Osten ausgebaut worden. Innerhalb von knapp zehn Jahren „wurden die Unternehmen in den mittel- und osteuropäischen Ländern in Fertigungsketten eingegliedert, die vor allem von deutschen Unternehmen kontrolliert wurden“, wird die Wirtschaftswissenschaftlerin Julie Pellegrin zitiert. Zudem seien die deutschen Auslands-Direktinvestitionen (ADI) in diesen Ländern von 1991 bis 1999 um das 23-fache gestiegen, so Autor Rimbert.
„Zu Beginn der 2000er Jahre tätigte Deutschland allein mehr als ein Drittel der ADI in den Ländern der Visegrád-Gruppe und weitete den Einflussbereich seines Kapitals auf Slowenien, Kroatien und Rumänien aus. … 1990 betrugen die Durchschnittslöhne von Warschau bis Budapest schließlich nur ein Zehntel dessen, was in Berlin gezahlt wurde; 2010 war es ein Viertel.“
„Industrieimperium kauft Arbeitskraft seiner Provinzen“
Die osteuropäischen Arbeitskräfte seien wegen ihrer soliden Berufsausbildung aus der Zeit des Sozialismus gefragt gewesen. Für die Fabrikverlagerungen hätten zudem die kurzen Transportwege gesprochen, um die Zulieferprodukte nach Deutschland zu bringen. Als 2004 die EU-Osterweiterung begann, „war die Angliederung der Region an den deutschen Industrieraum schon weit fortgeschritten“, stellt Rimbert fest. Er beschreibt die Folgen so: Der Schatten, den die deutsche Wirtschaftsmacht „auf die Landkarte des Kontinents wirft, hat die Umrisse eines Industrieimperiums, dessen Zentrum die Arbeitskraft seiner Provinzen aufkauft“.
Zwar seien auch die westeuropäischen Nachbarn und Österreich auf den Handel mit Deutschland angewiesen. Aber diese Länder hätten sich „eine gewisse Autonomie“ bewahrt.
„In den osteuropäischen Ländern hingegen verharrt die Industrie in einem subalternen oder gar kolonialen Zustand und ist nach wie vor von ihrem Hauptkunden abhängig: Deutschland.“
Diese Entwicklung habe dazu beigetragen, dass es der bundesdeutschen Wirtschaft und Politik gelang, die eigenen Beschäftigten „mit den Hartz-Gesetzen in die Mangel zu nehmen“. „Der Widerstand gegen die Gesetze zur Flexibilisierung der Arbeit lief ins Leere, und die Löhne gingen runter“, erinnert Rimbert.
Deutschland als größter Nutznießer der EU-Gelder
Doch die Bundesrepublik profitiert noch auf anderen Wegen:
„Für die deutsche Industrie hat sich die Entstehung einer verlängerten Werkbank vor der eigenen Haustür in jeder Hinsicht gelohnt. Denn ein erheblicher Teil der EU-Gelder, die für die neuen Mitgliedstaaten bestimmt waren, flossen wie durch Zauberhand letztlich nach Deutschland.“
Deutschland sei „mit Abstand der größte Nutznießer der Investitionen“, die durch die EU-Politik in den Visegrád-Ländern getätigt wurden. Das hat laut LMd der polnische Ökonom Konrad Popławski festgestellt. Das gelte auch für die Verkehrs-Infrastruktur, die den Transport zwischen Deutschland und den ost- und südeuropäischen Produktionsstandorten absichert.
„Für die Visegrád-Länder fällt die Bilanz eher durchwachsen aus“, meint der Autor. Zum einen hätten ihnen „die deutschen Investitionen einen Modernisierungsschub und massive Technologietransfers sowie Produktivitäts- und Lohnsteigerungen beschert“. Andererseits sei die Region, dieser neue „Ostblock“, jedoch „auf die Rolle einer Zulieferwirtschaft festgelegt, deren Produktionsanlagen westeuropäischen und vor allem deutschen Unternehmen gehören“.
Rimbert betont:
„Aus der Rolle der Montagewerkstatt ausbrechen, eigene Produktionskapazitäten für den europäischen Markt aufbauen: Das ist die ökonomische Seite des EU-skeptischen, konservativ-autoritären Regierungsmodells in Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei.“
Scheitere dieses Modell, „dürfte der relative Wohlstand in den Visegrád-Ländern – selbst wenn die Löhne plötzlich in die Höhe schnellen würden – nur eines befördern: den Absatz deutscher Autos.“