Moskau oder Peking oder neuer „Ostblock“ – die EU auf Sündenbock-Suche

Die Europäische Union hat kein Problem mit einem neuen „Ostblock“ oder einer angeblichen Einmischung Russlands, sondern ist für ihre Krise selbst verantwortlich. Darauf machen zwei Politikwissenschaftler aufmerksam. Für sie ist die EU-Skepsis in Prag, Bratislava, Warschau, Budapest und auch Wien verständlich und hausgemacht.

In der Europäischen Union (EU) droht ein neuer „Ostblock“ zu entstehen. Davor warnt zumindest ein Beitrag in der Online-Ausgabe der sozialdemokratischen Zeitschrift „Internationale Politik und Gesellschaft“ (IPG). Autor Paul Hockenos ist besorgt angesichts der von ihm ausgemachten „Kluft zwischen dem liberalen Westen, der eine weitere Integration anstrebt, und dem nationalistisch orientierten Osten, der einen Teil Mitteleuropas umfasst“. Die EU habe „mit den nationalistischen, euroskeptischen Regierungen Osteuropas unter Führung Polens und Ungarns ein ernsthaftes Problem“.

In der Schweizer Zeitschrift „Weltwoche“ wurde das im Januar positiv gesehen und erklärt, „der Bund der Mitteleuropäer um den Ungarn Viktor Orbán und den Österreicher Sebastian Kurz“ würde die „eiernde deutsch-französische Achse“ als treibende Kraft in der EU ablösen. Das richte sich vor allem gegen die deutsche Dominanz. Dabei werde von diesen Staaten nicht weniger als eine „Kulturrevolution“ gegen „Multikulti“ angestrebt, mit einer Rückkehr zu traditionellen Werten zum Beispiel beim Familienbild.

Verbale Verschärfung und Sprachverwirrung

Für den Politologen und EU-Experten Andreas Wehr zeigen sich daran „erhebliche Differenzen innerhalb der Europäischen Union nicht nur gegenüber Großbritannien mit dem Brexit, sondern auch schon seit längerem mit den Vysegrad-Staaten Polen Ungarn, Tschechien und Slowakei“. Wenn nun von sozialdemokratischer Seite der Begriff „Ostblock“ wieder eingeführt werde, „wundert mich das nicht“, sagte Wehr im Sputnik-Interview. Die Sozialdemokraten hätten in den letzten Monaten erheblichen Druck auf diese Länder ausgeübt, sich insbesondere in der Flüchtlingspolitik zu öffnen, bis hin zu Drohungen vom SPD-Vorsitzenden Martin Schulz.

„Das ist jetzt eine verbale Verschärfung, wenn man nun zu solchen Begriffen greift, die ja aus dem Kalten Krieg kommen“, stellte Wehr fest. Erstaunlich sei, dass nun auch Österreich dazu gezählt werde. Der Politikwissenschaftler Erhard Crome bezeichnete gegenüber Sputnik den Begriff des „neuen Ostblocks“ als „verwirrend“. Im Kalten Krieg habe die Grenzlinie an der Elbe gelegen. In der IPG werde bei den betreffenden Ländern immer wieder von „Mitteleuropa“ geschrieben. Crome verwies darauf, dass die historischen „Mitteleuropa“-Konzepte aus Deutschland kamen. „Die Sprachverwirrung hilft nicht, die Probleme aufzuklären.“

Nationale Karte gegen Entmündigung

EU-Experte Wehr machte zur Frage, ob es eine „Kulturrevolution“ oder nur eine harte Interessenskonkurrenz ist, auf die Hintergründe wie die Geschichte der 2004 der EU beigetretenen Staaten aufmerksam: „Sie mussten sich vorher nach der Wende, von 1989 bis 1991, allen marktwirtschaftlichen Bedingungen anpassen. Und sie haben das ja auch selbst gewollt und durchgeführt. Die Entwicklung in diesen Ländern ist ein bisschen ähnlich der in Deutschland mit der DDR – schneller Aufschwung, starke Investitionen, aber auch eine Entmündigung.“ Wehr wies dabei darauf, dass die osteuropäischen Länder die meisten großen Industriebetriebe verloren. Die seien zu Tochterunternehmen westeuropäischer und vor allem deutscher Firmen geworden. Zudem hätten sie fast den gesamten Bankensektor verloren.

„Das ist eine abhängige Entwicklung, die man dort feststellen kann. Das sah lange so aus, dass die Länder durch das starke Wachstum durch die Integration in die EU damit auch ganz zufrieden sind. Jetzt zeigen sich doch die Probleme: Man ist Arbeitskräftemarkt und exportiert Arbeitskräfte, so Polen nach Großbritannien, Irland, Skandinavien, Deutschland, vor allem Fachkräfte. Es findet wenig eigene Initiative statt, eigene große Unternehmen entstehen dort nicht. Das sind Sachen, an denen man sich jetzt stört und die zur Bewegung führen: Wären wir nicht besser aufgehoben, wenn wir wieder stärker auf die nationale Karte setzen?“

Gegengewicht statt nur verlängerte Werkbank

Politologe Crome erinnerte daran, dass sich die Vysegrad-Gruppe im Vorfeld des EU-Beitritts dieser vier Länder bildete, um diesen ein größeres Gewicht dabei zu verleihen und sich abzustimmen. Es gebe außer regelmäßigen Kontakten und Konsultationen aber keine feste Strukturen oder besondere Beziehungen, auch nicht wirtschaftlicher Art: „Sie sind alle verlängerte Werkbank der deutschen Wirtschaft.“ Die nun eher nationalkonservativen Regierungen in diesen Ländern hätten begonnen, „ein Gegengewicht zu bestimmten Vorstellungen aus Brüssel und Berlin abzugeben“. Das habe sich mit der sogenannten Flüchtlingskrise verschärft.

Wehr ergänzte, die konservativen und stark antikommunistisch ausgerichteten Kräfte in diesen Ländern würden unter anderem darauf verweisen, dass die Integrationspolitik in Westeuropa nicht sonderlich erfolgreich sei. „Das können die ganz gut beobachten. Und sehen ja auch die Probleme, die Deutschland, Frankreich und andere mit den Flüchtlingen haben. Sie sagen sich da: Dieses Problem müssen wir uns nicht auch noch ins Land holen.“ Der Konflikt mit der EU zeige sich nicht nur bei der Flüchtlingspolitik, bestätigte Wehr und verwies auf die Auseinandersetzungen mit Polen und Ungarn über Fragen des Rechtsstaates.

Charles de Gaulle als Ideengeber

Die osteuropäischen Mitgliedsstaaten hätten ein andere EU-Konzept, dass auf dem des „Europas der Vaterländer“ des einstigen französischen Präsidenten Charles de Gaulle zurückgehe, meinte Crome. Dieses sei ohne die entstandene supranationale Ebene ausgekommen und sehe weniger Eingriffe in die nationale Souveränität vor. Diese Idee werde zunehmend auch von konservativen Kräften hierzulande wie der AfD aufgegriffen und sei ein Gegenkonzept zu den „Vereinigten Staaten von Europa“, von denen auch der SPD-Vorsitzende Schulz rede.

Wiens eigenständigere Rolle habe sich schon 2016 gezeigt, als es nach der Initiative der Staaten auf dem Balkan dazu die sogenannte Balkan-Route für Geflüchtete in die EU schloss, erinnerten Wehr und Crome. Ersterer betonte, Berlin habe den damaligen sozialdemokratischen Kanzler Österreichs, Werner Faymann, für diesen Alleingang deutlich kritisiert – bevor es sich damit arrangierte. Crome hob hervor, dass Wien Brüssel über alle Schritte informiert habe und es keinen Einspruch dagegen gab, auch nicht aus Berlin. Unter der neuen Rechts-Regierung in Wien gebe es nicht nur einen eigenständigeren Kurs gegenüber Berlin, sondern nähere sich das Land seinen osteuropäischen Nachbarn weiter an, so Wehr und Crome. Letzterer hob hervor: „Die Regierung in Wien versteht Österreich als Brücke zwischen Ost und West.“

„Politischer Unsinn“

IPG-Autor Hockenos behauptet in der SPD-nahen Zeitschrift, Russland streue „seit Jahren Zwietracht zwischen EU-Mitgliedern – und erntet jetzt die Früchte seiner Bemühungen“. Moskau sei ein „wichtiger Freund“ des neuen vermeintlichen Ostblocks, der diesen und sein Projekt eines „Europas der Nationen“ propagandistisch unterstütze. Wehr sagte dazu: „Man muss ja feststellen: Russland steckt hinter allen möglichen Problemen, die man hat. Das ist natürlich ein Ausweichen und mit gar nichts begründet. Da kann man eigentlich nur darüber lachen.“

„Als politischen Unsinn“ bezeichnete Politikwissenschaftler Crome die behauptete russische Rolle bei der Krise innerhalb der EU. „Man versucht Schuldige auszumachen für Probleme, die man selber geschaffen hat.“ Die EU habe dagegen Probleme mit eigenen Prozessen und den Entwicklung in den Ländern: „Die wollten ja nicht aus der Moskauer Vormundschaft in sowjetischen Zeiten raus, um sich dann der deutschen Vormundschaft via Brüssel zu unterwerfen. Die wollen ihre Dinge selber bestimmen.“

„Keine nationalistische Einheitsfront“

EU-Experte Wehr widersprach der behaupteten Anti-EU-Strategie von Russland, die unter anderem mit den Kontakten zwischen Orbán und Russlands Präsident Wladimir Putin begründet wird. Es gebe bekannte gemeinsame wirtschaftliche Interessen, aber nicht mehr. Prag suche gute Kontakte nach Moskau, „weil das gut für den Frieden in Europa ist“, ergänzte Crome.  Es gebe keine „nationalistische Einheitsfront im Osten der EU, die politisch und sachlich Russland zuzuordnen wäre“.

Wehr fügte hinzu: „In der EU wird ja inzwischen auch diskutiert, ob nicht auch China eine spaltende Rolle spielt dadurch, dass es mit Osteuropa zusammenarbeitet und wirtschaftliche Kooperation entwickelt.“ Die EU suche einen Sündenbock für die eigenen Probleme – „das ist dann gerne Moskau und inzwischen auch Peking. Das ist schon ziemlich absurd.“

Von Andreas Wehr erscheint in Kürze zum Thema ein neues Buch: „Europa, was nun?
Trump, Brexit, Migration und Eurokrise
“ (PapyRossa Verlag)