Die „Alternative für Deutschland“ (AfD) ist keine rechtsradikale Partei, sondern „Fleisch vom Fleische“ des Bürgertums, sagt der Politikwissenschaftler Erhard Crome. Er widerspricht aktuellen gängigen Einschätzungen über diese Partei und warnt vor Vereinfachungen sowie der „Nazi-Keule“. Wirtschafts- und sozialpolitisch sieht er keine Unterschiede.
„Es handelt sich um alten Wein in neuen Schläuchen“, hatte Crome bereits 2015 in seinem Buch „AfD. Eine Alternative?“ (Leseprobe) festgestellt. Er habe damals bereits den deutlichen Einzug der AfD in den Bundestag in diesem Jahr vorhergesagt. Abgesehen von einigen „Schreihälsen“ in dieser Partei schätzt Crome diese als den „früheren rechten Flügel der CDU“ ein, „der vor Merkels Modernisierung in dieser Partei seinen Platz hatte“. Das Programm der AfD gibt aus seiner Sicht den Vorwurf, es handele sich um Nazis, nicht her. Es beziehe sich dagegen auf die Traditionen des Konservatismus und des Liberalismus in Deutschland, auch auf das Grundgesetz der Bundesrepublik.
Der Politologe warnte am Dienstag im Sputnik-Studiogespräch vor Vereinfachungen im Umgang mit der AfD. Während gegenüber der Linkspartei und ihrem Vorgänger die „Stasi-Keule“ geschwungen worden sei, werde gegen die Rechten nun die „Nazi-Keule“ benutzt. Crome sprach sich dafür aus, zu differenzieren und „zu gucken, was sie tatsächlich tun“. Wenn nazi-ideologische Positionen geäußert werden, müsse sich damit offensiv auseinandergesetzt werden. „Ansonsten muss man erstmal zur Kenntnis nehmen: Da sind jetzt Bundestagsabgeordnete, die 13 Prozent der Wählerschaft vertreten.“
„Fleisch vom Fleische des deutschen Bürgertums“
Die AfD-Inhalte seien „nichts anderes als das, was die CDU der alten Bundesrepublik in der Vergangenheit gewesen ist“. Deshalb sei diese Partei „Fleisch vom Fleische des deutschen Bürgertums und seiner politischen Vertretung“, so Crome. Das zeige nicht nur die Herkunft einer Reihe von Parteifunktionären wie Alexander Gauland. Davon zeuge auch, was der Ökonom Heiner Flassbeck bei einer Analyse der Wirtschaftspositionen in den Wahlprogrammen feststellte: Die von Union, FDP und AfD stimmten in ihrer neoliberalen Ausrichtung im Grunde völlig überein, mit nur marginalen Unterschieden.
Zum Selbstbild der AfD gehört, angeblich als Protest-Partei gegen das etablierte Politiksystem der Bundesrepublik anzutreten. Das kommt bei vielen Wählern an. Dazu meinte Crome: Die Themen, „die die Menschen zu Hause diskutiert haben“, seien nicht die gewesen, die im Wahlkampf der anderen Parteien vorkamen.
„Das Flüchtlingsthema war spätestens seit 2015 zuhause ein Thema für die Menschen, nicht nur in dem Sinne, dass man gesagt hat, jetzt wollen wir nicht diese vielen fremden Menschen. Sondern es wurde auch unter dem Gesichtspunkt des Kontrollverlustes diskutiert, dass da Hunderttausende Menschen ins Land kamen und die Regierung nicht wusste, wer da gekommen ist.“
Jeder Terroranschlag und jede Vergewaltigungsmeldung seien Wasser auf diese Mühlen gewesen. Insofern sei „eines der Hauptprobleme, dass die anderen Parteien versucht haben, dieses Thema aus dem Wahlkampf herauszuhalten, es objektiv aber drin war“, erklärte der Politikwissenschaftler. Daraufhin hätten sich viele entschieden, „jetzt wollen wir denen da oben mal eins auswischen“.
„Alte Praxis rechter Politik: Probleme auf Sündenböcke abwälzen“
„Die Wähler lesen ja normalerweise nicht die Parteiprogramme“, erklärte Crome.
„Die nehmen das wahr, was rübergebracht wird. Insofern ist natürlich an diesem rechten Populismus was dran. Indem man zum Beispiel die Konkurrenz zwischen Asylbewerbern oder anerkannten Asylanten und den Unterschichten auf dem ohnehin viel zu engen und viel zu teuren Wohnungsmarkt hervorhebt, spricht man scheinbar ein echtes Problem an, projiziert die Gründe aber nicht auf die eigentlichen Verursacher, nämlich diese neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik, sondern macht die Zugereisten dafür verantwortlich. Das ist Abwälzung auf einen Sündenbock, das ist eine alte Praxis rechter Politik schon immer. Das hat in Teilen funktioniert.“
Die AfD greife die Verunsicherung der Menschen durch die Veränderungen in ihrem Alltagsleben, auch durch die Migranten, auf, betonte der Politikwissenschaftler und hob hervor, diese sei nicht immer bewusste ideologische Fremdenfeindlichkeit. Das führe dazu, dass gesagt werde: „Die sind diejenigen, die das thematisieren und dann wählen wir die! Dass die zur gleichen Zeit in der Wirtschafts- und Sozialpolitik nur noch das Selbe und vielleicht noch schlimmer als die CDU wollen, rückt dabei völlig aus dem Blickfeld.“
Crome sieht eine Mitverantwortung der Partei Die Linke, die früher im Osten Protest-Partei gewesen sei. Derzeit regiere sie in drei Bundesländern mit, worauf alle ganz stolz seien.
„Nur kann man, wenn man in drei Ländern mitregiert, nicht mehr sagen: Wir sind jetzt die Protest-Partei! Das kommt dann nicht so richtig bei den Wählern rüber.“
Das führe bei den Unzufriedenen zur Wahl derer, die als scheinbare oder tatsächliche Alternative auftreten. Der Blick auf die Wahlergebnisse vom Sonntag zeige erneut die „DDR-BRD-Grenze“, auch durch die höheren AfD-Ergebnisse im Osten.
„Keine politische Vertretung ostdeutscher Interessen“
Zu den Gründen für die hohen Stimmzahlen für die AfD in Ostdeutschland zählt für Crome: „Die Mehrheit der Ostdeutschen, die noch da sind – anderthalb Millionen sind ja nach 1990 in den Westen gegangen – fühlen sich nach wie vor abgehängt. Es gibt keinen Ossi, der nicht einen Wessi als Chef hat, und wenn es der Leiter des Finanzamtes ist.“ Es gebe keine politische Vertretung spezifischer ostdeutscher Interessen, „die nach wie vor bestehen“. Das erfolge auch nicht durch die Linkspartei – „je gesamtdeutscher sie wurde, desto weniger war sie ostdeutsche Partei“. Die Ostbeauftragte der Bundesregierung Iris Gleicke von der SPD sei nicht erlebbar gewesen. Der Vorwurf an Angela Merkel als Bundeskanzlerin sei, sie habe sich immer bemüht, nicht als Ostdeutsche aufzufallen.
Mit Blick auf Sachsen, wo die AfD die stärkste Partei nach den Bundestagswahlergebnissen wurde, sagte der Politologe, dass die CDU dort inhaltlich nicht so weit weg lag. Sie habe sich in dem ostdeutschen Bundesland nicht so deutlich gegen die neuen Rechten positioniert wie in anderen Ländern. So sei der Übergang zur AfD für viele Wähler nicht so schwer gewesen, vermutete Crome als „vorläufige These“. Er meinte zu der Einschätzung des Soziologen Holger Lengfeld in der „Süddeutschen Zeitung“ kurz vor der Wahl, „AfD-Wähler sind nicht wirtschaftlich, sondern kulturell abgehängt“: „Da ist sicherlich was dran.“
Der Politologe verwies auf die „Eigenlogik des Medien-Systems in Zeiten des Neoliberalismus“ bei der Frage, ob die Medien der AfD unabsichtlich geholfen haben, indem sie ihr eine Bühne boten und auf die Provokationen dieser Partei ansprangen. Die Suche nach ständig Neuem in einen permanenten medialen Konkurrenzkampf trage dazu bei: „Je schriller die Thesen, desto größer die Leser- oder Zuschauerschaft.“ Es könne aber auch sein, dass der Vorwurf der „Lügenpresse“ von rechter Seite dazu geführt hat, „dass ein Teil der Journalisten auf die von da kommenden Themen eingegangen ist, nach dem Prinzip: Ihr seht doch, wir berichten, was wollt Ihr eigentlich?“ Crome ergänzte: „Ansonsten ist immer das Neue das Spannende.“
„Die AfD ist auf der Reserveposition“
Wenn die AfD ihre innerparteilichen Strukturen festige, könnte sie einen dauerhaften Platz auf der politischen Bühne einnehmen, schätzte Crome ein. Deren derzeitige internen Probleme seien parteiensoziologisch nichts Neues seien. „Eine Gefahr für das Fortbestehen der Partei wäre jetzt, wenn bei der Konstituierung der Bundestagsfraktion noch mehr Leute mit Frauke Petry gehen und zwei Fraktionen entstehen.“ Der Politikwissenschaftler erinnerte an die Aussage der Spitzenkandidatin Alice Weidel kurz vor der Wahl gegenüber der „Frankfurter Rundschau“, dass die AfD „im Jahr 2021 regierungsfähig“ sein müsse. „Das war eine ganz klare Aussage.“
Er habe bereits in seinem Buch vor zwei Jahren darauf hingewiesen, dass für den Fall des Auseinanderkrachens der EU und des Euros Merkel und ihre Politik dafür mitverantwortlich seien.
„Wenn das stattfinden sollte, dann wäre die AfD sozusagen die bürgerliche Partei, die das Ganze politisch auffangen soll und dafür zu sorgen, dass die Alternativen in Deutschland dann nicht nach links gehen. Das ist die Reserveposition, die die AfD jetzt hat und die aus Sicht des bürgerlichen Lagers jenseits aller derzeitigen Auseinandersetzungen mit dieser Partei und um sie besteht.“
Das sei ihre politische Funktion in Deutschland, weshalb sie „ein bleibendes Element des deutschen Parteienwesens“ sein werde, schätzte Crome ein.