Volksfest statt Massaker – Zeitzeugen über Montagsdemo am 9. Oktober 1989 in Leipzig

Wer hat verhindert, dass die Montagsdemonstration in Leipzig am 9. Oktober 1989 wie befürchtet blutig niedergeschlagen wird?  Wer hat sich für eine friedliche Lösung eingesetzt? Warum haben sich die bereitstehenden Sicherheitskräfte doch zurückgezogen? Sputnik hat darüber mit zwei Zeitzeugen gesprochen, die das direkt miterlebt haben.

Wollte die SED-Führung am 9. Oktober 1989 mit allen Mitteln, einschließlich des Einsatzes von Schusswaffen, die erneut angekündigte Montagsdemonstration in Leipzig niederschlagen? Drohte eine „chinesische Lösung“ in der Messestadt? Die Konterrevolution marschiere, ließ SED-Generalsekretär Erich Honecker vorab verkünden und forderte, sie zu stoppen. Auch die Ereignisse Anfang Oktober in Dresden, Ost-Berlin und anderen Städten, wo die Staatsmacht gewaltsam zuschlug, sorgten für diese Ängste.

Am Ende gab es keine Gewalt am 9. Oktober vor 30 Jahren. Die tatsächlich bereitgehaltenen Einsatzkräfte von Volkspolizei, Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und Nationaler Volksarmee (NVA) wurden zurückgezogen. Aus der Demonstration wurde ein Volksfest mit 70.000 Menschen, wie sich der Leipziger Philosoph Bernd Okun im Gespräch mit Sputnik erinnerte.

Fotografiert im Juli 2019 im Zentrum Leipzigs

Dieser Tag in Leipzig und sein friedlicher Verlauf gelten heute als Meilenstein der Protestbewegung in der DDR im Herbst 1989. Die Forderung „Keine Gewalt!“ wurde ihr Markenzeichen – das Bild von der „friedlichen Revolution“ entstand.

Behauptungen eines Bundespräsidenten

Was damals gedroht haben soll, beschrieb der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler 2009 in einer Rede: „Das Wort von der ‚chinesischen Lösung‘ machte die Runde – vom Massaker auf dem Tiananmen-Platz. Vor der Stadt standen Panzer, die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rücksicht zu schießen. Die Herzchirurgen der Karl-Marx-Universität wurden in der Behandlung von Schusswunden unterwiesen, und in der Leipziger Stadthalle wurden Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt.“

Das stimme nicht, erklärte Egon Krenz, letzter SED-Generalsekretär, dazu gegenüber Sputnik, was er beeiden könne. Auch der Leipziger Ex-SED-Sekretär Roland Wötzel widersprach deutlich den Behauptungen des Alt-Bundespräsidenten. So habe ihm unter anderem der renommierte Leipziger Herzchirurg Karl-Friedrich Lindenau versichert, Anfang Oktober 1989 nie für Herzoperationen nach Schusswunden angeleitet worden zu sein.

„Es gab keinen Schießbefehl“, ebenso keine Panzer vor der Stadt, betonte der Ex-Funktionär. Für die bewaffneten Kräfte hätten nur die bekannten und in vielen Ländern üblichen Regeln zum Schusswaffengebrauch gegolten.

Waffen ohne Munition

Der Leipziger Philosoph Bernd Okun widersprach gegenüber Sputnik ebenfalls den Legenden von Vorbereitungen darauf, die Leipziger Montagsdemo am 9. Oktober vor 30 Jahren blutig niederzuschlagen. Dafür seien die Vorkehrungen in den Kliniken für mögliche Verletzte aus seiner Sicht kein hinreichendes Indiz. Bei Massenveranstaltungen würden immer auch Vorkehrungen für Panik oder ähnliches getroffen. Angesichts der vorherigen Montagsdemos sei klar gewesen, dass noch mehr Menschen an diesem Oktobermontag daran teilnehmen würden.

„Natürlich steigt die Erregungskurve, wenn solche Vorkehrungen in dieser angespannten Lage an die Öffentlichkeit kommen.“ Er habe später den letzten Chef der Volkspolizei (VP) in Leipzig, Gerhard Straßenburg, kennengelernt, der ihm erklärt habe, dass bei allen Einsätzen in der Zeit zwar Waffen ausgehändigt wurden, aber ohne Munition, um Katastrophen für den Fall zu verhindern, dass jemand von den Sicherheitskräften die Nerven verliert. Die Präsenz der Uniformierten, mit Helm, Schild und Schlagstock ausgerüstet, habe genügt, habe der Ex-VP-General ihm erklärt.

Leipzig als Brennpunkt

Ex-SED-Funktionär Wötzel war eine der aktiv handelnden Personen am 9. Oktober 1989, die verhinderten, dass es zur zuvor befürchteten Gewalt in der Messestadt kam. Er ist Jahrgang 1938 und war 1989 in der SED-Bezirksleitung als Sekretär zuständig für die Bereiche Wissenschaft, Volksbildung und Gesundheit. Im November 1989 wurde er noch zum letzten SED-Bezirkschef in Leipzig gewählt.

„Leipzig war immer Brennpunkt für politische Ereignisse, die eine Auseinandersetzung der Macht mit der Opposition darstellten“, erklärte Wötzel. Es habe bereits seit mehreren Jahren vereinzelt Demonstrationen und Protestaktionen gegeben, erinnerte er sich. Ab 1988 habe sich die Entwicklung aber zugespitzt.

Ereignisse wie die gefälschte Kommunalwahl im Mai 1989 und die Ereignisse in Peking im Juni des Jahres hätten die Stimmung weiter angefacht. Der SED-Wissenschafts-Sekretär reagierte nach seinen Worten darauf mit einer kleinen Provokation: Im Juni 1989 hielt er an der Leipziger Karl-Marx-Universität eine Rede mit dem provokanten Titel „Werden die Bolschewiki die Macht behalten?“ Die aktuelle Lage in der DDR sei aber der Anlass gewesen, erklärte er rückblickend.

Die Angst vor dem Abend

Nach einer „Sommerpause“ seien im September 1989 seien die im Frühjahr begonnenen Montagsdemonstrationen nach den „Friedensgebeten“ in Leipziger Kirchen wieder aufgenommen worden. Sie hätten mit jedem Montag mehr Zulauf gehabt. „Jetzt wird es wirklich ernst“, habe er angesichts dessen damals gedacht. Innerhalb der SED-Spitze sei erklärt worden, das müsse „im Keim erstickt“ werden. Aus seiner Sicht sei in der damaligen Situation nicht auszuschließen gewesen, „dass manche mit dem Feuer spielen“.

Wötzel gehörte zu den sechs Persönlichkeiten in der Messestadt, die an dem Tag vor 30 Jahren am späten Nachmittag öffentlich alle Beteiligten zum Gewaltverzicht und friedlichen Dialog aufriefen. An dem Aufruf waren neben Wötzel der SED-Propaganda-Sekretär Jochen Pommert, Gewandhaus-Musikdirektor Kurt Masur, SED-Kunst-Sekretär Kurt Meyer, Kabarettist Bernd-Lutz Lange sowie der Theologe Peter Zimmermann beteiligt. Masur verlas am Abend den Aufruf über den Stadtfunk, während er zugleich den Teilnehmenden von Friedensgebeten in vier Kirchen verlesen wurde.

An dem Tag war in Leipzig überall die Anspannung und „die Angst, dass es an dem Abend knallt“, spürbar gewesen seien, wie alle Zeitzeugen berichten. Dazu trug unter anderem ein Leserbrief in der Ausgabe der „Leipziger Volkszeitung“ (LVZ) am 6. Oktober 1989 bei. Darin forderte ein Kampfgruppenkommandeur, bezogen auf die Montagsdemos, „diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden.“ Er fügte hinzu: „Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand!“. Die Betriebskampfgruppen waren paramilitärische Einheiten in den DDR-Betrieben.

Gefahr eines Blutbades

Er habe an dem Morgen erfahren, was die Bezirkseinsatzleitung (BEL) an dem Tag plant, so Wötzel. Das Gremium war eigentlich nur für den Verteidigungs- oder Katastrophenfall gedacht, aber auf Forderung von Honecker einberufen worden. Neben dem 1. SED-Bezirkssekretär als Vorsitzendem gehörten der jeweilige Leiter der Bezirksverwaltung des MfS, der jeweilige Chef der Bezirksverwaltung der Volkspolizei, der Vorsitzende des Rates des Bezirkes sowie der Chef des Wehrbezirkskommandos der NVA dazu. In Leipzig war am 9. Oktober 1989 der amtierende SED-Bezirkschef Helmut Hackenberg Leiter der BEL.

Danach sollten die Demonstration an der Ostkreuzung vor dem Leipziger Hauptbahnhof aufgehalten werden, so Wötzel. Wie an den vorherigen Montagen sollte verhindert werden, dass sie den gesamten Stadtring entlang führt. Er habe am späten Nachmittag die schweren Räumfahrzeuge der Polizei gesehen, die dort bereit standen. Von denen berichtete ebenfalls der Philosoph Okun: „Das hatte ich noch nie gesehen. Da wusste ich: Da ist was im Gange.“

Wötzel war nach eigenen Angaben an dem Punkt klar, dass angesichts der erwarteten Teilnehmerzahlen „blutige Auseinandersetzungen“ drohten. Es habe neben Einheiten der Bereitschaftspolizei sowie der Betriebskampfgruppen auch solche der NVA gegeben, die im Ernstfall zum Einsatz kommen sollten, erinnerte sich Wötzel. Diese hätten aber keine Waffen mit Munition bei sich geführt, widersprach er bis heute kursierenden Legenden.

Es sei auch an den Montagen zuvor immer klar gewesen, dass die Sicherheitskräfte nicht einschreiten, wenn sie nicht provoziert werden, hob der Zeitzeuge hervor. Nur wenn jemand gewaltsam die Sperren durchbrechen wollte, sei reagiert worden. Es habe aber die Gefahr der Eskalation und eines Blutbades bestanden, fügte er hinzu, wenn die Demonstranten sich nicht aufhalten ließen und die Räumfahrzeuge eingesetzt worden wären.

Wissenschaftler mischen sich ein

Der ehemalige SED-Funktionär kennt den Versuch des Leipziger Jugendforschers Walter Friedrich noch am selben Tag bei Krenz in Berlin eine gewaltlose Reaktion der Staatsmacht zu erreichen. Der spätere Honecker-Nachfolger war damals im SED-Politbüro für Sicherheitsfragen zuständig. Aus Berlin zurückkommend habe ihn der Jugendforscher am späten Nachmittag informiert, dass es laut Krenz kein Blutvergießen geben wird, so Wötzel. Allerdings sei nicht klar gewesen, inwieweit darauf gebaut werden konnte. Krenz habe damals im SED-Politbüro keine Mehrheit hinter sich gehabt.

Für den Vormittag hatte der SED-Mann Wissenschaftler der Karl-Marx-Universität eingeladen, um über die Lage zu beraten, berichtete der Philosoph und heutige Kommunikationsberater Okun gegenüber Sputnik. Okun, Jahrgang 1944, war Professor für Philosophie an der Karl-Marx-Universität und gehörte dort zu jenen jüngeren Wissenschaftlern, die längst kritisch auf die Realität der DDR schauten. Er galt auch unter den Studenten als „Reformer“.

Als er an dem 9. Oktober 1989 in der SED-Bezirksleitung ankam, waren seiner Erinnerung nach schon ein halbes Dutzend weiterer Professoren anderer Fachrichtungen anwesend. Wötzel habe die Runde mit der Ansage eröffnet: „Heute schlägt die Konterrevolution in Leipzig zu und wir müssen was tun.“ Daraufhin habe Jugendforscher Kurt Starke auf die Analysen über die Stimmung in der Bevölkerung hingewiesen: „Die Jugend steht zum Sozialismus, aber nicht mehr zu dieser Partei und diesem Politbüro.“

Bitte an die Professoren

Der Historiker Manfred Neuhaus erinnerte in der Runde laut Okun daran: „Jedes Duodez-Fürstentum im 16./17. Jahrhundert löste seine Konflikte eleganter als die SED.“ Er habe selbst hinzugefügt:

„Wenn Du schon von Konterrevolution sprichst: Das ist das SED-Politbüro, das sich weigert, die Lage zur Kenntnis zu nehmen und das bringt das Volk auf. Es gibt eine klare Trennlinie zwischen denen und uns.“

Wötzel habe die Thesen der Universitäts-Wissenschaftler akzeptiert und nur gefragt, was getan werden könnte. Niemand hätte ihn „mühsam umstimmen“ müssen, schätzte der Philosoph den Parteimann ein: „Das war einer der Intellektuellen und Klugen.“

Der SED-Funktionär bat die Professoren, sich in die Nikolaikirche in Leipzigs Zentrum zu setzen und sich dort für einen Dialog anzubieten. Er selbst begab sich nach seinen Schilderungen am Nachmittag mit SED-Kultur-Sekretär Meyer und SED-Propaganda-Sekretär Pommert zu Gewandhaus-Chef Masur. Der weltweit berühmte Musiker habe zuvor seine Sorgen über das Geschehen am Abend mitgeteilt.

Zeichen gegen Konfrontation

Im Gewandhaus ist dann der Aufruf entstanden. Wötzel hatte nach seinen Worten noch den Kabarettisten Lange und den Theologen Peter Zimmermann dazu eingeladen. Lange sei sofort unter der Bedingung dazu bereit gewesen, dass er nicht zum Aushängeschild für die SED gemacht wird. Den sechs Beteiligten sei klar gewesen, es gehe um ein „deutliches Zeichen“ für einen Ausweg aus der bisherigen Konfrontation.

Der Originaltext des Aufrufes vom 9. Oktober 1989 liegt heute im Museum. Laut Wötzel hat Kabarettist Lange die beteiligten SED-Funktionäre beim Abschied nochmal aufgefordert, dafür zu sorgen, dass es tatsächlich keine Gewalt gibt.

Unterdessen saß Philosoph Okun mit anderen lange in der Nikolaikirche, bevor das Friedensgebet begann. SED-Mitglieder hätten viele Plätze besetzt, weil die Bezirksparteileitung hoffte, so die Situation kontrollieren zu können. „Das war so typisch DDR: Die Fassade muss stimmen, wir dürfen uns ja nicht vorm Klassenfeind blamieren und müssen alles unter Kontrolle haben.“

Nach der Angst Volksfest-Stimmung

Die Türen der Nikolaikirche seien verschlossen gewesen, so dass niemand mehr rauskam. Gleichzeitig drangen von draußen Geräusche herein, Klopfen an die Tür, Schreie. Das habe merkwürdig gewirkt, erinnerte sich Okun. Dann habe er den Theologen Zimmermann gesehen, den er aus der Christlichen Friedenskonferenz kannte und schätzte. Daraufhin sei der Aufruf der Sechs verlesen worden, der das Signal zum friedlichen Dialog gab.

„Man konnte mit Händen greifen, wie sich die Situation entspannte“, berichtete Okun. „Danach war Schluss. Pfarrer Friedrich Magirius sagte lächelnd: ‚Es sind ja hier etliche da, die mit den Gepflogenheiten des Montagsgebetes nicht so bewandert sind. Benutzen Sie bitte deshalb den Seitenausgang, damit nichts passiert.‘ Da sind wir raus – und es war eine Volksfest-Stimmung. Das war unglaublich.“

Bernd-Lutz Lange, der Kabarettist, der den Aufruf vom 9. Oktober 1989 mitunterzeichnet hat, hat seine Erinnerungen an den Tag und seine heutige Sicht darauf in einem kürzlich veröffentlichten Buch beschrieben: „David gegen Goliath – Erinnerungen an die Friedliche Revolution“. Darin berichtet er gemeinsam mit seinem Sohn, dem Historiker Sascha Lange, wie es zu der schicksalhaften Situation in der Messestadt vor 30 Jahren kam. Nachzulesen sind zahlreiche Details, wie der Aufruf der Sechs entstand und was dem 9. Oktober 1989 folgte.

Entscheidung zum Rückzug

Zum historischen Fakt gehört, dass die Haltung der drei am Aufruf beteiligten SED-Funktionäre nicht der Mehrheitslinie im Sekretariat der SED-Bezirksleitung entsprach. Der amtierende SED-Bezirkschef Hackenberg habe ihnen nach der Rückkehr in die Bezirksleitung „schwere Konsequenzen“ angedroht, so Wötzel. Sie hätten „die Linie der Partei verlassen“.

Doch am Ende, ratlos angesichts der Informationen über die Lage, fragte der linientreue Scharfmacher den SED-Wissenschaftssekretär, dem er eben noch gedroht hatte: „Was soll ich denn jetzt machen?“ Und so ließ er sich von Wötzel nach anfänglichem Widerstand sagen, dass er als Chef der BEL die Einsatzkräfte der Polizei und die Räumfahrzeuge zurückziehen sollte.

Ein Versuch Hackenbergs, telefonisch vom SED-Politbüro zu erfahren, was er angesichts des immer größeren Zulaufs zur Demonstration tun solle. Doch Krenz habe nicht wie versprochen zurückgerufen. Dagegen habe Wötzel ihm ein zweites Mal auf Nachfrage aufgefordert, er solle die Einsatzkräfte zurückziehen. Die seien dann vom SED-Bezirkschef der Reihe nach angerufen worden: „Wir ziehen uns zurück und gehen zur Selbstverteidigung über.“

Nachträgliche Bestätigung

Damit war die Gefahr der gewaltsamen Eskalation am Abend des 9. Oktober 1989 in Leipzig gebannt. „Die Entscheidung von Hackenberg war eine große Tat“, so Ex-SED-Funktionär Wötzel über die Entscheidung des damals verantwortlichen SED-Bezirkschef und damit BEL-Leiter.

Wötzel berichtete, dass er mit seinen beiden Genossen Pommert und Meyer in den Folgetagen aber erst einmal als „Persona non grata“ behandelt wurden. Ihnen sei auch mit einem Disziplinarverfahren gedroht worden. Das sei so bis zum 13. Oktober gegangen.

An dem besagten 13. Oktober war Krenz mit hochrangigen DDR-Militärs sowie Volkspolizei- und MfS-Vertretern nach Leipzig gekommen. Dabei wurde mit Blick auf die nächsten Demonstrationen am 16. Oktober 1989 gegenüber der SED-Bezirksleitung in Leipzig klar gemacht, dass es bei der gewaltlosen Linie und dem Verbot des Schusswaffeneinsatzes bleibt. Für Wötzel und seine beiden Amtskollegen von der SED-Bezirksleitung brachte dieser Tag endlich die Anerkennung und Akzeptanz auch in den eigenen Reihen, die nun der neuen Linie folgten.

Endgültige Gewaltlosigkeit

Die nächste Montagsdemo am 16. Oktober 1989 sei aber nicht etwa kleiner geworden, erinnerte sich Philosoph Okun. „Sie schwoll dagegen auf die doppelte Größe an.“ Das sei bis in den November 1989 hinein so gewesen, bis dann die ersten Parolen und Transparente „Wir sind ein Volk!“ auftauchten.

„Irgendwann wusste ich: Das ist irreversibel, nicht mehr umkehrbar. Auf eine Reform der DDR zu hoffen hat keinen Sinn mehr“, so der Philosoph. „An dem Tag leuchtete mir das schon ein.“ Die Sicherheitskräfte hätten am 9. Oktober 1989 nichts machen können, ist sich der heutige Kommunikationsexperte sicher. „Keine Gewalt – das war auch für sie eine Nachricht. Die hieß: Es ist sinnlos, wir provozieren Euch nicht, lasst uns hier friedlich demonstrieren.“ Aus Sicht von Okun waren die SED wie auch die Staatssicherheit zu dem Zeitpunkt bereits gespalten. „Alle wussten: So geht es nicht mehr weiter.“

Für Wötzel ist der Tag in der Messestadt vor 30 Jahren „bedeutender als die Öffnung der Grenze am 9. November“. Damit sei für alle in der DDR sichtbar geworden: „Die Staatsmacht ist nicht mehr in der Lage, gegen die Opposition zu entscheiden. Damit war eine völlig neue Situation entstanden. Zudem ist deutlich geworden, dass die Partei kein monolithischer Block ist, der gegen die Demonstranten und gegen Veränderungen ist.“

Gekippte Stimmungen

Die Opposition habe sich nach dem 9. Oktober 1989 mit der Staatsmacht „auf Augenhöhe“ befunden, so Wötzel. Mit ihr musste gesprochen werden, um noch irgendetwas zu erreichen. „Wie das dann weitergegangen ist, das ist eine ganz andere Frage“, fügte er hinzu. Aber: „Am 9. Oktober 1989 gab es keine Demonstration gegen den Sozialismus.“

An der Universität habe es an den ersten Folgetagen im Oktober 1989 eine merkwürdige Stimmung gegeben, erinnerte sich Okun. In der Mensa brüllte ein Techniker herum: „Ihr kriegt alle noch eins auf die Fresse! Hier wird noch aufgeräumt.“ Niemand habe damals darauf reagiert, sagte Okun, um den Mann nicht weiter zu reizen.

„Da dachte ich mir: Wenn sich der Mob jetzt mobilisiert, dann wird es schlimm!“ Eine Nachbarin habe ihn mit einem Mal als „rotes Schwein“ bezeichnet und gedroht: „Euch geht es an den Kragen!“ In seiner Akte beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) habe er später gelesen, dass genau die Frau zu den Informanten über ihn gehörte.

Implosion statt Revolution

Die Zeit nach dem 9. Oktober 1989 sei ein Wechselspiel der Gefühle gewesen, zwischen gewonnener Freiheit und Ängsten, es könne aus dem Ruder laufen, so Okun rückblickend. Bei den folgenden Montagsdemos sei die Polizei kaum noch zu sehen gewesen. Dafür trugen die Demonstranten Schärpen und Armbinden mit der Aufschrift „Keine Gewalt“. Die hätten auch vor der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, der „Runden Ecke“ in Leipzig, gestanden, nach dem Motto: „Kein Sturm des Winterpalais!“ Das sei den Bürgerrechtlern zu verdanken gewesen, sagte Okun.

Er fügte hinzu: „Ursprünglich wollten die Bürgerrechtler und Demonstranten ja eine bessere DDR. Und dann haben sich aber die durchgesetzt, die schon immer gesagt haben, sie wollten dieses System stürzen – und sprechen plötzlich von ‚friedlicher Revolution‘.“ Dabei habe es sich bei den Ereignissen im Herbst 1989 in der DDR weniger um eine Revolution, sondern mehr um eine Implosion, einen Systemeinsturz gehandelt, hob der Philosoph hervor.

„Die Eisenarmierungen waren längst verrottet, während die Betonfassade äußerlich noch in Ordnung schien“, beschrieb er den Zustand der DDR an ihrem Ende. „Der Systemeinsturz hatte eine längere Inkubationszeit, in der sich der Unmut entwickelte und die Machtstrukturen ausgehöhlt wurden. Auch die Staatssicherheit konnte nicht mehr so einfach losschlagen. Sie musste sich entblößen, vor den Kameras Plakate herunter zu reißen. In dem Moment, in dem sie aus ihrem Schattendasein trat, und das vor der Weltöffentlichkeit, verlor sie schlagartig an Macht.“

Vom Aufbruch zu Pauschalurteilen

Die Leipziger Montagsdemos wurden nach dem 9. Oktober 1989, als klar war, die Staatsmacht hält sich zurück, zum touristischen Protest-Ereignis. Die Situation habe nicht mehr zurückgedreht werden können, ist sich Okun im Rückblick sicher. Zu den Demos kamen im Herbst vor 30 Jahren zahlreiche öffentliche Diskussions- und Dialogveranstaltungen, unter anderem im Leipziger Gewandhaus.

Er selbst habe sich damals dafür engagiert oder saß mit in einer der Podien und habe versucht zu erklären, „wie es kommt und was jetzt folgen muss“. Doch das lief sich tot, wie Okun rückblickend einschätzte. Was ihn damals enttäuschte war, dass die damals als „Reformer“ des Sozialismus geachteten Leute sehr schnell kaum noch Beachtung fanden und später pauschal mit zu denen gerechnet wurden, die den Karren an die Wand gefahren hatten.

Lesetipps:
Bernd-Lutz Lange, Sascha Lange:
„David gegen Goliath – Erinnerungen an die Friedliche Revolution“
Aufbau Verlag, 2019. 221 Seiten. ISBN 978-3-351-03787-1. 18 Euro

Ekkehard Kuhn: „Der Tag der Entscheidung – Leipzig, 9. Oktober 1989“
Ullstein Verlag, 1992 (2009 ergänzter Nachdruck). 176 Seiten. ISBN-3-978-355-006804-1. 7,90 Euro