Warum hat die DDR-Führung nicht auf die Informationen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) über die Lage reagiert? Wann und warum war auch für MfS-Angehörige klar, dass ein „Weiter so“ zum Untergang führt? Wie wurde auf den 9. November 1989 reagiert? Darüber hat Sputnik mit dem ehemaligen MfS-General Heinz Engelhardt gesprochen. Teil 3
Selbst, nachdem das „Neue Forum“ im Herbst 1989 gegründet wurde, habe sich die Partei-und Staatsführung der DDR dem gesellschaftlichen Dialog „konsequent verweigert, was sich als ein verhängnisvoller Fehler erwies“. So sieht es im Rückblick Heinz Engelhardt. Er war mit Jahrgang 1944 nicht nur der jüngste General des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Am Ende hat er dieses 1990 aufgelöst.
In seinem Buch „Der letzte Mann – Countdown für das MfS“ hat sich der einstige Generalmajor zum ersten Mal zu seiner früheren Tätigkeit geäußert. Es basiert auf Gesprächen mit dem Journalisten Peter Böhm. Sputnik hat die Möglichkeit gehabt, mit Engelhardt über seine Sicht auf die DDR und den Herbst 1989 zu sprechen. (Foto: edition ost)
Der Dialog der Partei- und Staatsführung mit gesellschaftlichen Kräften sei zum Beispiel beim Thema Umweltschutz notwendig gewesen. Die Umweltprobleme in der DDR seien für alle sichtbar gewesen. Engelhardt erinnerte sich dabei unter anderem an Fahrten durch das Zementwerk Rüdersdorf bei Berlin. Die Umweltengagierten in der DDR seien dagegen als Fall der „Politisch-Ideologischen Diversion“ (PID) behandelt worden. Dabei habe sich die Parteiführung der Mittel und Methoden des MfS bedient und wir haben das auch geschehen lassen, gesteht er heute ein.
Wichtiger Systembestandteil
Er erklärte dazu: „Nach dem Statut des MfS hatte der Minister für Staatsicherheit die alleinige politische und fachliche Verantwortung für sein Ministerium. Er führte es nach dem Prinzip der Einzelleitung. Für die Mitarbeiter des MfS war das unumstößlich. Nur er allein hätte bewirken können, dass sich die Sicherheitsdoktrin der DDR in Teilen ändert bzw. geändert wird.“ Entsprechende Vorschläge dazu hätten im Nationalen Verteidigungsrat der DDR eingebracht und verhandelt werden müssen, was aber nicht geschehen sei.
„Wir waren ein wichtiger Bestandteil dieses Systems und der ehrlichen Überzeugung, einer guten Sache zu dienen. Wir hatten den Auftrag, ‚Schild und Schwert der Partei‘ zu sein. Diesen Auftrag haben wir nach bestem Wissen und Gewissen erfüllt. Auch das Wirken und die Tätigkeit des MfS kann nur in den jeweiligen historischen Zusammenhängen erklärt werden. Es ist untauglich, dieses mit dem heutigen Verstand und mit der heutigen Zeit erklären zu wollen. Wer das nicht erkennen will, ist schlicht und ergreifend borniert oder dumm.“
Engelhardt hatte bereits als Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Frankfurt(Oder) auf die internen gesellschaftlichen Probleme und ihre Folgen hingewiesen, unter anderem in einer „Parteiaktiv-Tagung“ der SED im Frühjahr 1988. Das brachte ihm Ärger ein – weil sein Auftritt am 18. Mai 1988 in der „Westpresse“ gemeldet wurde, nachdem die SED-Bezirkszeitung „Neuer Tag“ zuvor davon berichtet hatte.
Deutliche Probleme
Mitte der 1980er Jahre sei ihm klar geworden, dass sich etwas in der DDR verändern müsste, erklärte er im Gespräch. Damals sei die Unzufriedenheit in der Bevölkerung immer größer geworden, ebenso die Zahl der Ausreiseanträge und der versuchten „Republikfluchten“, auch von besetzten westlichen Botschaften.
In seinem Buch beschreibt er die Reaktionen: „Jochen Hertwig, unser 1. Sekretär [der SED – Anm. d. Red.] im Bezirk, wurde daraufhin zu Honecker zitiert und, wie er mir später berichtete, vor dessen Schreibtisch stehend wie ein Schulbub abgekanzelt. Der Engelhardt solle sich um seine Dinge kümmern und sich nicht in die Politik einmischen! Außerdem, so hat mir Jochen später berichtet, habe die Frage im Raum gestanden, ob der Engelhardt für den Posten eines BV-Chefs [BV = Bezirksverwaltung – Anm.d.Red.] überhaupt geeignet sei.“ Das war für ihn „die letzte Bestätigung, dass es so nicht weitergehen kann“, sagte er dazu im Gespräch.
Seitens der SED-Führung sei immer weniger auf die Informationen des MfS über die Probleme reagiert worden, erinnerte sich der Ex-General. Er habe deshalb ganz bewusst bei der Partei-Veranstaltung auf die Probleme hingewiesen, „das konnte ich ja belegen“. Für ihn sei interessant gewesen, dass SED-Generalsekretär Erich Honecker darauf nicht durch die eigene Presse aufmerksam wurde. Die bundesdeutschen Medien hätten ihn mehr interessiert – in der internationalen Öffentlichkeit sollte kein Makel auf die DDR fallen.
Für die MfS-Mitarbeiter sei die wachsende Diskrepanz zwischen den eigenen Informationen über die tatsächliche Lage und den „Hurra-Meldungen“ von der Parteiführung immer deutlicher geworden. „Es wurden keine Lösungen mehr angeboten“, so Engelhardt. Er habe schon 1988 Mitarbeitern im Vier-Augen-Gespräch gesagt, dass die DDR so dem Untergang geweiht sei, wenn es weiter gehe wie bisher.
Klare Erkenntnis
Der MfS-General berichtete von Treffen mit Arbeitsbrigaden in DDR-Betrieben, die nach Tscheka-Gründer Feliks Dzierzynski und dem sowjetischen Kundschafter Richard Sorge benannt waren. Mit denen habe die MfS-Bezirksverwaltung Frankfurt (Oder) Patenschaften gehabt.
„Da haben wir bei Bratwurst und Bier einfach gequatscht. Da habe ich mit den Kumpels vom Hochofen in Eisenhüttenstadt geredet. Da wurde ganz offen über ihre Probleme und Sorgen gesprochen. Das war im September 1989. Da war mir klar: Das Ding ist nicht mehr zu retten.“
Die Arbeiter hätten ihm ganz offen gesagt:
„Das Ding ist gegessen. Die Messe ist gelesen.“
Da habe er es auch verstanden. Allerdings habe er im Frühherbst 1989 noch nicht erkannt, dass dann das MfS gewissermaßen als alleinschuldig am Untergang der DDR dargestellt wird – auch durch die SED-Nachfolgepartei PDS. Er sei immer der Meinung gewesen, dass die SED-Führung den MfS-Mitarbeitern dankt, so Engelhardt. Sie hätten ja einen entscheidenden Anteil daran, dass die DDR 40 Jahre lang existieren konnte.
Gewünschte Erneuerung
In den DDR-Sicherheitsorganen hatte in den letzten Jahren anscheinend niemand an so etwas wie einen Putsch gedacht. Das erscheint erstaunlich, angesichts ihres Wissens über die reale Lage, aber auch im Vergleich zu anderen Ländern. „Das ist eine interessante Frage“, meinte der Ex-MfS-General und fügte hinzu:
„Ich weiß nicht, wie wir reagiert hätten, wenn es einen Putsch in der obersten Etage gegeben hätte, zum Beispiel durch Krenz. Sicher waren wir so erzogen, dass der SED-Generalsekretär der Oberbefehlshaber war und wir seinen Befehlen folgen.“
Auf der mittleren Ebene der DDR-Sicherheitsorgane hätten solche Gedankenspiele nie eine Rolle gespielt, betonte Engelhardt. Die führenden MfS-Kader hätten zwar in den letzten Monaten erlebt, dass sie von den eigenen Mitarbeitern „ausgepfiffen“ wurden. Ihnen sei zum Teil deutlich gesagt worden: „Wir wollen Euch nicht mehr!“
Das sei aber nichts Putschähnliches gewesen, sondern eher der Selbsterhaltungstrieb der Mitarbeiter. Sie hätten das MfS erneuern wollen, entsprechend der gesellschaftlichen Veränderungen. Die „alte Garde“ habe ihre Verdienste gehabt, aber ausgedient. Eine neue Generation von Mitarbeitern, hoch intelligent und exzellent ausgebildet, sei in den 1980er Jahren herangewachsen.
Abstruse Situation
„Wenn ich diesen stammelnden Schabowski noch sitzen sehe, das werde ich nicht vergessen: Das war für mich ein Stich in mein Herz.“ So beschrieb Engelhardt im Gespräch, wie er sich an die überraschende Grenzöffnung am 9. November 1989 erinnert.
„Damit war natürlich klar: Die Messe ist endgültig gelesen! Mir war klar: Jetzt sind alle Türen auf. Jetzt liegen wir auf dem Seziertisch für die Dienste aus dem Westen, die kommen hier rein.“
Es habe in jener Situation vor 30 Jahren keinerlei Befehle für die MfS-Einheiten gegeben. Die Grenztruppen hätten beim MfS angerufen und gefragt, was sie tun sollen. Es habe keine Informationen gegeben, auch nicht, als die Schlagbäume durch die Zuständigen vor Ort geöffnet worden seien. Eine Befehlslage existierte nicht mehr. Für die Angehörigen des MfS sei es „eine völlig abstruse Situation“ gewesen.
Die MfS-Rechtsabteilung sei zwar an dem Entwurf für das neue DDR-Reisegesetz beteiligt worden. Den hatte SED-Politbüromitglied Günter Schabowski auf der Pressekonferenz am 9. November 1989 verlesen. Aber vielen seien die Konsequenzen nicht klar gewesen, bestätigte Engelhardt.
Bittere Niederlage
„Mir ist im Nachhinein erst klar geworden, was das zum Beispiel in Berlin angesichts des Viermächte-Status hätte auslösen können. Eigentlich durfte die DDR ohne die vier Alliierten überhaupt nicht über Grenzregime entscheiden. Die sowjetische Führung war ja stinksauer, als sie davon erfuhr. Ich glaube, die Franzosen, Briten und US-Amerikaner waren auch nicht sonderlich amüsiert. Das hätte einen Konflikt auslösen können.“
Für ihn persönlich sei es „eine der bittersten Niederlagen, eines der bittersten Ereignisse“ gewesen. Daran sei weniger die Tatsache an sich schuld, sondern wie die Grenze geöffnet wurde:
„Wie chaotisch und unorganisiert das erfolgte. Es steht außer Frage, dass das hätte gemacht werden müssen. Sicher war es zu spät und damit untauglich. Es war politisch verantwortungslos, wie chaotisch das geschah.“
Die Art und Weise der Vorgänge in der Nacht vom 9. November vor 30 Jahren seien „der Punkt auf’s i gewesen, so wie die Verhältnisse in der DDR insgesamt chaotisch waren“. Damit sei für ihn klar geworden, dass die DDR aufhört zu existieren. „Ich habe es im Fernsehen gesehen und habe zu meiner Frau gesagt: ‚Das war’s, das war das Ende.‘“ Alle Gedanken danach über eine mögliche Konföderation mit der BRD habe er für Unsinn gehalten.
Unrealistische Pläne
Das MfS habe in der Folgezeit beobachtet, wer alles die offene Grenze nutzte, um nun kaum kontrolliert in die DDR zu kommen. „Ich hätte es doch genauso gemacht“, gestand der ehemalige Geheimdienstmann ein. Wer da alles nun reinkam habe er spätestens am 15. Januar 1990 gesehen, als das MfS-Hauptgelände in Berlin-Lichtenberg“ gestürmt“ wurde. Unter den damals Beteiligten seien Personen gewesen, die ganz offensichtlich nicht zur „normalen“ Bevölkerung gehörten – „und die rochen auch anders, einfach nach Westen“.
Die offene Grenze der DDR ist von westlichen Geheimdiensten „weidlich genutzt“ worden, ist sich Engelhardt bis heute sicher. Das habe ihn schon damals nicht überrascht. Allerdings habe es nach dem 9. November 1989 in den eigenen Reihen einzelne Überläufer und Verräter gegeben, die sich dem einstigen Feind angeboten hätten. „Das waren Menschen, die für einen Judaslohn ihre Gesinnung verraten haben. Aber der überwiegende Teil unserer Mitarbeiter haben das nicht getan.“
Engelhardt wurde nach der Grenzöffnung von der neuen DDR-Regierung unter Hans Modrow beauftragt, einen Verfassungsschutz aufzubauen. So sei er von Frankfurt(Oder) nach Berlin gekommen. Doch das gehört zu den letzten Zuckungen des damals untergehenden Landes. Im Buch zeigt er den Stempel des DDR-Verfassungsschutzes, der gar nicht erst zum Einsatz kam. Die Wahl sei damals auf ihn gefallen, weil er im MfS offensichtlich „der Unverbrauchteste und Jüngste“ gewesen sei.
Unwürdiger Umgang
Am Ende hat er noch von der Modrow-Regierung den Auftrag bekommen, das MfS aufzulösen. Das sei gemeinsam mit anderen Offizieren wie Werner Großmann, dem letzten HVA-Chef, geschehen.
„Wir haben versucht, unsere rund 90.000 Mitarbeiter mit Anstand und Würde in das zivile Leben zu entlassen. Um nichts anderes ging es.“
Engelhardt bedauert:
„Leider ist uns das nur bedingt gelungen. Verschuldet haben das aber nicht wir, die ehemaligen Funktionsträger des MfS. Es war der damaligen politischen Situation in der DDR geschuldet, in der es drunter und drüber ging. Die Führung der DDR war nicht mehr handlungsfähig.“
Die Rufe „Stasi in die Produktion“ seien damals täglich zu hören gewesen. Doch die Realität habe anders ausgesehen, als eine Entlassungswelle durch die Betriebe rollte. „Die ehemaligen Mitarbeiter standen als Erste wieder auf der Straße. Unwürdig, wie man mit den Ehemaligen umgegangen ist. Sie wurden verurteilt ohne Schuldspruch. Und das hält bis heute an.“
Für ihn selbst sei immer wichtig gewesen, dass er sich frühmorgens im Spiegel anschauen könne und sich nicht vor sich selber schämen müsse, betonte Engelhardt.
„Ich hätte manches lassen sollen. Ich hätte manches tun müssen, was ich nicht getan habe. Aber von der Grundüberzeugung bin ich bis heute der Meinung, dass ich einer guten Sache gedient habe.“
Teil 4 erscheint am Sonntag. Darin wird es um folgendes Fragen gehen: Warum ist der MfS-General nach dem Untergang der DDR nicht ins Exil gegangen? Wie hat er die sowjetischen „Waffenbrüder“ in der Zeit erlebt? Was hält er von der „Aufarbeitung“ der Geschichte und wünscht er sich die DDR zurück?
Peter Böhm, Heinz Engelhardt: „Der letzte Mann – Countdown fürs MfS“
„edition ost“ in Verlag Das Neue Berlin, 2019. 288 Seiten. ISBN 978-3-360-01889-2. 16,99 Euro