Entschuldigung für konkretes Unrecht – Ex-MfS-General zu DDR-Untergang 1989. Teil 2

Warum hat das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) weite Teile der DDR-Gesellschaft überwacht? Wofür muss sich ein hoher MfS-Offizier entschuldigen? War das, was das MfS tat, alles notwendig und was hätte anders laufen müssen? Über diese Fragen hat Sputnik mit dem ehemaligen MfS-General Heinz Engelhardt gesprochen. Teil 2

Heinz Engelhardt war mit Jahrgang 1944 nicht nur der jüngste General des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Am Ende hat er dieses 1990 aufgelöst. In seinem Buch „Der letzte Mann – Countdown für das MfS“ hat sich der einstige Generalmajor zum ersten Mal zu seiner früheren Tätigkeit geäußert. Es basiert auf Gesprächen mit dem Journalisten Peter Böhm. Sputnik hat die Möglichkeit gehabt, mit Engelhardt über seine Sicht auf die DDR und den Herbst 1989 zu sprechen. (Foto: edition ost)

Er war vor seinem Posten als Chef der MfS-Bezirksverwaltung Frankfurt(Oder) Leiter der Abteilung XX in der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt. Die war in der gesamten MfS-Struktur zuständig für Teile des Staatsapparates, die sogenannten Blockparteien CDU, LDPD, NDPD, DBD und die sogenannten Massenorganisationen, den Kultur- und Sportbereich, die Medien und die Kirchen. Diese Abteilung sollte auch die „politische Untergrundtätigkeit“ (PUT) bekämpfen, also die oppositionellen Gruppen. In diesen Bereichen war eine hohe Zahl Inoffizieller Mitarbeiter (IM) verankert.

Im Buch schreibt er von seinen Zweifeln an den vielen Aufgaben, die diese Abteilung erfüllen musste. Er frage sich, ob diese Aufgaben immer richtig und zweckmäßig waren. Manche davon seien absurd und übertrieben gewesen. Sie hätten Kräfte gebunden, die an anderer Stelle wichtiger gewesen wären.

Hilfreiche Staatssicherheit

Aufgabe der Abteilung sei gewesen, in allen gesellschaftlichen Bereichen zu wissen „Wer ist wer?“, erklärte Engelhardt im Gespräch.

„Das war überzogen, in jedem Bereich verankert zu sein und dadurch den Eindruck zu erwecken: Wir sind das Ministerium, das alles kann, das alles regelt, das alles macht.“

Dies sei aber auch geschehen, weil andere Staatsorgane ihren Aufgaben nicht immer im erforderlichen Maße gerecht geworden seien. Als Beispiel erzählte der Ex-General, der Chef der Frauenklinik in Karl-Marx-Stadt habe einmal bei der Bezirksverwaltung angerufen, weil der Fahrstuhl der Klinik kaputt war. Daraufhin hätten die Soldaten der Wacheinheit der MfS-Bezirksverwaltung Patientinnen die Treppen hinuntergetragen.

„Unsere Chefs haben diese Rolle auch genossen, dass wir die ‚guten Menschen‘ waren, die immer wieder helfen konnten“, erinnerte sich Engelhardt. Manchmal hätten DDR-Betrieben Devisen für notwendige Reparaturen gefehlt, die dann aufgrund von persönlichen Kontakten vom MfS gekommen seien.

Übertriebener Aufwand

„Wir haben uns einerseits gern in solche Aufgaben drängen lassen, weil unser Minister der ‚Minister für Gesamtverantwortung‘ war, wie er sich selbst sah.“ Damit sei anderen Staatsorganen die Verantwortung abgenommen worden, wobei sich diese dem nicht verweigert hätten. Gleichzeitig sei das MfS anderen damit auch „auf den Schlips getreten“, was sich 1989/90 gezeigt habe und dann als Bevormundung bezeichnet wurde.

Engelhardt schüttelt heute noch den Kopf darüber, mit welchem Aufwand beispielsweise von den Bezirksabteilungen XX des MfS Besuche von Honecker im Land vorbereitet und abgesichert wurden. „Wir haben immer mehr Aufgaben der Volkspolizei übernommen.“ MfS-Mitarbeiter hätten Sicherheitsspaliere gebildet, was Polizisten hätten machen müssen.

Aus seiner Sicht hätte es gereicht, Kontakt zu führenden Personen in den gesellschaftlichen Bereichen zu halten. Aber der Ehrgeiz des Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke, sei es gewesen, über alles Bescheid zu wissen. Das hätte zu Akten- und Papierbergen geführt, die nicht zu beherrschen gewesen seien.

Verlorener Blick

Für den Ex-General ist es eine „unsägliche“ Entscheidung gewesen, dass das MfS die „politisch-ideologische Diversion“ (PID) auf allen Ebenen bekämpfen sollte. Das habe sich dann auch gegen „Andersdenkende“ gerichtet, oft aus Kirchenkreisen, gegen Menschen, die sich einfach kritisch äußerten. „Es waren bei weiten keine Feinde der DDR und keine ‚Konterrevolutionäre‘.“ Dadurch habe das MfS möglicherweise den Blick auf die tatsächlichen Feinde verloren.

„Hätten wir uns um die Leute gekümmert, die wirklich die DDR als solche nicht mehr wollten, dann hätten wir unseren Mitarbeiterstab auf die dazu erforderliche Stärke reduzieren können. Wir haben viele in diese Schemata ‚Feind‘ oder ‚politisch-negative Kräfte‘ hineingeschoben, die eigentlich gar nicht dorthin gehörten. Es ist dabei oft zu undifferenziert herangegangen worden. Wir haben zu wenig das Gespräch mit den Leuten gesucht. Das gilt für alle staatlichen und gesellschaftlichen Organe.“

Weil nicht mit kritischen Menschen geredet wurde, „haben wir sie in die Kirchen getrieben, ob wir das heute wahrhaben wollen oder nicht. Die hatten die Leute, die hatten die Gebäude, die hatten das Geld, auch von ihren Gemeinden in Westdeutschland. Damit haben wir die Kirche zum ‚Hort der Konterrevolution‘ gemacht.“ Das sei die Kirche in der DDR aber nicht gewesen.

Große Fehler

Die latente Angst der DDR-Führung vor der „Konterrevolution“ habe mit den Ereignissen im Land 1953 sowie in Ungarn 1956 oder auch in Polen zu tun gehabt, erklärte er.

„Aber die DDR war ein so festgefügter Staat mit einer gewissen Stabilität und einem gut ausgerüsteten Sicherheitsapparat.“

Es habe im Bezirk Karl-Marx-Stadt mal einen neofaschistischen Terroristen samt Unterstützern gegeben, der ein sowjetisches Ehrenmal mit einem Panzer sprengen wollte, und einen Geiselnehmer. Aber das seien Einzeltäter gewesen. „Eine ‚konterrevolutionäre Zelle‘, die an den Grundfesten des Staates, gerüttelt hätte, hatten wir in den 1970er und 1980er Jahren nicht.“

Dass gegen Dissidenten wie Rudolf Bahro und Robert Havemann das Strafrecht der DDR eingesetzt wurde, sieht Engelhardt heute als „großen Fehler, auch wenn formal juristisch nicht zu beanstanden. Sie sollten, einfach gesagt, diszipliniert werden.“ Das habe mit den Rudimenten des „Stalinismus“ zu tun gehabt, die weitergewirkt hätten. Davon habe sich Mielke „nie ganz gelöst“, meint Engelhardt.

Lähmende Tonnen-Ideologie

Er hob hervor, dass die „Tonnen-Ideologie“ das MfS selbst lähmte und oft die Masse der „Vorgänge“ mehr zählte als die Qualität der Informationen. Das schloss die Überwachung von Teilen der eigenen Bevölkerung ein, wie die übriggebliebenen MfS-Akten zeigen. Die würden bis heute für eine ganze Behörde mit derzeit 1.440 Beschäftigten als Existenzgrundlage dienen und „immense finanzielle Mittel verschlingen, die in die Milliarden gehen“.

Zur Dimension der Überwachung der DDR-Bürger, der „Operativen Vorgänge“, erklärte Engelhardt, der mit der Abteilung XX dafür im Bezirk Karl-Marx-Stadt zuständig war:

„Es war überhaupt nicht möglich und nicht das erklärte Ziel, mit unserem Mitarbeiterbestand die gesamte Bevölkerung zu überwachen. Jeder Mitarbeiter führte eine bestimmte Zahl von ‚Inoffiziellen Mitarbeitern‘, den IM. Das war ja schon eine Zeitfrage. Das galt auch für die Abteilungen, die die Telefonverbindungen und die Postsendungen kontrollierten.“

Zur Bevölkerung der DDR hätten mehr als zwei Millionen Mitglieder der SED gehört, erinnerte der Ex-MfS-General, „dazu hunderttausende Angehörige der Schutz-und Sicherheitsorgane, ehrlich und fleißig arbeitende Menschen. Diese konnten nie das Ziel einer ‚flächendeckenden Überwachung‘ sein. Heute tun bestimmte Medien so, als wenn die Bevölkerung der DDR nur aus ‚Widerständlern‘ bestanden hat.“

Viele Übertreibungen

In den 1970er und 1980er Jahren habe „ein Großteil der DDR-Bevölkerung zu ihrem Staat gestanden – bei allen Unzufriedenheiten“. Allerdings habe Mielke nicht davon abgelassen, alles wissen zu wollen und sei weiter der „Tonnen-Ideologie“ gefolgt. Das „Wer ist Wer?“ habe sich aber „zu keiner Zeit auf den einfachen, fleißig arbeitenden DDR-Bürger“ bezogen.

„Diese Befehlslage führte jedoch in der Praxis zu Überspitzungen und zu Übertreibungen“, schätzte Engelhardt rückblickend ein. „Auch im MfS dienten Menschen, die nicht ohne Fehler und Schwächen waren.“ So manche heute noch vorhandenen Akten würden zeigen, dass viel Papier für wenig Information und Erkenntnis verbraucht worden sei. Das hätten ihm auch Menschen bestätigt, die inzwischen Einsicht in die Akten über sie hatten. Noch heute ist er sich sicher: „Der überwiegende Teil unserer Menschen stand gar nicht in unserem Fokus.“

Der Ex-General sagte dazu:

„Aus der Aktenlage könnte die ‚Stasi-Unterlagen-Behörde‘ BStU auch Erkenntnisse über Spionage, Sabotage, Menschenhandel, über Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewinnen. Nein, man tut für die Öffentlichkeit so, als wenn hunderte Kilometer Akte sich nur mit ‚Andersdenkenden‘ befassen. Deshalb gehören die Akten in das Bundesarchiv, auch wenn damit gut besoldete Mitarbeiter ihren Job verlieren werde.“

Notwendige Entschuldigung

Er bestreite nicht, dass Menschen aufgrund eines überzogenen Sicherheitsdenkens Unrecht angetan wurde. „Das war nicht nötig gewesen“, erklärte Engelhardt im Gespräch wie im Buch. Mit kritischen Menschen hätte geredet werden müssen, statt sie als „Feinde“ zu behandeln, wiederholte er.

In seinem Buch berichtet Ex-MfS-General Engelhardt von einem Gespräch mit Roland Jahn, dem derzeitigen „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ (BStU). Dieser habe ihn zu einer Veranstaltung über das MfS eingeladen, bei der sich Engelhardt „im Büßerhemd“ entschuldigen. Das lehnte dieser ab, wie er schreibt.

Allerdings entschuldigt er sich in seinem Buch:

„Zunächst hatten und haben wir uns – als Mitglieder der SED und Angehörige des MfS – dafür zu entschuldigen, dass wir unkritisch und in falsch verstandener Parteidisziplin die fehlerhafte Sicherheitsdoktrin der Partei- und Staatsführung mittrugen und mit umsetzten.“

Falscher Weg

Auf Nachfrage erklärte er dazu: „Das Strafrecht in der DDR hätte unbedingt reformiert werden müssen, diese unsägliche Paragraphen 106 ‚Staatsfeindliche Hetze‘, 213 ‚Ungesetzlicher Grenzübertritt‘ und 220 ‚Staatsverleumdung‘.“ Das MfS habe im Auftrag der Parteiführung politische Probleme in der DDR mit den Mitteln des Strafrechtes lösen sollen. Das habe dazu geführt, dass politisch motivierte Aktionen, schon Meinungsäußerungen, kriminalisiert worden seien.

„Dafür muss man sich entschuldigen“, sagte der MfS-Auflöser gegenüber Sputnik.

„Damit habe ich auch überhaupt kein Problem. Ich entschuldige mich natürlich nicht bei Fällen wie diesem Panzer-Sprenger in Karl-Marx-Stadt oder dem Spion, den wir in den 1980er Jahren in Frankfurt(Oder) enttarnt haben.“

Er fügte hinzu:

„Ich entschuldige mich bei dem jungen Mann, der einen Zettel über seine Unzufriedenheit geschrieben hatte und eine Anklage nach Paragraph 220 ‚Staatsverleumdung‘ bekam. Ich entschuldige mich bei dem jungen Mann, der, gleich aus welchen Gründen, an die Grenze gegangen ist, obwohl er wusste, dass es militärisches Sperrgebiet ist, dafür, dass er zuvor kein Gehör mit seinen Sorgen fand, weder in der Schule noch bei der FDJ.“

Das tue er aber nicht gegenüber Terroristen, Mördern, Spionen und Saboteuren.

Verhängnisvoller Fehler

„Jeder Tote an der Grenze ist einer zu viel gewesen“, hob Engelhardt im Laufe des Gespräches hervor.

„Das bestätigt mich in meiner Meinung, dass das Grenzregime nicht mehr der realen politischen Lage gerecht wurde. Aber die Grenzsicherung war keine Erfindung oder Laune von Ulbricht oder Honecker. Die DDR hätte dieses Grenzregime nicht ohne Moskau ändern können. Sie war nun einmal der vorgeschobene Posten des Warschauer Vertrages und an Verträge und Vereinbarungen gebunden.“

Vor allem den Paragraphen 213 „Ungesetzlicher Grenzübertritt“ des DDR-Strafgesetzbuches wäre zu überarbeiten gewesen. Ein neues Reisegesetz sei in den 1980er Jahren „mehr als überfällig“ gewesen, so Engelhardt. Im Fall des „Ungesetzlichen Grenzübertritts“ seien die unterschiedlichen Motive der Einzelnen das Problem gewesen, die nach Fluchtversuchen deshalb ins Gefängnis kamen. Das hätte von der Liebe einer jungen DDR-Frau zu einem Westdeutschen, kennengelernt in Ungarn, über Flucht nach Straftaten, bis hin zu wirtschaftlichen, aber auch politischen Gründen gereicht.

Engelhardt meint, dass ein nicht geringer Teil der Menschen Wirtschaftsflüchtlinge war. Das „Schaufenster“ Westen habe eine große Anziehungskraft gehabt, die damals gewollt gewesen sei. Das hätte differenzierter und politisch verantwortungsbewusster behandelt werden müssen.

„Dafür muss man sich entschuldigen, dass wir aus falsch verstandener Parteidisziplin mit den Mitteln des Strafrechtes sich anbahnende politische und gesellschaftliche Probleme lösen sollten.“

Mit den Menschen über ihre Probleme zu sprechen, sei aber nicht Aufgabe des MfS gewesen, so der Ex-General heute. Selbst, nachdem das „Neue Forum“ im Herbst 1989 gegründet wurde, habe sich die Partei-und Staatsführung dem Dialog „konsequent verweigert, was sich als ein verhängnisvoller Fehler erwies“.

Teil 3 erscheint am Samstag. Darin wird es um folgendes Fragen gehen: Warum hat die DDR-Führung nicht auf die Informationen des Ministerium für Staatssicherheit (MfS) über die Lage reagiert? Wann und warum war auch für MfS-Angehörige klar, dass ein „Weiter so“ zum Untergang führt? Wie wurde auf den 9. November 1989 reagiert?

Peter Böhm, Heinz Engelhardt: „Der letzte Mann – Countdown fürs MfS“
„edition ost“ in Verlag Das Neue Berlin, 2019. 288 Seiten. ISBN 978-3-360-01889-2. 16,99 Euro