Blind für die Krise der DDR und den drohenden Untergang? – Das MfS im Jahr 1989

Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) hat den Auftrag gehabt, als „Schild und Schwert“ der SED diese und die DDR zu schützen. Doch am Ende hat sie beim Untergang von Partei und Land nur noch zusehen können. Das belegt ein neues Buch aus der „Stasi-Unterlagenbehörde“. Eine Veranstaltung dazu am Mittwoch hat leider nur alte Fronten gezeigt.

Was wusste das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR über das Geschehen im Land 1989 und was gab es an die Spitze der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) weiter? Deren „Schild und Schwert“ sollte das MfS sein. Hat es in irgendeiner Weise aktiv Einfluss genommen, um den drohenden Untergang zu verhindern oder war es überrascht von den Ereignissen wie die Partei selbst?

Antworten darauf sind in dem kürzlich erschienenen Band „1989“ der Reihe „Die DDR im Blick der Stasi – Die geheimen Berichte an die SED-Führung“ zu finden. Darin sind einige der 262 geheimen Berichte der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des MfS aus dem Jahr 1989 für die engere Partei- und Staatsführung zu finden. Seit 1953 gab es die Gruppe und deren Berichte, nach den Ereignissen um den 17. Juni 1953 gedacht, um als Seismograph die SED-Führung auf Probleme aufmerksam zu machen und vorzuwarnen.

Doch im 40. Jahr der DDR scheint dieses Vorwarn-System nicht mehr richtig funktioniert zu haben. Das haben bereits mehrere Zeitzeugen aus MfS und SED gegenüber Sputnik erwähnt. Sie wiesen immer wieder darauf hin, dass die Parteispitze die MfS-Informationen über die reale Lage nicht mehr wahrnehmen oder wahrhaben wollte.

Selektive Wahrnehmung

Am Mittwoch bestätigte der Historiker Mark Schiefer den Befund in der einstigen MfS-Zentrale in Berlin-Lichtenberg bestätigt. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Behörde des „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ (BStU) – derzeit Roland Jahn. Schiefer hat den Band mit den Berichten aus dem Jahr 1989 gemeinsam mit Martin Steif erarbeitet und vorgestellt.

Bis etwa zur Jahresmitte schien das Staatssicherheits-Ministerium „blind für die tiefere gesellschaftliche Krise“ gewesen zu sein, wertete Schiefer die Berichte aus. Darin sei bis zum Sommer 1989 die zunehmende tiefe Unzufriedenheit immer breiterer Kreise der Bevölkerung nicht wiedergegeben worden. Es sei mehrere Monate lang nur um einzelne oppositionelle Gruppen innerhalb und außerhalb der evangelischen Kirche gegangen.

„Diese ziemlich starke selektive Wahrnehmung ändert sich aber im September 1989, als die Berichte schlagartig einen völlig neuen Tonfall erhalten“, so der Historiker. „Scharf und eindringlich wird plötzlich über die Wut und Resignation sowie den Frust bei einfachen Parteimitgliedern und auch Vertretern der Arbeiterschaft berichtet.“

Schiefer zitierte aus einem ZAIG-Bericht vom 11. September 1989, der im Buch zu finden ist. Dort heißt es unter anderem, dass selbst SED- Mitglieder und Funktionäre die Parteileitungen und -versammlungen kritisierten. Es „werde an den Problemen vorbeigeredet. Auf konkrete Fragen gebe es keine Antwort bzw. kritische Diskussionen würden mit dem Hinweis auf die Parteidisziplin ‚abgewürgt‘. Wer auf Parteiversammlungen die vorhandenen Probleme anspreche und klare Antworten verlange, werde sehr schnell als Nörgler abgestempelt.“

Alarmierter Mielke

Viele Parteimitglieder würden resignieren und sich alleingelassen fühlen, stellten die MfS-Analytiker im Herbst 1989 fest. Zunehmend sei auch die Informationspolitik der SED kritisiert worden, die mit anhaltenden „Hurra“-Meldungen versuchte, die Lage weiter schön zu reden. Dass sie im Gegenteil immer krisenhafter und gefährlich wurde, habe selbst Staatssicherheitsminister Erich Mielke bemerkt, betonte Schiefer. Der habe vor Zuständen wie am 17. Juni 1953 gewarnt und seine Genossen an der Spitze aufgefordert, zu reagieren.

Der Tonfall in den ZAIG-Berichten sei ab Mitte Oktober immer dramatischer geworden, so Schiefer. Im Bericht vom 16. Oktober sei festgehalten worden, dass immer mehr DDR-Bürger glauben, „die SED-Führung habe durch eine uneinsichtige Haltung und starres Festhalten an einer offensichtlich nicht umsetzbaren politischen Linie nicht wirksam auf die Zuspitzung der politischen Entwicklung in der DDR reagiert und damit schweren politischen Schaden für die SED und die DDR herbeigeführt“. Von immer mehr Menschen würde der SED-Spitze „das Vertrauen und die Verbindung zum Volk abgesprochen“.

Der Bericht mit diesen klaren Worten sei von Mielke direkt an Egon Krenz weitergeleitet worden, damals im Zentralkomitee (ZK) der SED verantwortlich für Sicherheitsfragen. Der Minister habe hinzugefügt:

„Wie ernst die Lage ist, wird hiermit natürlich noch deutlicher, besonders, da es jetzt schon um die Fragen der Arbeiter geht.“

Zwei Tage später, am 18. Oktober 1989, wurde der langjährige SED-Generalsekretär Erich Honecker zum Rücktritt „überredet“ und Krenz zum Nachfolger ernannt.

Erweiterter Empfängerkreis

In den MfS-Berichten an die Parteispitze sei die Situation immer klarer beschrieben und auch Ursachen für die anwachsende Fluchtbewegung und die zunehmenden Proteste im Inland benannt worden. Zugleich sei die Angst des Staatssicherheits-Apparates vor der anwachsenden Opposition deutlich geworden. Zwar habe das MfS einen genauen Überblick über die einzelnen Gruppen und deren Mitglieder gehabt. Aber der anhaltende Zulauf aus der allgemeinen Bevölkerung zu den oppositionellen Demonstrationen und Aktionen habe es überrascht.

Ein Symptom war laut Schiefer, dass mit der Zeit der einst kleine Empfänger-Kreis innerhalb der SED-Führung für die Berichte deutlich erweitert wurde. Laut dem Historiker wurden ab September die oppositionellen Gruppen wie das „Neue Forum“ oder die „Sozialdemokratische Partei in der DDR“ (SDP) als zunehmende „Gefahr die sozialistische Grundordnung“ beschrieben.

Die ZAIG habe noch bis Mitte Oktober ganz konkrete Empfehlungen an die Parteiführung übermittelt, wie reagiert werden sollte. Das habe von strafrechtlichen Maßnahmen wie Ordnungsstrafen und Versammlungsverboten über mediale Kampagnen bis hin zu stärkerer Überwachung gereicht. Vorschläge für den massiven Einsatz von Gewalt gegen die wachsende Opposition hat es anscheinend nicht gegeben.

Eigenartige Lücken

Die tatsächliche Gewalt durch Sicherheitsorgane wie am 7. Oktober 1989 in Ost-Berlin und die Eskalation von Ende September bis Anfang Oktober habe sich in den Berichten nicht wiedergefunden, so der Historiker. Ab Mitte Oktober seien die landesweiten Großdemonstrationen mit hunderttausenden Teilnehmenden von den MfS-Analytikern nur noch „nüchtern und ein bisschen erstaunt“ beschrieben worden.

Einige wichtige Ereignisse vor allem im November 1989 würden aber in den Berichten gar nicht mehr auftauchen, so die Grenzöffnung am 9. November 1989. Ebenso wenig seien Demonstrationen von SED-Mitgliedern gegen die eigene Parteiführung oder die Wahl von Hans Modrow zum neuen Regierungschef am 13. November 1989 durch die Volkskammer bzw. die Bevölkerungsstimmung dazu nicht mehr gemeldet worden.

Am 7. November seien noch die Zahlen des grenzüberschreitenden Reiseverkehrs wiedergegeben worden. Dagegen sei die Grenzöffnung zwei Tage später und der dabei eingetretene Kontrollverlust auch des MfS nicht mehr behandelt worden. Diese Lücken seien „eigenartig und schwer zu erklären“, meinte Schiefer. Die MfS-Berichte vom Herbst 1989 seien aber eine unfreiwillige „Chronik der Revolution“.

Symbolisches Ende

Das müsse für die Verfasser, die MfS-Analytiker von der ZAIG, „einigermaßen paradox“ gewesen sein, so der Historiker. Diese Diensteinheit eigentlich gegründet worden, „um eine herrschaftsgefährdende Situation frühzeitig zu erkenn und zu unterbinden. Jetzt beschreibt man bis ins Detail genau eine solche Situation. Das dokumentiert unfreiwillig die Rat- und Machtlosigkeit der Staatssicherheit insgesamt.“

Am Ende sei vorletzten Berichten festgehalten worden, wie Anfang Dezember vor 30 Jahren in den Bezirken und Kreisen der DDR die Dienststellen des bereits in „Amt für Nationale Sicherheit“ (AfNS) umbenannten MfS gestürmt und besetzt wurden. „Das steht symbolisch für das Ende des Berichtswesens“, so der BStU-Historiker.

Nach seinem Vortrag gab es eine Podiumsrunde mit Zeitzeugen und der Herausgeberin der Buch-Reihe, Daniela Münkel von der BStU. Neben den beiden einstigen DDR-Oppositionellen Roland Jahn und Peter Grimm saß Hans Modrow, der vorletzte DDR-Ministerpräsident. Die Runde hätte interessante Einblicke in den Realitätsgehalt der MfS-Berichte und den tatsächlichen Umgang der SED-Spitze damit geben können.

Moralische Grundsatzurteile

Doch die Chance für mehr Wissen zum Thema wurde von BStU-Chef Jahn gleich zu Beginn vertan. Er belehrte Modrow über dessen Rolle als hochrangiger SED-Funktionär gegenüber dem MfS. Der langjährige 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden galt bereits vor 1989 in der DDR als Reformer.

„Da hat auch jemand eine Verantwortung als Parteisekretär gegenüber dem, was in der DDR geschieht“, gab Jahn sich als moralischen Richter aus. Er habe „hohen Respekt“ vor Modrows Rolle in der Endzeit der DDR, fügte er hinzu, um nachzusetzen:

„Aber ich entlasse Sie nicht aus der Verantwortung dafür, dass Sie als Parteisekretär dieses Unrechtssystem mitgetragen haben und mit dafür gesorgt haben, dass Menschen ins Gefängnis gekommen sind, die ihre Menschenrechte wahrgenommen haben.“

Modrow hatte zuvor erklärt, dass für ihn als SED-Bezirkschef die Informationen aus dem eigenen Apparat wichtiger als diejenigen des MfS waren. Diese hätten die Lage auch viel differenzierter dargestellt als das MfS. Vielleicht war der heute 91-Jährige der falsche Gesprächspartner, hatte er doch erwiesenermaßen tiefe Konflikte mit dem MfS-Bezirkschef in Dresden, Generalmajor Horst Böhm. Mielke habe gar geprüft, ob Modrow des Landesverrates bezichtigt werden könne, wusste dieser zu berichten.

Ignorante Aktenwächter

Das kümmerte die anderen auf dem Podium wenig. Die bei Modrows Geschichte deutlichen Widersprüche selbst innerhalb der SED und zwischen dieser und dem MfS interessierten sie nicht. Ebenso wenig dessen Hinweise darauf, dass er im Februar 1990 in seine Regierung Vertreter der neuen oppositionellen Gruppen aufnahm und er den Vorschlag in die Volkskammer eingebracht hatte, die einst in der DDR-Verfassung festgeschriebene führende Rolle der SED zu streichen.

Modrow erklärte Jahn, dass die Entscheidungen, die zu gewalttätigen Ereignissen am 4. und 5. Oktober 1989 in Dresden bei der Durchfahrt der Flüchtlingszüge führten, nicht von ihm, sondern in Berlin getroffen worden seien. Er hatte damals nachweislich nur noch versuchen können, eine vollends nicht mehr kontrollierbare Eskalation zu verhindern.

Der einstige SED-Funktionär versuchte noch, auf größere, auch geopolitische Zusammenhänge der damaligen Ereignisse und das undurchsichtige Wirken aller Geheimdienste aufmerksam zu machen. Am Ende lobte Jahn die „Geheimdienste in einer Demokratie“ für ihre angebliche Offenheit. Und Hövestedt belehrte den einstigen SED-Reformer, der am Ende das MfS auflösen ließ: „Dann gehört dazu, das man den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur genauso begreift wie die jeweiligen Mechanismen, die da greifen.“

„Die DDR im Blick der Stasi 1989 – Die geheimen Berichte an die SED-Führung“ (bearb. von Mark Schiefer und Martin Stief)
Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2019. 320 Seiten. ISBN: 978-3-525-31066-3. 30 Euro