„DDR-Grenzsicherung war rechtmäßig“ – Jurist widerspricht Leipziger Gericht

Für die psychischen Folgen seiner Flucht aus der DDR hat ein Mann nun das Recht auf Entschädigung zugesprochen bekommen. Fragwürdig erscheint, wie das Bundesverwaltungsgericht sein entsprechendes Urteil begründet. Ein ehemaliger Verteidiger von DDR-Grenzsoldaten hat das gegenüber Sputnik erklärt.

Am Mittwoch hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig in einem Urteil das DDR-Grenzregime als „rechtsstaatswidrig“ bezeichnet. Es gab einem Mann Recht, der Entschädigung für die psychischen Folgen für seine Flucht aus der DDR 1988 will. Ralph Dobrawa, Rechtsanwalt aus dem thüringischen Gotha, hat in den 1990er Jahren DDR-Grenzsoldaten in Prozessen verteidigt. Sie waren angeklagt, die DDR-Grenze geschützt zu haben. Im Interview äußert sich der Rechtsanwalt zu dem aktuellen Urteil aus Leipzig.

Herr Dobrawa, das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat am Mittwoch entschieden, dass ein Mann, der 1988 aus der DDR über die Grenze geflüchtet ist, das Recht hat, eine Entschädigung wegen der Traumatisierung und psychischer Schäden zu bekommen. Das Gericht begründet das damit, dass die DDR-Grenzsicherungsmaßnahmen rechtsstaatswidrig gewesen seien. Wie bewerten Sie dieses Urteil?

Das Urteil muss man sicherlich ganz differenziert bewerten. Zunächst gehe ich davon aus, dass das keine globale Entscheidung ist für alle, die mal eine Flucht aus der DDR begangen haben und die Grenze überwinden mussten. Ich halte es für eine Individual-Entscheidung für die Fälle, wo jemand ganz konkret einen Nachweis erbringt, dass er tatsächlich im Zusammenhang mit einer Überwindung der Staatsgrenze etwas erlebt hat, was in irgendeiner Weise zu gesundheitlichen Schäden und Nachwirkungen geführt hat.
In diesem Fall war es scheinbar so, dass der Kläger etwas nachweisen konnte. So kann man es der spärlichen Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts entnehmen. Für diese Fälle mag die Entscheidung sicherlich zutreffend sein. In anderen Fällen halte ich es für problematisch. Es ist  jedenfalls nicht die Öffnung der Büchse der Pandora, wo mancher vielleicht jetzt glaubt, er könne darauf auch Ansprüche stützen. Das wird  jeweils individuell zu prüfen sein.

Nun argumentiert aber das Bundesverwaltungsgericht doch relativ pauschal und sagt, die Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR waren rechtsstaatswidrig. Auch in der Pressemitteilung wird das noch mal kurz erläutert. Wie ist das zu bewerten?

Da muss man sicherlich unterscheiden, wie die Rechtslage zum Zeitpunkt des Bestehens der DDR war. Zu diesem Zeitpunkt sind diese Fluchten unternommen worden. Sie sind ja nicht unternommen worden, als die DDR dann schon zur Bundesrepublik gehörte. Danach war es  so: Die DDR hatte ein Grenzgesetz, was ganz klare Festlegungen enthielt, und wir hatten eine Regelung im DDR-Strafgesetzbuch im Paragraphen  213, wo geregelt war, dass derjenige sich strafbar macht, der also rechtswidrig und auf eigene Faust versucht, diese Grenze zu überwinden. Das war die Rechtslage in der DDR.
Man hat uns nach 1990 dann erklärt, das sei anders zu bewerten und ich halte das für problematisch. Ich habe eine ganze Reihe von betroffenen Grenzsoldaten in Prozessen verteidigt, die deswegen strafrechtlich verfolgt worden sind, weil sie  die DDR-Grenze gesichert haben. Das war in den 1990er Jahren  vor den Landgerichten in Berlin, in Mühlhausen, in Erfurt und in Potsdam. Dort ist diese Auffassung zur Rechtslage nach dem Recht der DDR in das Verfahren eingebracht worden. Die Gerichte waren – allen voran auch der Bundesgerichtshof – aber der Meinung, die Grenzanlagen seien rechtsstaatswidrig gewesen. Da muss ich sagen: Das war keine individuelle Entscheidung der DDR  und in ihren gesetzlichen  Bestimmungen  war die  Gestaltung des Grenzregimes geregelt.
Ganz sicherlich muss man auch die Entstehungsgeschichte sehen: Wie ist es zu dieser Grenze gekommen? Danach war die DDR nach ihrer Gründung 1949 nicht souverän in Bezug auf die Gestaltung ihres Grenzregimes. Das war zweifellos ganz maßgeblich mit der Sowjetunion abzuklären. Von dortiger Seite gab es Vorgaben, die einzuhalten waren und die man nicht ignorieren konnte. Dazu gehört ebenso, dass es zwei Lager gab: Das sozialistische Lager und das westliche Lager – und das letztlich diese Staatsgrenze der DDR zur BRD nicht nur eine Staatsgrenze war, sondern auch eine Grenze zwischen diesen beiden Systemen, die sich konträr gegenüberstanden. Es ist einfach nicht richtig, im Nachhinein diesen Fakt weg reden zu wollen.

In der Pressemitteilung des Gerichts heißt es sinngemäß, die Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR waren hoheitliche Maßnahmen, die sich gegen jene richteten, die die DDR Richtung Westen überwinden wollten. Nun sagen Sie ja grade, das war eine rechtlich korrekte Grenze. Wie ist das zu werten, wenn das Gericht sagt, die Grenzsicherungsmaßnahmen hätten sich nur gegen die DDR-Bürger gewendet?

Das ist eine Interpretation, die nach 1990 immer wieder verwandt wurde. Die Grenze war nicht vorrangig zu diesem Zweck errichtet, sondern sie war  auch da, um die sozialistische Grenze vor  westlichen Bedrohungen zu schützen. Es gab konkrete Bedrohungssituationen, insbesondere in den 50er und 60er Jahren, die man nicht ignorieren kann. Es ging also um den Schutz dieser Staatsgrenze von außen und von innen. Personen, die sich dann entschlossen haben, die Staatsgrenze der DDR von innen nach außen zu überwinden, ohne Genehmigung der Behörden, die haben sich  auf ein  hohes Risiko eingelassen, von dem sie aber wussten, dass es ein Risiko ist, von dem sie wussten, dass es nach DDR-Recht rechtswidrig ist, von dem sie wussten, dass dort auch erhebliche Gefahren damit verbunden sind.
Wenn Schilder an einem Hochspannungsmast darauf hinweisen, hier darf ich nicht hochklettern, weil dort elektrische Gefahr lauert, und ich tue es trotzdem, dann begebe ich mich in diese Gefahr. So ist es auch mit jenen gewesen, die eigenständig einen solchen Versuch unternommen haben, die Grenze zu überwinden. Es hätte andere Möglichkeiten gegeben, zum Beispiel Anträge auf Ausreise zu stellen. Das haben viele andere getan. Manche wollten es erzwingen, wobei sie annehmen mussten, dass diese Gefahren bestehen.  War es das wirklich wert?

Besteht die Gefahr, dass durch dieses Urteil die Debatte wieder neu auflebt, in der es oftmals hieß, die DDR war ein „Unrechtsstaat“?

Das kann sein, dass die Debatte damit neu angeschoben wird. Dieses Thema hat vor Jahren schon einmal sehr von sich reden gemacht. Man kann nur immer wieder betonen: Es gibt diese Definition „Unrechtsstaat“ nicht. Sie werden dafür in keinem juristischen Lexikon eine Definition finden. Es ist einfach eine Erfindung derjenigen, die in irgendeiner Weise die rechtlichen Regelungen in der DDR ignorieren und im Nachhinein uminterpetieren wollen, als wären es Regelungen gewesen, die gewissermaßen von jemand einzelnen gesetzt worden sind. Gesetze wurden von der Volkskammer  verabschiedet auf dem damals üblichen Rechtsweg. Heute werden Gesetze im Bundestag beraten und  beschlossen.

Trifft das sogenannte Rückwirkungsverbot nicht in solch einem Fall zu? Es geht um die Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR. Die DDR besteht nicht mehr und heute beschließt ein Bundesgericht darüber, dass die Maßnahmen der DDR damals „rechtsstaatswidrig“ waren.

Die Frage des Rückwirkungsverbotes hat uns auch bei den Grenzer-Prozessen auf strafrechtlicher Ebene  beschäftigt. Wir haben damals – ich meine alle, die damals in solchen Prozessen verteidigt haben, egal ob das mein Kollege Friedrich Wolff  war oder manch anderer – immer gesagt: Es ist ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot. Weil zum Zeitpunkt der Ereignisse anderes Recht galt auf dem Boden der DDR. Diesem Recht kann man nicht rückwirkend die Geltung entziehen. Die Frage stellt sich hier genauso, weil man eben nicht sagen kann, zum Zeitpunkt als der Kläger die Grenze auf eigenen Entschluss überwunden hat, habe er damals  korrekt gehandelt. Nach DDR-Recht war es nicht rechtmäßig. Das Bundesverwaltungsgericht sagt jetzt, die  Grenzsicherung  der DDR sei rechtsstaatswidrig gewesen. Aber man muss es immer auf den Zeitpunkt abstellen: Welches Recht galt zum Zeitpunkt der Ereignisse? Insofern ist das schon eine Frage des Rückwirkungsverbotes.

Ist das Leipziger Gerichtsurteil vielleicht ein ideologisches Urteil mit Blick auf 30 Jahre Maueröffnung, 30 Jahre Deutsche Einheit?

Vermuten kann man viel, aber man darf diese Unterstellung nicht vornehmen. Gerichte sollen unabhängig sein und insofern gehe ich davon aus, dass sie es auch sind. Die Frage ist: Wie sind Richter zu dieser Auffassung gelangt? Das hat sicherlich damit zu tun, welche Schulen sie durchlaufen haben, was ihnen im Rahmen der juristischen Ausbildung beigebracht worden ist, insbesondere in Bezug auf die rechtlichen Regelungen, die in der DDR galten, und  auch  in historischer Hinsicht. Dass das Einfluss haben kann auf Entscheidungen, die dann getroffen werden, wird man nicht vollständig ausblenden können. Aber dass es eine politische Entscheidung ist, das würde ich nicht behaupten wollen.

Der ehemalige DDR-Staats- und -Parteichef Egon Krenz erinnert in seinem jüngsten Buch über den Herbst 1989 an eine gemeinsame Presseerklärung von Erich Honecker und Bundeskanzler Helmut Kohl vom März 1985, vereinbart in Moskau, in der beide feststellten: „Die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen sind eine grundlegende Bedingung für den Frieden.“ Widerspricht diese gemeinsam vereinbarte Grundhaltung nicht dem, was das Bundesverwaltungsgericht jetzt beschlossen hat?

Irgendwie schon. Mindestens in den 1980er Jahren hatte man auch in der Bundesrepublik erkannt, dass die Sicherung der Grenze ein entscheidendes Element dafür ist, den Frieden für lange Zeit zu erhalten. Man hat ganz sicherlich auch gemerkt, dass es wichtig ist, diese Grenze zu akzeptieren, weil sie eben eine Nahtstelle zwischen den beiden Blöcken war.