Bis heute wird immer wieder behauptet: Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) war 1989 pleite. Die Anhänger dieser These leugnen dabei Fakten und Untersuchungen, die dem widersprechen. Darauf hat der Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler gegenüber Sputnik hingewiesen. Er sagt auch, wer tatsächlich für den DDR-Untergang verantwortlich ist.
„Was wir nicht gewusst haben vor der Wiedervereinigung, das war, wie schlimm es um die ostdeutsche Volkswirtschaft stand und wie bankrott der Staat war.“ Das hat der ehemalige Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) kürzlich im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ (FAS) behauptet. Und hinzugefügt: „Soll mir heute niemand mit Ostalgie kommen, da war nichts gut in der DDR!“
Der CSU-Politiker veröffentlichte vor kurzem seine Erinnerungen als Buch. Im Interview mit der FAS meint er gar, angesprochen auf die von Kanzler Helmut Kohl einst angekündigten „blühenden Landschaften“ in Ostdeutschland: „Die sehe ich, wenn ich durch Ostdeutschland fahre.“ Leider wurde er nicht gefragt, was er damit meint.
Es könnte auch als ein Beleg für mögliche Wahrnehmungsstörungen Waigels verstanden werden. Das gilt auch für seine Einschätzung des Zustandes der DDR-Wirtschaft 1989/90. Oder Waigel setzt auf die verständliche Unkenntnis der Leser dieses und seiner anderen Interviews, die er aus Anlass seiner Memoiren gab.
Zweckbehauptung ohne Grundlage
Die frühzeitig aufgekommene Behauptung, die DDR sei 1989 „pleite“ gewesen, stimmt aus Sicht des Wirtschaftshistorikers Jörg Roesler nicht. Das erklärte er im Sputnik-Gespräch. Nur mit Blick auf die Verschuldung gegenüber dem damaligen sogenannten nichtkapitalistischen Wirtschaftsgebiet (NSW) habe die DDR im Zahlungsrückstand gelegen. Die Verschuldung des Landes im Vergleich zu seinem Brutto-Inlandsprodukt (BIP) sei nicht höher gewesen als die Italiens zum Beispiel.
Für Roesler handelt es sich um eine Zweckbehauptung, um jenen, die durch die Zerstörung der DDR-Wirtschaft mehr als nur ihren Arbeitsplatz verloren, erklären zu können: Es ging nicht anders! Das Gegenbeispiel ist für ihn, dass heute Länder wie Italien mit vergleichbaren Schulden „nicht nur weiter existieren, sondern auch weiter mitmischen können“. Diese Staaten würden nicht zwangsläufig untergehen.
Bundesbank: DDR bis zum Schluss kreditwürdig
Die DDR hatte 1989 Nettoschulden gegenüber dem NSW von insgesamt rund 19,9 Milliarden Valuta-Mark (VM). Das hatte die Bundesbank bereits 1991 berechnet, aber erst 1999 veröffentlicht. Danach standen Devisenreserven der DDR von rund 28,96 Milliarden VM Verbindlichkeiten in Höhe von 48,84 Milliarden VM gegenüber. 1982 habe die DDR-Nettoverschuldung bei 25,15 Milliarden VM gelegen, worauf die politischen Entscheidungsträger ihre Verschuldungspolitik geändert hätten, so die Bundesbank vor 20 Jahren. 1985 habe sie nur noch bei 15,48 Milliarden VM gelegen, sei dann aber wieder angestiegen.
Die Bundesbank schrieb auch Folgendes:
„Die internationalen Finanzmärkte sahen die Situation jedoch noch nicht als kritisch an. Sowohl im Jahre 1988 als auch 1989 konnten die DDR-Banken Rekordbeträge im Ausland aufnehmen.“
Wirtschaftshistoriker Roesler widersprach auch Aussagen, die DDR -Wirtschaft sei so „marode“ gewesen, das der Untergang kommen musste. Die Wirtschaft der DDR sei selbst nach westlichen Berechnungen in den 1980er Jahren gewachsen. Aber sie habe anders als noch in dem Jahrzehnt davor nicht mehr gegenüber der Bundesrepublik aufgeholt. Ihr Niveau habe bei etwas über 50 Prozent des westdeutschen BIP gelegen.
Warum die DDR-Wirtschaft abstürzte
Daraus zu schlussfolgern, dass die DDR-Wirtschaft „marode“ war, hält Roesler für „absurd“. Existenzielle Probleme habe sie erst mit der Grenzöffnung und der übereilten Anpassung an bundesdeutsche Vorgaben im Zuge der schnellen Einheit 1990 bekommen. Das wäre jedem anderen Land nicht anders gegangen, betonte der Experte.
Das Niveau der DDR bzw. Ostdeutschlands von 55 Prozent im Jahr 1989 im Vergleich zum westdeutschen BIP sei auf 33 Prozent im Jahr 1991 abgesackt. „Das hat nichts mit Pleite zu tun, sondern mit ihrer Behandlung mit Hilfe dieser Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion.“ Dieses Niveau von 1991 werde statt dem von 1989 als Ausgangspunkt für die Zwecklügen genommen, hob Roesler hervor.
Politische Vorgaben für Wirtschaft
Die Wirtschaft der DDR habe große Probleme bei notwendigen Investitionen gehabt, erklärte er. Das habe mit dem politischen Ziel zu tun gehabt, den sozialen und materiellen Wohlstand der Bürger des Landes zu sichern und auszubauen. Das habe sich besonders ausgeprägt, als 1971 Erich Honecker Walter Ulbricht als SED-Vorsitzenden ablöste. Vor allem ab den 1980er Jahren seien viele Industrieanlagen nicht mehr wie notwendig erneuert worden.
Es habe in der SED-Führung Streit darüber gegeben, ob der Lebensstandard zugunsten der Industrieentwicklung nicht weiter steigen dürfe. Entsprechende Vorschläge vom SED-Politbüromitglied Günter Mittag, verantwortlich für Wirtschaft, habe Partei- und Staatschef Honecker aber abgelehnt. „Wie hätten die Arbeiter reagiert, die die alten Anlagen beklagten, an denen sie arbeiteten, wenn ihre Löhne wegen der notwendigen Investitionen nicht steigen?“ Die Antwort auf diese Frage sei entscheidend gewesen, so Roesler.
Zugespitzte Warnung 1989
Nach dem Sturz Honeckers legte der DDR-Planungschef Gerhard Schürer gemeinsam mit anderen der DDR-Spitze im Oktober 1989 ein Papier vor, nachdem die Wirtschaft des Landes kurz vor der Zahlungsunfähigkeit stand. Das gilt bis heute für manche als Beweis dafür, dass die DDR 1989 „pleite“ war. Dabei wird ignoriert, dass die Autoren um Schürer ihre Angaben für das SED-Zentralkomitee später selber korrigierten.
Die Analyse der ökonomischen Situation hatte Honecker-Nachfolger Egon Krenz in Auftrag gegeben. „Das Papier war keine Kapitulation, sondern ein Wegweiser, wie eine souveräne DDR mit den Schwierigkeiten aus eigener Kraft hätte fertig werden können.“ Das schrieb Krenz 2009 in der Neuausgabe seines Buches „Herbst ‘89“ dazu. Ziel der Autoren sei es gewesen, „die Partei- und Staatsführung zu einer sozialistischen Wirtschaftsreform zu drängen“.
Historiker Roesler meinte dazu: „Das war ein Aufruf: Macht es anders! Aber nicht: Wir sind pleite!“ Das Besondere sei gewesen, dass das Papier Ende 1989 an die Öffentlichkeit kam. „Hätten sie es zwei Jahre vorher zusammen gehabt, wäre es nicht rausgekommen.“
Die zehn Jahre später veröffentlichte Bundesbank-Analyse habe nüchtern gezeigt: „Es war im normalen Bereich, es war kein Zusammensturz.“ Es habe keinen Grund gegeben für die Annahme, dass die DDR wirtschaftlich zusammenbrechen würde. Ihre vorhandenen ökonomischen Probleme seien zum Teil weltwirtschaftlich bedingt gewesen, wie die Bundesbank gezeigt habe, so Roesler. Deren spätveröffentlichte Analyse sei zudem ein Beleg dafür, wie schwer es die Wahrheit gegenüber politischen Interessen habe.
Politik ignorierte Experten
Für Experten, auch solche aus der DDR, ist klar, dass die inneren Probleme Wirtschaft der DDR in beachtlichem Maß durch die politischen Vorgaben der SED-Führung bedingt waren. Dieses realitätsfremde Verhalten bestimmte aber ebenso das Verhalten der Bundesregierung, als es um die deutsche Einheit ging. Deren Umgang mit der Wirtschaft der DDR und die folgende Deindustrialisierung Ostdeutschlands mit Hilfe der Treuhand hätten jegliche fachlichen Einwände von Wirtschaftsexperten ignoriert, bestätigte Roesler.
Der ehemalige Vize-Chef der DDR-Plankommission Siegfried Wenzel, beteiligt an den Verhandlungen zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit der BRD, hat bereits 2000 eine Analyse „Was war die DDR wert?“ veröffentlicht. In der aktualisierten Ausgabe von 2015 zitierte Wirtschaftshistoriker Roesler Wenzels Aussagen in einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema: „Die DDR war im Jahre 1989 weder wirtschaftlich am Ende noch war sie pleite.“
Wenzel belegte diese Aussage in seinem Buch mit Zahlen und Fakten und verwendete dabei auch Vergleichsdaten anderer europäischer Staaten. Seine These, nicht der staatssozialistische Wirtschaftstyp sei das Problem der DDR gewesen, „sondern die fehlende Flexibilität der SED-Führung in der Preispolitik“, unterstützt Roesler.
Fehler im System der DDR
Die DDR hat es bei allen Bemühungen und entsprechenden Parolen wie der vom „Überholen ohne einzuholen“ nicht geschafft, der Rückstand zur BRD-Wirtschaft einzuholen. Der Wirtschaftshistoriker dazu in seinem Vorwort: „Als Hauptursache dafür benennt Wenzel ‚die grundlegenden, die ‚genetischen‘ Fehler des politischen und Gesellschaftssystems selbst‘. Darunter versteht er die Beanspruchung des Wahrheits- und Weisheitsmonopols durch die SED, die Negierung einer pluralistischen Demokratie und die bedingungslose Unterordnung der Wirtschaft unter das Primat einer voluntaristischen Politik sowie die Negierung ihrer Eigengesetzlichkeit.“
Zu den Ursachen zählen für Roesler aber ebenso die Belastungen durch die Reparationsleistungen an die Sowjetunion. „Es handelte sich um die höchsten Reparationen, die ein Land im 20. Jahrhundert zu zahlen hatte“, stellte Roesler fest. Das habe zu deutlich schlechteren wirtschaftlichen Ausgangs- und Entwicklungsbedingungen für die 1949 gegründete DDR geführt im Vergleich zu jenen für die im selben Jahr gegründete BRD.
Funktionsfähige Planwirtschaft
Der Wirtschaftshistoriker verweist im Vorwort zu Wenzels Buch auf die Untersuchungen von Gerhard Heske vom Kölner Zentrum für Historische Sozialforschung aus den Jahren nach 2005. Dieser hatte mit Hilfe der vorhandenen Daten einen deutsch-deutschen ökonomischen Leistungsvergleich vorgenommen. Roesler fasst das so zusammen: „Der heute jedem Interessierten mögliche Nachvollzug des Produktivitätswettbewerbs zwischen DDR und BRD ist gewissermaßen der wirtschaftsstatistische Beweis der von Siegfried Wenzel mehrmals getroffenen Feststellung, dass die DDR-Planwirtschaft sicherlich viele Fehler und Mängel gehabt habe, dass sie aber nichtsdestotrotz funktionsfähig gewesen sei.“
„Aufholen, ohne einzuholen!“ heißt Roeslers eigenes Buch über „Ostdeutschlands rastlosen Wettlauf 1965 – 2015“. Darin stellte er 2016 fest, dass die DDR-Wirtschaft 1989 vor der Aufgabe grundlegender Reformen stand. Diese seien unter dem SED-Generalsekretär Erich Honecker nicht möglich gewesen. Erst nach dessen Rücktritt im Oktober 1989 und mit der neuen DDR-Regierung unter Hans Modrow ab November des Jahres seien Reformen möglich geworden. Doch das dafür von der neuen Wirtschaftsministerin Christa Luft gemeinsam mit anderen Experten vorgelegte Konzept hatte am Ende keine Chance mehr. Das Ende der DDR kam am 2. Oktober 1990 schneller, als es viele noch im Herbst 1989 für möglich hielten.