Eine „neuen Oligarchie von Reichen“ in Deutschland sieht die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles. Dagegen habe die Armut hierzulande ein „Kindergesicht“. Das sagte sie am 7. März in Berlin in einer Diskussion mit der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion über den Fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung.
In Deutschland wächst jedes fünfte Kind in Armut auf, zitierte Nahles aus Studien. Das betrifft fast zwei Millionen Kinder. Ohne die Leistungen des Sozialstaates wären es doppelt so viele, schätzt die Ministerin. Eine Million Kinder lebten derzeit in Haushalten von arbeitslosen Eltern. Sie habe „persönlich überrascht“ festgestellt, dass die Löhne zwar gestiegen seien, aber nur die Gutverdiener, etwa 40 Prozent der Beschäftigten, davon profitierten. In einzelnen Bereichen habe es sogar Minusergebnisse gegeben. „Die Lohnspreizung verfestigt sich“, zeigt der Bericht laut der Ministerin. Geringverdiener würden zunehmend merken: „Ich strenge mich an, auch über die letzten zehn Jahre, aber ich komme nicht mehr ran an die mittleren Verdienste.“ Es ist für Nahles „kein Wunder, dass die Leute das Gefühl haben, dass sie sich trotz Anstrengung an der Stelle nicht in die Richtung bewegen, die immer propagiert wird: Streng Dich an, dann geht’s auch vorwärts und Du kannst deine Lage verbessern.“ Das funktioniere nicht.
Soziale Lage widerspricht wirtschaftlichen Erfolgsmeldungen
Laut dem noch inoffiziellen Bericht meinen 84 Prozent der danach Befragten, dass die Armut in Deutschland in den letzten Jahren gestiegen ist, sagte die Bundesarbeitsministerin. Zwei Drittel seien für Steuern auf Privatvermögen von Reichen. Zwei Drittel befürchteten, im Alter zu verarmen. Nahles warnte davor, die subjektiven Meinungen zu ignorieren. Für sie ist die Frage wichtig, warum die Menschen die Lage anders empfinden als von Meldungen über die wirtschaftlichen Erfolge beschrieben. Sie will mit einem „Pakt für anständige Löhne“ die Entwicklung verändern.
Selbst der Mindestlohn reiche nicht aus. Für Langzeitarbeitslose will sie einen ordentlich finanzierten öffentlichen Beschäftigungssektor. Den Betroffenen würde bisher „nur eine Karotte vor die Nase gehalten“, aber keine Chance auf eine gute Arbeit gegeben. Das liege auch am Widerstand des Bundesfinanzministers, der kein Geld für mehr öffentlich geförderte Beschäftigung ausgeben wolle, verwies Nahles auf die Rolle von Wolfgang Schäuble (CDU). Die Bundesarbeitsministerin will mehr Investitionen in den sozialen Bereich und weg vom Blick allein auf die Finanzleistungen für sozial Benachteiligte. Es gehe um Rahmenbedingungen und Strukturen, die Menschen in Armut helfen können.
Das unterstützten in der Veranstaltung anwesende Vertreter von Wohlfahrtsverbänden wie Dr. Joß Steinke vom Generalsekretariat des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) und Dr. Joachim Rock vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. DRK-Vertreter Steinke forderte, die soziale Arbeit „muss uns was wert sein“. Bundesarbeitsministerin Nahles zeigte sich an der Stelle „erzürnt“, „dass bis hin auf der europäischen Ebene die Konservativen in der Regierung das immer nur als Kosten und Ausgaben bezeichnen“. Dabei sei durch „hunderte Studien“ belegt, dass es sich um soziales Kapital handele, dass selbst beitrage, die Binnenwirtschaft zu stärken.
Ein Problem ist für die SPD-Ministerin, „dass wir so gut wie nichts über den Reichtum in Deutschland wissen, aber jeder Cent für Hartz-IV-Empfänger ist wohlbekannt und dreimal umgedreht“. Daten zu Reichtum und Vermögen fehlten unter anderem, weil die Vermögenssteuer ausgesetzt wurde, erklärte sie. Auf Nachfrage aus dem Publikum gab sie sich skeptisch, ob sich das wieder ändern lässt. Für den Regierungsbericht seien ersatzweise etwa 130 Menschen mit einem freien Vermögen über einer Million Euro bzw. einem Jahreseinkommen von drei Millionen Euro befragt worden.
Kritik an „Quasi-Zensur“ aus dem Kanzleramt
„Wahre Reichtumsforschung sieht aus unserer Sicht anders aus“, kritisierte das der Vertreter des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Joachim Rock, gegenüber Sputniknews nach der Veranstaltung. In dieser hatte die Ministerin auf die Publikumsfrage, was die Regierung gegen den steigenden Reichtum tun wolle geantwortet: „Nächste Frage …“ Sie hatte zuvor immerhin festgestellt, dass es auch in Deutschland eine „neue Oligarchie von Reichen“ gebe. Nahles hofft auf eine gesellschaftliche und politische Debatte für mehr soziale Gerechtigkeit und will, dass Reiche mehr für die Gesellschaft tun, als nur zu spenden.
Sie gab sich unter ihren Genossen kämpferisch und meinte, die SPD werde die Lage der Armen in Deutschland ändern. Und fragte: „Warum sollte uns jemand dran hindern?“ Doch wie schwer das ist, zeigt sich bereits heute daran, dass der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung schon Ende 2016 vorgelegt werden sollte. „Doch wir brauchen viel länger als geplant“, gestand die Bundesarbeitsministerin ein, „weil wir nicht einig sind mit dem Kanzleramt“.
Sie ging in der Veranstaltung nicht auf die Kritik zum Beispiel vom Paritätischen Wohlfahrtsverband ein, dass im letzten Berichtsentwurf wichtige Passagen aus der Vorversion gestrichen wurden. Das traf unter anderem um Aussagen zum „Einfluss von Interessensvertretungen und Lobbyarbeit“ und Erkenntnisse, dass Arme sich nicht mehr von den politischen Entscheidungsträgern vertreten fühlen und sich deshalb weniger stark an Wahlen beteiligen. In den ersten Entwürfen wurde noch gewarnt, dass das dazu führt, dass die etablierten Parteien Armen und ihren Interessen noch weniger Beachtung schenken. Diese und andere Stellen fehlen im aktuellen Entwurf des Armuts- und Reichtumsberichtes.
Verbandsvertreter Rock sieht da einen Konflikt zwischen dem Nahles-Ministerium und CDU-geführten Ressorts. Er hofft, dass die gestrichenen Passagen wieder aufgenommen werden. Er will das „sehr gespannt“ beobachten, „ob solch eine Quasi-Zensur dann tatsächlich stattfindet“, wie er gegenüber Sputniknews betonte. DRK-Vertreter Steinke sprach gegenüber Sputnik von einem „gängigen Prozess“. Seine Organisation werde auf die Endfassung schauen. Rock rief dazu auf, sich die öffentlich über das Internet zugänglichen Materialien für den Regierungsbericht anzuschauen, „denn da stehen alle Studien und Hintergründe tatsächlich drin“. Da könne sich jeder und jede ein objektives Bild machen.
Informationen zum Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung online