9. November 1989: Wie Walter Momper der SED-Spitze den Rückweg abgeschnitten hat

Die Ereignisse um den 9. November 1989 mit der Grenzöffnung hat Walter Momper als Regierender Bürgermeister von West-Berlin miterlebt und zum Teil mitgestaltet. Die Entwicklung in der DDR bis zu diesem Zeitpunkt hat er aktiv beobachtet, über die bestehende Mauer hinweg und dank direkter Kontakte. Sputnik hat mit ihm darüber gesprochen.

Walter Momper im Januar 2019

Walter Momper war im Herbst 1989 seit ein paar Monaten Regierender Bürgermeister von West-Berlin. Der Sozialdemokrat mit dem roten Schal als Markenzeichen war im März 1989 gewählt worden. Die Entwicklung habe sich im Sommer vor 30 Jahren zugespitzt, erinnerte er sich im Gespräch mit Sputnik.

„Für mich war das erste Signal, als an der ungarisch-österreichischen Grenze der Stacheldraht weggeräumt wurde und gesagt wurde, die Leute aus der DDR würden nicht mehr zurückgebracht werden, die dort versuchten, zu flüchten.“

Es sei täglich zu beobachten gewesen, dass sich in der DDR etwas änderte, so Momper. Für ihn war das Entstehen neuer politischer Gruppierungen und Organisationen wie „Neues Forum“ eines der Zeichen dafür. Im Herbst 1989 sei schnell klar geworden, dass es zu deutlichen Veränderungen kommen kann.

„Ab August rechneten wir mit dem ‚Sturm über die Mauer von hinten‘, wie wir das immer nannten. Dass die Leute es sich nicht mehr lange gefallen ließen, dass sie das Land über Ungarn, die Tschechoslowakei oder Polen verlassen konnten, sondern dass sie es direkt über die Grenze versuchen würden. Das war schon ziemlich klar. Das Selbstbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger in der DDR stieg mit jedem Tag.“

Vor allem kritische Intellektuelle hätten das Land verändert, erinnerte sich Momper. Die Richtung der beschleunigten Veränderung sei ihm klar gewesen, „nur in welchem Maße, das war nicht so klar“. In seinem Buch „Grenzfall – Berlin im Brennpunkt deutscher Geschichte“ berichtete er, dass er in die DDR gefahren sei, um sich ein Bild vor Ort machen zu können.

Gespräche mit Honecker und mit Schabowski

Dazu habe ein Besuch im Sommer 1989 bei Erich Honecker gehört. Mit dem damaligen SED-Generalsekretär habe er über die Lage gesprochen, erzählte Momper im Interview. Honecker sei ihm wie jemand vorgekommen, „der in der alt-sozialdemokratischen Welt lebt. Der war so ungeheuer stolz darüber, dass die DDR durch den vielen Neubau die Wohnungsfrage als soziale Frage gelöst hätten.“

Das sei auch „eine großartige Leistung gewesen“, gestand Momper ein, „wenn auch mit geliehenem Geld“. Er habe den SED-Chef gefragt, warum die Stimmung im Land so schlecht sei, wenn es allen angeblich so gut gehe. Honecker habe versucht, das zu erklären, sei „aber ziemlich weitab von der Realität“ gewesen, erinnerte sich der einstige Regierende Bürgermeister.

Erst im Herbst des Jahres habe er Kontakt zu Oppositionellen aus der DDR wie Bärbel Bohley aufgenommen und diese besucht. „Da ist dann schon ziemlich klar geworden: Es wird einen anderen Staat geben. Der Staat bleibt nicht mehr so wie er war.“

Mompers Buch erschien 1991 und wurde in einer überarbeiteten Fassung 2014 vom Verlag „Das Neue Berlin“ noch einmal aufgelegt. Darin berichtete er über das, was er vor dem 9. November 1989 erfahren hatte: Bei einem Gespräch mit dem SED-Politbüromitglied Günter Schabowski am 29. Oktober 1989 im Ost-Berliner „Palast-Hotel“ habe dieser angekündigt, dass ein neues DDR-Reisegesetz Reisefreiheit für die Bürger des Landes bringen solle – „vielleicht schon zum 1. Dezember“, so Schabowski laut Momper.

Vorbereitungen auf angekündigte DDR-Reisefreiheit

Der SED-Funktionär habe dabei zugesagt, „denen, die für immer ausreisen wollen, werden wir keine Hindernisse in den Weg legen. Letztlich können wir die Leute doch nicht halten. Die Motivation dafür, im Lande zu bleiben, muss hier bei uns gegeben sein. Die Mauer macht das auf Dauer nicht.“

Bei Momper ist nachzulesen, wie er nach dem Treffen die West-Berliner Verwaltung beauftragte, sich auf plötzlichen Ansturm von Besuchern aus der DDR vorzubereiten. Denn:

„Uns war klar: West-Berlin würde sehr bald sehr viele Besucher bekommen, was eine große Belastung für die Bewohner bedeutete. Wir einigten uns darauf, dass wir öffentlich von nicht mehr als 300.000 zu erwartenden Besuchern sprechen wollten, um keine Verunsicherung aufkommen zu lassen.“

Schabowski habe damals nicht die „Maueröffnung in dem später eingetretenen Sinne gemeint“, erklärte Momper im Gespräch dazu. Er habe aber gehofft, dass mit der neuen Reisereglung nicht mehr so viele DDR-Bürger wie in den Wochen zuvor flüchten würden, weil sie eben jeder Zeit reisen könnten. „Nur, wie sie es machen wollten, darüber hatten sie noch gar keinen Gedanken verschleudert“, blickte der ehemalige Regierende Bürgermeister zurück. Das sei aus Schabowskis Worten deutlich geworden.

Es selbst habe daraufhin in dem Gespräch im Oktober 1989 zusätzliche Grenzübergänge zwischen Ost- und West-Berlin gefordert. Das sei vom SED-Vertreter zugestanden worden, so dass bereits am 10. November der West-Berlin-Beauftragte des DDR-Außenministeriums, Walter Müller, mit dem West-Berliner Senat neun neue Übergänge vereinbarte. „Auf einmal ging in wenigen Minuten, wofür wir vorher in zähen Verhandlungen Jahre gebraucht hatten“, so Momper in seinem Buch.

500.000 DDR-Bürger am ersten Tag erwartet

Er erinnerte sich im Gespräch, dass Schabowski darauf hinwies, dass die DDR-Führung noch mit der Bundesregierung in Bonn reden wollte, wie die neue Reiseregelung gemeinsam finanziert werden könne. Die DDR-Bürger hätten ja nicht ohne Devisen in die BRD und das andere westliche Ausland reisen können. Momper verwies auf ein geheimes Gespräch am 6. November zwischen Alexander Schalck-Golodkowski als Vertreter des neuen SED-Generalsekretärs Egon Krenz mit Bundeskanzleramtsminister Rudolf Seiters und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble. Dabei war es um die Frage der Finanzen gegangen, wenn auch erfolglos.

Er sei mit seinen Mitarbeitern intern damals von rund 500.000 DDR-Bürgern ausgegangen, die mit der angekündigten Reisefreiheit täglich in den Westteil der Stadt kommen würden, so Momper. „Das waren ja dann tatsächlich zwei Millionen.“ Schabowski habe noch behauptet, die DDR könne den Besucherstrom steuern, was er selbst aber angezweifelt habe. Wie viele dann nach der überraschenden Grenzöffnung in der Nacht zum 10. November 1989 kamen, habe ihn selbst überrascht.

In seinem Buch beschrieb er, wie sich die West-Berliner Verwaltung nach dem Gespräch mit Schabowski auf die angekündigten Besucher aus der DDR vorbereitete. Eine Projektgruppe des Senats sollte den „Tag X“ vorbereiten. Auch wenn sie dabei vom 1. Dezember ausging und am 9. November noch nicht nicht fertig war, half das dann doch, den Ansturm nach der Grenzöffnung in der Nacht vom 9. zum 10. November zu bewältigen.

Im Gespräch berichtete Momper, dass bereits am 30. Oktober 1989 DDR-Vertreter Müller mit seinem West-Berliner Ansprechpartner Gerhard Kunze zusammengekommen sei. Dabei sei es erstmals um neue Grenzübergänge gegangen. Für die leitenden Mitarbeiter der West-Berliner Verwaltung sei eine Urlaubssperre verhängt worden. Für jedes Ressort seien Arbeitsgruppen eingesetzt worden, um den „Tag X“ vorzubereiten. Die Themen hätten von der Hilfe für kranke Menschen und möglichen Sterbefällen bis hin zu verlorenen Schlüsseln und verlorenen Kindern gereicht.

Vorabinformationen am 9. November 1989

Auch die Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) sei einbezogen worden, um den Transport der erwarteten Besucher aus dem Osten zu sichern. Für deren Information seien 250.000 Broschüren zur BVG, über Fahrzeiten und -preise, gedruckt worden. Am 9. und 10. November sei dann der Smog-Alarm-Fahrplan, also für den Fall eines PKW-Fahrverbotes, eingesetzt worden, berichtete Momper.

Die BVG in West-Berlin habe damals mit der U-Bahn im Regelfall 1,5 Millionen Menschen täglich transportiert. Als die DDR-Bürger dann durch die geöffnete Grenze strömten, seien die Abfahrzeiten auf 2,5 Minuten verdichtet worden. Er selbst sei an dem Tag kaum mit dem Auto durch die Straßen gekommen, habe sogar auf dem Gehweg fahren müssen, unterstützt von der Polizei. Als das nicht mehr möglich war, sei er mit seinen Mitarbeitern selbst in die U-Bahn gestiegen – „das war der schnellste Weg, um durchzukommen“.

Nach seinen Worten hatte er die Pressekonferenz am 9. November mit Schabowskis Ankündigung nicht im Fernsehen gesehen. In seinem Buch beschreibt Momper, wie der Tag ablief, bevor ihn die Nachricht von der offenen Grenze erreichte. Während einer Beratung habe ihm gegen Mittag Wirtschafts-Staatssekretär Jörg Rommerskirchen gesagt: „Ein befreundeter Journalist, von dem ich weiß, dass er exzellente Informationskanäle in die SED hinein hat, hat mir soeben gesagt, dass heute in der ZK-Sitzung noch eine wichtige Entscheidung zum Reisegesetz getroffen werden soll. Die ziehen das wegen der Proteste in der Bevölkerung jetzt vor und wollen Reisefreiheit geben.“

Rommerskirchen berichtete 2009 in einem Interview mit „Spiegel online“, er habe damals hinzugefügt: „Ich schließe daraus, dass heute Abend die Mauer aufgeht.“ Der Journalist, der ihm die Information gab, war Peter Brinkmann, damals Reporter der „Bild“-Zeitung. Er spielte dann in der Pressekonferenz von Schabowski eine Rolle. Der Staatssekretär habe die Information als „absolut zuverlässig“ bezeichnet, so Momper. Er habe daraufhin dem damaligen Verkehrs-Senator von West-Berlin, Horst Wagner, gesagt: „In der DDR braut sich was zusammen. Kann sein, dass wir ganz schnell Reisefreiheit bekommen. Informiere die BVG, so dass die auf überraschende Entwicklungen noch heute vorbereitet ist.“

Folgen der Schabowski-Aussagen erkannt

So war die West-Berliner Verwaltung nicht ganz überrascht, als dann kurz vor Mitternacht tatsächlich die Grenze geöffnet wurde und immer mehr Ost-Berliner herüber strömten. Schabowski erklärte kurz vor 19 Uhr am 9. November 1989 gegenüber Journalisten auf deren Nachfragen, dass die Grenze für DDR-Bürger „sofort, unverzüglich“ geöffnet wird. Davon habe er dann an dem Abend durch eine eher ungenaue Eil-Meldung der Nachrichtenagentur DPA sowie die TV-Aufzeichnung erfahren, erinnerte sich Momper.

Er habe, als er die Fernsehbilder sah, den Eindruck gehabt, dass Schabowski den Zettel mit der Mitteilung über die Grenzöffnung das erste Mal sah. Ihm sei aufgefallen, dass damals selbst die Journalisten nicht gleich richtig verstanden hatten, was sie da von Schabowski zu hören bekamen. Einer der ganz wenigen, die das durchschaut hätten, sei der US-Journalist Tom Brokaw gewesen. Dieser habe den SED-Funktionär nach der Pressekonferenz in einem Interview gefragt, was nun folgt und was aus der Mauer wird.

Was die Ankündigung des SED-Mannes bedeutet, sei ihm gleich klar gewesen, so Momper. Schabowski habe beim Gespräch am 29. Oktober zwar versprochen, er werde vorher Bescheid geben. Das sei aber nicht geschehen, so Momper. „Mein erster Gedanke war: Haben sie denn die Russen überhaupt gefragt?“ Er habe sich dann mit seinem Kanzleichef Dieter Schröder besprochen und mit diesem festgelegt:

„Das ist es jetzt. Nun müssen wir Dynamik da rein bringen und den Rückweg zumachen. Nicht dass Schabowski hinterher sagt, Krenz habe ihm den falschen Zettel gegeben.“

Er sei dann zum „Sender Freies Berlin“ (SFB) gefahren und habe in dessen TV-Sendung „Abendschau“ erklärt, er freue sich, dass jetzt alle DDR-Bürger kommen können. Er habe nicht ausdrücklich gesagt, dass die Mauer offen sei – „war sie ja auch noch gar nicht“. Den Ost-Berlinern habe er geraten, die „Trabis“ und die „Wartburgs“ zu Hause zu lassen und mit Bahn und Bus fahren, damit es nicht zum Verkehrschaos kommt.

Druck auf die Grenze herbeigeredet

Momper erzählte, er habe am Folgetag in der U-Bahn ein älteres Ehepaar aus Falkensee getroffen. Sie hätten ihm gesagt, dass sie ihn im Fernsehen gesehen hätten und er gesagt habe, die Mauer sei offen. „So war es ja auch beabsichtigt“, gestand er ein, „dass die das denken, damit der Druck da groß wird.“ An den DDR-Grenzübergängen hätten sich die Menschen, die nun über die Grenze wollten, auf Schabowski berufen, aber auch auf seine eigenen Äußerungen im TV – „auf den West-Politiker mit der höheren Zuverlässigkeit“, wusste Momper zu berichten.

Im Gespräch schilderte er, wie damals in den ARD-„Tagesthemen“ um 22.42 Uhr Moderator Hanns Joachim Friedrichs erklärte:

„Dieser 9. November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Die Tore in der Mauer stehen weit offen.“

Doch Reporter Robin Lautenbach habe bei der Live-Übertragung in der Berliner Invalidenstraße vor einem Übergang gestanden, der anders als der in der Bornholmer Straße noch sichtbar geschlossen war. Kurze Zeit später sei das dort aber auch anders gewesen, wie er selbst gesehen habe.

Zur Rolle des Fernsehens bei den Ereignissen meinte Momper, dass sich das ganz klar dort zeigte, wo in der DDR keine BRD-Sender empfangen werden konnten. So seien zum Beispiel in Bergen auf Rügen die DDR-Bürger Schabowskis Anweisungen gefolgt und auf die Meldeämter gegangen, um sich das Visum zu holen. In Berlin seien die Menschen allein mit ihrem DDR-Personalausweis über die Grenze gekommen, was immer wieder im Fernsehen gezeigt wurde.

In Berichten über die Nacht zum 10. November ist immer wieder zu lesen, der Regierende Bürgermeister West-Berlins habe geholfen, den ansteigenden Verkehr zu regeln. „Meine Grundstimmung in jener Zeit war eigentlich die Angst und die Sorge, es passiert etwas an der Grenze“, erklärte er dazu im Gespräch. Deshalb seien auch alle möglichen Planspiele abgelaufen, um vorbereitet zu sein für den „Fall X“, bis zum Sturm auf die Mauer und dem gewaltsamen Gegenschlag der DDR-Grenztruppen.

Mit Megafon Verkehr geregelt

Dazu sei auch am 7. Oktober, während der offiziellen Staatsfeierlichkeiten der DDR, an deren Rande Demonstrationen gewaltsam niedergeschlagen wurden, der taktische Funk der DDR-Volkspolizei abgehört worden. Es sei darum gegangen zu erfahren, wie sich die Lage entwickelt und wie die DDR-Behörden reagierten. Deshalb sei er in der Nacht vom 9. zum 10. November zum Grenzübergang Invalidenstraße gefahren, um zu sehen, was dort passiert. Er habe Angst gehabt, dass die DDR-Grenzer das Tor schließen und schießen.

„Dann habe ich mir ein Megafon von der West-Berliner Polizei geholt und bin auf einen Tisch geklettert und habe gesagt: Liebe Berlinerinnen und Berliner, hier spricht Ihr Regierender Bürgermeister! Da merkte ich schon: nach jedem Halbsatz jubeln die. Da war viel Alkohol im Spiel, jeder bot Dir was an. Da merkte ich: Das geht nicht, Du kriegst die da nicht weg. Da habe ich nur gesagt, sie sollen da die Wege frei machen, damit die Fahrzeuge durchkommen, die „Trabis“. Das haben sie dann auch gemacht. Die Leute waren relativ diszipliniert.“

Es habe in der Nacht keinerlei Anzeichen gegeben, dass die Situation kippen könnte, sagte Momper auf eine entsprechende Frage. „Die brisanteste Stelle aus unserer Sicht war am Brandenburger Tor, weil dort die Mauer vom Westen her gestürmt worden ist, nicht vom Osten. Die DDR-Grenzer sind damit ganz cool umgegangen, die haben erst mit Wasser gespritzt, was aber dann nichts mehr nutzte. Da haben wir zwei Tage später Polizeiwagen davor gestellt, weil die DDR sich beschwerte, ihr Eigentum, die Mauer, werde von den ‚Mauerspechten‘ kaputt geklopft. Da haben wir das unterbunden. Ich habe gesagt: Wir wollen Frieden haben, nicht, dass es zu Zwischenfällen kommt.“

Ihm seien keine gefährlichen Situationen in der Nacht vom 9. November 1989 bekannt geworden, nicht in West-Berlin und auch nicht an der Grenze zwischen der DDR und der BRD damals. Bis heute erscheint das erstaunlich, war doch zu dem Zeitpunkt immer noch Kalter Krieg, während dessen sich an der innerdeutschen Grenz zwei nuklear bewaffnete System gegenüber standen.

Gespräche mit den Alliierten

Momper sagte, gefragt nach seinem Kontakt zu den westlichen Alliierten, dass er diese regelmäßig über die Lage in der DDR informiert habe. „Die kamen fast jeden Tag zum Chef der Senatskanzlei, oft die Gesandten oder die Verbindungsoffiziere, und fragten, was es Neues gebe und wie was zu bewerten wäre. Die waren voller Spannung.“

Mit diesen Vertretern der Alliierten habe er in der Folgezeit über Verschiedenes diskutiert. Zu dem Zeitpunkt, als die DDR-Volkspolizei nicht mehr ernst genommen wurde, sei beispielsweise diskutiert worden, ob die Militärpolizei der Alliierten bei Problemen aushelfen müsse. „Und wenn Ihr nicht wollt, machen unsere das, die sind schon ganz scharf darauf, mal in der DDR den Verkehr zu kontrollieren“, habe er nicht ganz ernst gemeint gesagt, erinnerte sich Momper.

Er fügte hinzu:

„Die Russen saßen auch auf unserem Schoß. Der Maximytschew [Igor Maximytschew, stellv. UdSSR-Botschafter in der DDR – Anm. d. Red.] kam jeden dritten Tag und wollte wieder etwas interpretiert haben, wie wir das denn sehen.“

Der einstige SPD-Politiker verwies auf verschiedene Probleme für die sowjetischen Truppen: „Die mussten ihre Hunderttausende Soldaten jeden Tag verpflegen. Das kam ja aus der DDR, aber auch aus der Sowjetunion. Wenn der Verkehr zusammengebrochen wäre, hätte das fatale Folgen gehabt.“

Sowjetisches Nichteingreifen war angekündigt

Ähnliches sei es für West-Berlin gewesen, das zum Großteil aus der Bundesrepublik versorgt worden sei. Das habe weiter gewährleistet werden müssen und sei der reale Hintergrund für die Sorgen um den Zustand der DDR-Volkspolizei gewesen. Das sei für West-Berlin wie auch für die sowjetischen Truppen „bedrohlich“ gewesen, so Momper im Rückblick. Deshalb sei der ganz offene Austausch so wichtig gewesen.

Ziemlich früh sei vor 30 Jahren klar gewesen, dass die Sowjetunion nicht eingreift und die Grenzöffnung verhindert oder rückgängig macht:

„Im September war Falin in Berlin [Valentin Falin, führender Außenpolitiker der KPdSU – Anm. d. Red.], im Osten als Vorauskommando für den großen Generalsekretär. Aber dann kam er gezielt auch in den Westen und wollte mit mir und ein paar anderen sprechen. Da haben wir uns in der ‚Paris‘-Bar getroffen – wenn etwas ganz geheim bleiben soll, musst Du es in aller Öffentlichkeit machen. Da haben wir über alles Mögliche geredet, auch darüber, dass Gorbatschow nicht in die inneren Angelegenheiten der DDR eingreift. Valentin sagte, darauf können wir uns verlassen.“

Falin habe das mit dem internationalen Renommee Gorbatschows begründet, dass dieser nicht gefährden wollte – „auf gar keinen Fall“. „Das schien uns auch logisch zu sein“, sagte Momper dazu.

„Das war der eigentliche Punkt. Wobei das nicht die Wiedervereinigung beinhaltete, sondern es ging nur um die DDR, dass die die innere Freiheit hätten, ihre Dinge selbst zu gestalten.“

Er habe den KPdSU-Vertreter gefragt, ob die sowjetische Seite der DDR- und SED-Führung „mal den Marsch blasen“ würde, weil deren Handeln wie „aus dem 19. Jahrhundert“ sei. Falin habe gesagt, das sei nur begrenzt möglich, denn auch andersrum würden sie nicht eingreifen wollen. Aber der Westen könne sich darauf verlassen, dass das in den diplomatisch gebotenen Formen geschehe.

DDR-Bevölkerung hat Zug zur Einheit beschleunigt

Momper meinte zum Zustand der DDR vor 30 Jahren: „Wir haben zu dem Zeitpunkt gesagt: Der Laden kracht zusammen.“ Aber eine schnelle Wiedervereinigung „war auch unserem Denken ziemlich fern“, gestand er ein. Darüber sei zwar immer wieder geredet und spekuliert worden. „Aber ich habe auch gesagt: Nein, das kommt noch nicht.“ Zu diesem Zeitpunkt sei in der DDR auch der Aufruf „Für unser Land“ von zahlreichen Intellektuellen veröffentlicht worden. Die hätten gesagt: „Wir wollen die allerschönste DDR der Welt machen.“

Anders als auch vom damaligen Regierenden Bürgermeister West-Berlins erwartet führte der Weg schnell von der Grenzöffnung am 9. November 1989 zur staatlichen Einheit am 3. Oktober 1990. „Ich glaube nicht, dass es überhaupt eine Alternative gab“, sagt er heute. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl sei zwar „extrem vorsichtig“ gewesen, was sich in seinen ersten Reden 1989 gezeigt habe.

Aber: „Die Beschleunigung kam aus der Bevölkerung der DDR“, stellte Momper im Gespräch klar.

„Das ging in Berlin los, Weihnachten 89, als am sowjetischen Ehrenmal in Treptow die Hakenkreuze rangeschmiert wurden. Dann hat die SED-PDS mit ihrem Vorsitzenden Gregor Gysi und anderen, auch schlimmen Leuten aus West-Berlin, mit 250.000 Leuten demonstriert. Das hat einen ziemlichen Schock ausgelöst und lief unter dem Motto ‚Jetzt ist es genug!‘. Der Gysi hat zu jenen Zeiten schon Reden gehalten, die nicht ohne waren. Der wollte auch die alte DDR noch retten.“

Das habe zu einem Umschwung in der normalen DDR-Bevölkerung geführt, meinte Momper. Zuvor sei der Wunsch nach einer veränderten DDR vor allem von Intellektuellen ausgegangen. Der Zug in Richtung Einheit sei erst losgefahren, „als das normale Volk sich beteiligte“. Er erinnerte an die damaligen Forderungen auf Transparenten wie „Weg mit der Staatssicherheit!“ und „Weg mit Artikel 1 der DDR-verfassung!“. Letzterer hatte die führende Rolle der SED festgeschrieben.

Skeptische Stimmen im Westen

Die Menschen hätten ebenso gefordert „Weg mit den Alu-Chips!“, dem DDR-Geld. „Das waren die drei Forderungen, wofür jeder war.“ Er selbst sei Ende 1989 in Paris und London gewesen und habe mit den dortigen Regierungen darüber gesprochen, wie sie das sehen. Er habe zu hören bekommen: „Wenn das deutsche Volk die Einheit will, dann kriegt es sie auch.“

Auf britischer Seite sei immer damit gerechnet worden, dass die sowjetische Seite eingreift. Das habe die damalige Premierministerin Margaret Thatcher gedacht. „Aber Moskau konnte nicht, wollte nicht und tat es nicht.“ Aber hinter Thatchers Position hätten auch die kleineren europäischen Länder gestand, wie Italien, Dänemark und Norwegen, die im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen besetzt worden waren. „Die wollten das auch nicht richtig“, so Momper rückblickend. Der damalige italienische Ministerpräsident Gulio Andreotti habe gesagt: „Uns sind die Deutschen so lieb, am liebsten haben wir zwei davon.“

Er selbst habe im Februar 1990 gemerkt, dass die Mehrheit der Menschen in der DDR die Einheit wolle. Als er das öffentlich sagte, seien selbst seine Genossen in der SPD überrascht gewesen. Vorher habe er sich gegen das „Wiedervereinigungs-Gequatsche“ gewehrt. Er habe dann gesagt: „Die wollen das, wir haben nichts dagegen, dann machen wir das. Dann muss es aber schnell sein, damit die ganzen Schieber-Geschäfte aufhören.“ Solche habe es in „gigantischem Ausmaß“ gegeben.

Momper meinte, dass vor allem lange Zeit jene innerhalb der SPD gegen die Einheit waren, die ein einheitliches Deutschland nicht mehr erlebt hatten. Sie hätten es sich nicht vorstellen können, dass das Land wiedervereinigt wird. Es sei auch „als gerechte Strafe“ empfunden worden, „dass wir wegen der Nazi-Zeit und dem Krieg geteilt waren“. Das seien aber nur kleine intellektuelle Kreise gewesen, die so dachten. In West-Berlin sei die Mehrheit der Menschen für die Einheit gewesen, stellte er fest. „Wir haben ja auch am meisten unter der Teilung gelitten.“

„Für den Westen hat sich wenig verändert“

Der einstige Regierende Bürgermeister zeigte sich 30 Jahre später überrascht, dass die tatsächliche, die innere Einheit immer noch nicht vollendet ist. „Dass es so lange gedauert, hätte ich auch nicht gedacht. Ich dachte, das würde viel schneller gehen.“ Von der DDR sei wenig übrig geblieben, stellte er fest. Aus seiner Sicht war davon auch nur wenig wert, erhalten zu bleiben.

„Natürlich hätte ich der ganzen DDR, allen Menschen dort gewünscht, dass sie den Impetus der Einigungszeit behalten hätten, und das Selbstbewusstsein von damals. Dass sie sich noch aktiver in Politik einmischen würden und um ihre Freiheit kämpfen, als dass der Fall ist. Das ist ja leider nicht so.“

Momper meinte abschließend: „Es ist so, wie es ist.“ Manche würden immer noch „in der alten Zeit“ leben. Es handele sich zwar nur um kleine Kreise, wie die „Vereinigung der ehemaligen Stasis“. „Das gibt es im Westen auch“, fügte er hinzu. „Aber für den Westen hat sich ja wenig verändert.“ Durch die Globalisierung habe sich längst für alle etwas verändert, „aber für die im Westen weniger“. „Für uns hier in Berlin hat sich natürlich erst recht alles verändert“, so der Mann mit dem roten Schal.

Aus seiner Sicht werden heute Freiheit und Demokratie als Werte zu wenig geschätzt – „überall übrigens“. Er bedauert mit Blick auf die Zustimmung für die AfD nicht nur im Osten, „dass manche doch diesen einfachen Rattenfänger-Formeln folgen und sich nicht für die Demokratie einsetzen“.

Zum Abschluss des Gespräches berichtete er, dass er wie zum Beispiel der ehemalige DDR-Regierungschef Hans Modrow immer wieder nach Korea eingeladen werde. In dem immer noch geteilten Land seien auch seine Erfahrungen gefragt, doch bisher habe er noch nicht hinfahren können. Aber südkoreanische Reisegruppen und Wissenschaftler würden sich immer wieder bei ihm melden und ihn bitten, zu berichten, wie das 1989/90 war.