Die Regierungen des Westens, voran die der USA, gefolgt von der Europäischen Union (EU), setzen die Sanktionen gegen Syrien fort und verschärfen sie, bis zum Ölembargo. Mit den Folgen für das kriegsgeschundene Land und seine Menschen hat sich eine Podiumsdiskussion der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW am Mittwoch in Berlin beschäftigt.
Ein Jahr – so lange brauchte eine internationale Hilfsorganisation in Syrien, um Gehhilfen für Kriegsopfer zu beschaffen. Der Grund: Zehn Prozent des Materials der Hilfen stammen aus den USA. Infolge der Sanktionen gegen Syrien muss in solchen Fällen das US-Sanktionskomitee überprüfen, ob das Material geliefert werden kann.
Dieses Beispiel für die Folgen des westlichen Wirtschaftskrieges gegen Syrien schilderte die Journalistin Karin Leukefeld am Mittwoch in Berlin. Sie sprach auf einer Veranstaltung der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW, die am Beispiel Syrien Antworten auf die Frage suchte „Darf die Zivilbevölkerung in Geiselhaft genommen werden?“.
Laut Leukefeld, die als eine der ganz wenigen westlichen Journalisten regelmäßig aus dem kriegsgeschundenen Land berichtet, haben die Syrer im Fall der Gehhilfen beschlossen, diese selber herzustellen. Die Korrespondentin berichtete über eine ganze Reihe von Beispielen, wie die Sanktionen des Westens das Leid der Bevölkerung vergrößern. So habe ein Krankenhaus in Aleppo aus Deutschland ein Röntgengerät gespendet bekommen. Doch das könne nicht benutzt werden, weil die Software dafür nicht nach Syrien eingeführt werden darf.
Sanktionen zerstören Syrien wie der Krieg
Dieser und andere Fälle belegen, woran Idriss Jazairy bei der Veranstaltung erinnerte: Syrien hatte einst eines der besten medizinischen Versorgungssysteme in der arabischen Welt, mit kostenloser Behandlung für alle. Doch Krieg und die westlichen Sanktionen haben das zerstört, wie der Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrates betonte.
Jazairy beobachtet und analysiert die Folgen einseitiger Sanktionen gegen Staaten weltweit und berichtet den UN-Gremien darüber. 2018 besuchte er Syrien, um sich über die Folgen der US-Sanktionen seit 1979 und die entsprechenden Maßnahmen der Europäischen Union (EU) seit 2011 zu informieren. Die Ergebnisse hatte er bereits am Vormittag auf einer Pressekonferenz vorgestellt.
„Ich bin zutiefst besorgt darüber, dass einseitige Zwangsmaßnahmen dazu beitragen, das Leiden des syrischen Volkes zu verschlimmern“, erklärte der UN-Sonderberichterstatter. „Behauptungen, dass sie zum Schutz der syrischen Bevölkerung oder zur Förderung eines demokratischen Übergangs existieren, sind schwer mit der weit verbreiteten wirtschaftlichen und humanitären Notlage zu vereinbaren. Es ist an der Zeit zu hinterfragen, ob diese unbeabsichtigten Folgen heute gravierender sind, als von demokratischen Staaten vernünftigerweise akzeptiert werden kann.“
Das untermauerte Jazairy auf der Veranstaltung am Abend wie zuvor auf der Pressekonferenz mit Zahlen und Fakten. So ist nach seinen Angaben seit Beginn des Konfliktes 2011 und der damit eingesetzten EU-Sanktionen das Bruttoinlandsprodukt Syriens um zwei Drittel gesunken. Lebensmittel seien um das Achtfache teurer geworden. „Die Armutsrate unter den einfachen Syrern hat stark zugenommen. Während es vor dem Ausbruch der Gewalt keine Ernährungsunsicherheit gab, waren bis 2015 32 Prozent der Syrer davon betroffen. Gleichzeitig stieg die Arbeitslosigkeit von 8,5 Prozent im Jahr 2010 auf über 48 Prozent im Jahr 2015.“
Zerstörung der syrischen Wirtschaft
Die Finanzsanktionen vor allem der USA würden nicht nur die syrische Wirtschaft schwer schädigen. Sie behindern laut Jazairy selbst die Arbeit von internationalen Hilfsorganisationen, die notwendige Lebensmittel und anderer Versorgungsgüter nicht bezahlen und einführen könnten. Infolge der Sanktionen könnten kaum noch notwendige Medikamente, Ausrüstungen und Ersatzteile aus dem Ausland bezogen werden. Internationale Unternehmen würden auch in dem Fall aus Angst vor Strafen den syrischen Partnern nicht helfen. Die Infrastruktur für wichtige Versorgungsgüter sei zerstört und könne wegen der westlichen Strafmaßnahmen nicht wieder aufgebaut werden.
Westeuropa habe mit seinen Sanktionen es der syrischen Mittelklasse unmöglich gemacht, ihre wirtschaftlichen Aktivitäten als Produzenten, Händler und Dienstleister fortzusetzen, hob Jazairy hervor. Importe und Exporte seien verboten, was dieser sozialen Schicht in Syrien die Existenzgrundlage genommen habe. Er wiederholte auch Folgendes: „Sie schießen sich selbst in den Fuß: Sie schaffen die Bedingungen für die Syrer, nach Deutschland und Europa zu kommen, weil sie keine Perspektive in ihrem Land haben.“
Der UN-Sonderberichterstatter war zwischen Pressekonferenz und Abendveranstaltung der IPPNW im Auswärtigen Amt (AA) zu einem Gespräch eingeladen. Dort hat er auf die Lage in Syrien und die Folgen der Sanktionen hingewiesen. Die AA-Vertreter hätten wiederholt, dass die Zwangsmaßnahmen sich nur gegen die syrischen Regierung und Präsident Bashar al-Assad richten würden und es ausreichend humanitäre Ausnahmen gebe. Doch genau diese sind wirkungslos, wie Jazairys Bericht zeigt.
Syrer misstrauen westlichen Hilfsangeboten
Die deutschen Regierungsvertreter hätten der syrischen Armee vorgeworfen, sie würde Krankenhäuser bombardieren, berichtete Jazairy. Er habe daraufhin gefragt, ob es denn „gnadenvoller“ sei, wenn Menschen auf dem OP-Tisch sterben, weil in Folge der Sanktionen die Stromversorgung ausfällt und notwendige Medikamente fehlen. Gegen die Behauptung vieler, Sanktionen seien besser als Krieg, wandte er ein: „Diese Menschen sterben still. Ist das besser und gnadenvoller, wenn Menschen still sterben als durch eine Bombenexplosion?“ Das, was geschehe, sei eine Tragödie.
Jazairys Aussagen wurden nicht nur von Leukefeld bestätigt. Sie war kürzlich wieder für mehrere Wochen in Syrien und hat von dort berichtet. Sie schilderte Begegnungen mit Geschäftsleuten aus Aleppo, Homs und Damaskus, die bestätigten, dass die Sanktionen die syrische Wirtschaft endgültig zerstören. Viele von ihnen hätten früher deutsche Geschäftspartner gehabt. Es werde durch die Strafmaßnahmen verhindert, dass die Syrer ihr Land wieder aufbauen können.
Die Journalistin berichtete, dass die syrische Bevölkerung misstrauisch und skeptisch gegenüber den internationalen Hilfsangeboten und -organisationen sei. „Sie sehen die Hilfe auf der einen Seite und die Sanktionen auf der anderen Seite als zwei Seiten einer Medaille. Sie sagen: Wenn Ihr uns ließet, könnten wir unser Land wieder aufbauen. Wir würden etwas tun, würden Arbeitsplätze schaffen, würden Häuser bauen – aber Ihr lasst uns ja durch die Sanktionen unsere Arbeit nicht tun! Stattdessen kommen Leute von Hilfsorganisationen.“
In der Folge müssten die Inlandsvertriebenen und die in die Nachbarländer Geflüchteten in Lagern leben, so Leukefeld. Das würde auch die gesellschaftliche Struktur des Landes zerstören. Ein junger Syrer aus Aleppo, der seit vier Jahren in Deutschland lebt, bestätigte das. Sein Vater sei ein bekannter Geschäftsmann in Aleppo gewesen. Die sogenannten Rebellen hätten das Geschäft zerstört und unmöglich gemacht.
Bundesdeutsche Medien zeichnen falsches Bild
Seine Eltern hätten mehrmals versucht, die Läden wieder aufzubauen. Aber infolge der Sanktionen könnten sie nicht wie bis 2011 Waren, auch aus der Bundesrepublik, importieren. Sie hätten aufgegeben und leben nun im Libanon, so der junge Mann. Sie würden gern nach Syrien zurückkehren, aber dort könnten sie nichts tun. „Der Krieg ist zu Ende in Aleppo, in den meisten Teilen der Stadt. Die Menschen können überleben, aber ihre Lage ist sehr miserabel.“ Er fügte mit Blick auf die Sanktionen hinzu: „Die Menschen leiden, nicht das Assad-Regime.“
Ein anderer junger Syrer, geboren und aufgewachsen in Berlin, bestätigte die Aussagen der Podiumsteilnehmer. Er sei mehrmals im Land seiner Eltern gewesen und habe festgestellt, dass die bundesdeutschen Medien wie die Politik ein falsches Bild von Syrien wiedergeben. Für seine Versuche, dagegen aufzuklären, sei er diffamiert und auch von Syrern angegriffen worden, berichtete er und forderte eine objektive Berichterstattung.
Die sei notwendig, stimmte Helmut Lohrer von der deutschen Sektion der IPPNW auf dem Podium zu. Der Arzt beklagte die einseitige Sicht des Westens und auch der deutschen Medien. Er forderte eine offene Debatte hierzulande über die Interessen der Akteure in dem Konflikt in und um Syrien, was die deutschen Interessen einschließen müsse.
Erinnerung an politisches Ziel
Sascha Lohmann, Politikwissenschaftler der regierungsfinanzierten Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) beschrieb sehr nüchtern die verschiedenen möglichen Interessen und Motive derjenigen, die Sanktionen wie die gegen Syrien beschließen. Zuvor hatte Korrespondentin Leukefeld betont, dass die Politik die diplomatischen Mittel, um den Konflikt zu lösen, vor den Sanktionen nicht ausgeschöpft habe.
Der SWP-Vertreter meinte dagegen nur, Politiker stünden oft unter Handlungsdruck. Sie würden keinen Krieg führen wollen und deshalb zum Mittel der Zwangsmaßnahmen gegen andere Staaten greifen. Das habe zum Teil auch persönliche Motive wie „traumatische Erfahrungen“. Seine psychologischen Erklärungsversuche stießen im Publikum auf deutlichen Widerspruch. Auf die Rolle der SWP 2012, als unter ihrem Dach syrische Exilgruppen, darunter die Muslim-Brüder, mit westlicher Unterstützung das Projekt „Day after“ für ein Syrien ohne Assad entwickelten, ging Lohmann nicht ein.
Gerhard Fulda, ein ehemaliger bundesdeutscher Diplomat und Botschafter, erinnerte aus dem Publikum heraus daran, was hinter den Sanktionen steht: Das politische Ziel sei der Regime Change, der Regimewechsel. Darum gehe es bei den meisten dieser Zwangsmaßnahmen. „Leider hat sich die Bundesregierung in Syrien längst zum Regimechanger entwickelt.“
„Demokratische Staaten sollten nicht das Ziele des Regime Change verfolgen“, betonte UN-Sonderberichterstatter Jazairy. „Lasst uns nicht die Souveränität anderer Staaten verletzen, auch wenn es sich um kleine Staaten handelt.“ Sanktionen dürften nur vom Sicherheitsrat nach Artikel 7 der UN-Charta beschlossen und umgesetzt werden. Das sei aber wie bei vielen anderen Beispielen auch bei Syrien nicht der Fall.
Jazairy sagte, viele nicht wüssten nicht, dass 20 Prozent der Weltbevölkerung in Staaten leben, die von Sanktionen betroffen sind. Er habe internationale Organisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch angesprochen, ob sie sich nicht für die Opfer solcher einseitigen Strafmaßnahmen einsetzen wollen. Doch diese – unterstützt von den Regierungen westlicher Staaten – hätten nur sehr zurückhaltend darauf reagiert. Weil viele Politiker nicht wüssten, welche Folgen Sanktionen haben, gebe es Sonderberichterstatter wie ihn, die versuchen, die Fakten in das öffentliche Bewusstsein zu bringen.