Vor 100 Jahren ermordet: Karl Liebknecht – Von der Identifikationsfigur zum Märtyrer

Am 15. Januar jährt sich zum 100. Mal der Tag, an dem die beiden Kommunisten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet wurden. Während vor allem an Erstere erinnert wird, scheint Liebknecht in ihren Schatten geraten zu sein, obwohl er bei der Novemberrevolution 1918 der Aktivere war. Sputnik sprach darüber mit dem Historiker Martin Sabrow.

Karl Liebknecht, Antimilitarist, Parlamentarier, Revolutionär und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Deutschland, wird seit langem im Schatten von Rosa Luxemburg meist übersehen. Er gilt als Agitator und Redner in der Revolution, der weniger „kreativ intellektuelle“ Spuren als die gleichfalls ermordete Kommunistin hinterließ, wie unlängst der Historiker Jörn Schütrumpf erklärte. Beide hätten sich zum Teil ergänzt, aber Luxemburg sei „der Kopf“ gewesen.

Die kürzlich verstorbene Historikerin und Luxemburg-Expertin Annelies Laschitza hatte dagegen zu Liebknecht festgestellt, dass dessen Vermächtnis „reichlich ungeahnte Anregungen von aktuellem Wert“ aufweise. Sie hatte noch kurz vor ihrem Tod die Broschüre „Karl Liebknecht. Advokat und Parlamentarier mit Charisma“ veröffentlicht. Die Aussagen des Sohnes des SPD-Mitbegründers Wilhelm Liebknecht zu Fragen von Krieg und Frieden sowie zur Rolle des Parlamentarismus sollten heute wieder stärker beachtet werden, forderte sie gerade die Linken auf.

Zu dem 2018 veröffentlichten Buch „Mythos der Revolution – Karl Liebknecht, das Berliner Schloss und der 9. November 1918“ steuerte der renommierte Historiker Martin Sabrow den Beitrag „Volkstribun und Hassfigur – Karl Liebknecht im deutschen Gedächtnis“ bei. Im Interview erinnert er an Liebknecht und beschreibt dessen Rolle in der Novemberrevolution 1918.

Prof. Martin Sabrow bei einem Vortrag im November 2018 in Berlin

Professor Sabrow, eine der historischen Figuren der Novemberrevolution 1918 war Karl Liebknecht. In der DDR galt er als einer der Führer der Novemberrevolution, zumindest von den Ideen und seiner Agitation her. Das war er ja so nicht. Welche Rolle spielte er in den Novemberereignissen 1918?

Er war in den Novembertagen ein Identifikationssymbol: Karl, der Sohn des großen Wilhelm Liebknechts, des Freundes von Marx, sogar Patenkind von Karl Marx. Zum anderen war er der erste Sozialdemokrat, der gegen die Kriegskredite aufgestanden ist und ihnen die Zustimmung verweigert hatte. Er hatte also einen ganz beträchtlichen Nimbus, als er Ende Oktober aus dem Zuchthaus Luckau entlassen wird und im Triumph nach Berlin kommt, dort am Anhalter Bahnhof empfangen wird und so etwas wie ein Sehnsuchtsort, eine Führerfigur, ein Messias eines großen Teils der Arbeiterbewegung ist. Neben anderen natürlich, auch Ebert war das, auch Scheidemann war das. Selbst Gustav Noske, als er am 3. November nach Kiel reiste, um die Revolution bzw. die Matrosenmeuterei einzuhegen und zurückzudrängen, genoss diesen Nimbus der Männer der Sozialdemokratischen Partei, die so lange verfolgt wurden und nun an die Macht kommen.

Dass da große Spaltungstendenzen waren, haben die Soldaten und Arbeiter auf den Straßen so gar nicht wahrgenommen. Als der Konflikt ausbricht, rufen sie: „Einigkeit! Einigkeit! Einig bleiben!“ Als die USPD und die Revolutionären Obleute versuchten, dem Rat der Volksbeauftragten ein weiteres Gremium zur Seite zu stellen, den Vollzugsrat, brüllten alle wieder: „Parität!“ Beide Parteien sollten also zusammengehen. Insoweit ist Liebknecht mit anderen einer der Führungsfiguren der Novemberrevolution. Aber er verliert diese Rolle in den folgenden Tagen und Wochen sehr schnell wieder, schon vor seiner Ermordung.

Was hat er tatsächlich gemacht in diesen Novembertagen? Welche Rolle spielte er in Bezug auf das aktive Handeln, neben seinen Reden zum Beispiel am 9. November 1918 von Schloss aus? Und ist diese Rede, bei der er die „Sozialistische Republik“ ausrief, authentisch?

Der Begriff der Authentizität ist für einen Historiker immer schwierig, aber der Wirklichkeitsgehalt seiner Rede ist durch einen Abdruck in der „Roten Fahne“ am nächsten Tag hinreichend erhärtet – ganz anders als bei der Rede Scheidemanns, die eben nicht im Wortlaut überliefert wurde, sondern in einem Stenogramm. Die uns bekannte Fassung der Rede Scheidemanns stammt aus seinen Memoiren von 1928. Dort klingt sie wie eine Rechtfertigungsschrift gegen den perfiden Dolchstoßvorwurf und als Selbstdarstellung eines Politikers, der eine unaufhaltsame Revolution in die geeigneten Bahnen lenkt, um die Republik zu sichern.

Das ist bei Liebknecht anders. Seine weitere Rolle ist ein bisschen diffus. Er ist derjenige, der die Revolution vorantreiben will, der sie auch zum gewaltsamen Putsch bringen will. Dafür agitiert er, dafür redet er und muss sich verstecken, ist fast fieberhaft erfüllt von seiner Mission. Er wird aber von den politischen Kräften der Revolution eher an die Seite gedrängt. Auf dem Reichsrätekongress im Dezember 1918 spielt er keine Rolle. Er hätte in den Rat der Volksbeauftragten eintreten können, das hat er selbst abgelehnt. Das geschah noch aus einer Machtposition heraus, die er im Weiteren verliert. Sein Organ bleibt die „Rote Fahne“, in der er täglich schreibt. Und noch nach seinem Tod erscheint am 15. Januar 1919 sein letzter brausender Aufruf, zusammen geschrieben mit Rosa Luxemburg „Trotz alledem! Die Revolution ist geschlagen, aber die Revolution wird sich wieder in die Lüfte erheben!“

Insoweit wirkt er publizistisch. Und im Untergrund versucht er – verfolgt, gejagt –, die Revolution weiterzutreiben, verliert aber immer mehr an Einfluss.

Am 9. November 1918 marschierte Karl Liebknecht an der Spitze eines der beiden großen Demonstrationszüge auf das Berliner Schloß zu. War das beiläufig oder zufällig?

Nein, beiläufig auf keinen Fall. Es ist tatsächlich so, dass an diesem 9. November 1918 die Massen in Berlin, wie auch anderswo im Reich, in Bewegung sind, Angst haben, dass sie zusammengeschossen würden. Sie treten in den Streik – das erfüllt im Kriegszustand den Tatbestand des Vaterlandsverrats und wird kriegsrechtlich geahndet.

Liebknecht gesellt sich in Steglitz zu einem schon von Friedenau, Lichterfelde und anderen Orten kommenden Zug, der über Schöneberg nach Mitte kommt. Er geht an die Spitze des Zuges und sorgt auch dafür, dass Frauen und Kinder nach hinten in den Zug gebracht werden bzw. ihn verlassen, weil auch er nicht weiß, ob das nicht noch in eine blutige Konfrontation münden wird.

Unterwegs entwaffnen die Demonstranten Polizeiposten. Sie besetzen Kasernen und andere Gebäude, in denen Waffen gesammelt sind und die alte kaiserliche Macht sich noch konzentriert. So ist es auch im Schloss, das durch eine Wachmannschaft besetzt gehalten wird, um sich zu verteidigen. Auf dieses Schloss, durch das Brandenburger Tor hindurch und Unter den Linden lang, marschiert der Demonstrationszug mit Liebknecht an der Spitze.

Warum wurden Liebknecht und Luxemburg ermordet, andere nicht, wie zum Beispiel Richard Müller von den Revolutionären Obleuten, die ja viel aktiver waren und mehr Einfluss auf das Geschehen bis zu dem Januar-Aufstand 1919 hatten? Warum nahmen ihre Gegner gerade die beiden sprichwörtlich ins Visier?

Sie stellten von ihrer vorherigen Rolle her bekanntere, prominentere Identifikationsfiguren dar als Personen wie Ernst Däumig oder Richard Müller und andere von den Revolutionären Obleuten, die ihren Plan für den Putsch bzw. Aufstand verschoben hatten von Anfang November auf den 11. November und dann von den Ereignissen selbst überrollt wurden. Aber sie hatten nicht eine solche Bekanntheit genossen, weil sie ja nicht publizistisch oder politisch in der SPD-Reichstagsfraktion aufgetreten waren wie Rosa Luxemburg durch ihre Schulungen, durch ihre Publizistik und ihren Kontakt zu Lenin, und wie Liebknecht durch seine Schriften, seine Reden vor allem und sein Abstimmungsverhalten als Reichstagsabgeordneter von reichsweiter Bekanntheit war.

Trotzdem hat dieser Mord vermutlich auch fast zufällige Züge. Es zählt zu dem Geschehen, in dem Revolution und Gegenrevolution so stark aufeinanderprallen, dass die beiden gesucht wurden wie andere auch, Däumig zum Beispiel, der vor dem 9. November kurzzeitig verhaftet wird. Dass Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht  gefasst wurden, ergab sich wohl durch einen gewissen Zufall, dass Mitglieder der Wilmersdorfer Bürgerwehr sie am 15. Januar in Wilmersdorf aufspüren und sie dann erst in eine Grundschule verschleppen. Als sie über Telefon in der Reichskanzlei niemanden erreichen, haben sie die beiden in die „Obhut“ der Garde-Kavallerie-Schützen-Division im Hotel „Eden“ in der Budapester Straße gebracht. Dort wurden Luxemburg und Liebknecht dann verhört und ermordet.

Wenn wir uns das Mordgeschehen genau ansehen, sehen wir aber, dass nicht nur der Befehl des Hauptmanns Pabst ursächlich war, der die Ermordung anordnete – der übrigens Wilhelm Pieck entging. Sondern auch andere Offiziere im Offizierskasinos bekommen mit, dass Luxemburg und Liebknecht, auf die sich die Ängste und der Hass des Bürgertums mehr und mehr richten, gefangen genommen worden sind. Ein Offizier versucht einen Jäger, den Jäger Runge, mit ein bisschen Geld zu bestechen, damit er mit dem Gewehrkolben zuschlägt, damit diese beiden, die der Inbegriff der Angst vor dem Bolschewismus sind, beseitigt sind. Insofern ist der Mord über den Befehlsgeber Pabst hinaus Ausdruck der voranschreitenden Links-Rechts-Polarisierung in Deutschland. Die Revolution am 9. November siegte so leicht und friedlich – aber dahinter zeigte sich, dass ihr Sieg eben auch nur ein scheinbarer war. Die dahinter stehenden Kräfte der Arbeiterschaft, auch zum Teil des Bürgertums werden schwächer. Und mit der Bekanntgabe der Friedensbedingungen von Versailles schlägt die Stimmung endgültig um. Das ist vier Monate nach der Ermordung von Luxemburg und Liebknecht, im Mai 1919. Aber da hat sich schon gezeigt, wie stark die Angst im Bürgertum vor der Bolschewisierung ist: Sowjet-Deutschland, also Räte-Deutschland. Es gibt die Räte-Republiken, die dann in einer Blutspur der Gewalt brutal niedergeschlagen werden, von Bremen bis München. Damit hat sich zum einen die Gesellschaft in Deutschland enorm fragmentiert und polarisiert, aber auch die Arbeiterbewegung: Zwischen SPD und KPD wird es keine Zusammenarbeit mehr geben, mit Ausnahme der Demonstrationen nach dem Rathenau-Mord 1922. Das wird den 30. Januar 1933 natürlich mitprägen.

Ein Fensterbild von Walter Womacka im ehemaligen Gebäude des DDR-Staatsrates in Berlin

Wir sitzen gerade im ehemaligen Staatsratsgebäude der DDR mit den Teilen des Schloss-Balkons, von dem aus damals Karl Liebknecht gesprochen hat. Sie haben sich ganz viel mit DDR-Geschichte beschäftigt. Was sagen Sie zu dem Bild der Novemberrevolution 1918, das es in der DDR gab? Ist es obsolet, weil es nur ideologisch war, oder ist da etwas übrig geblieben?

Die empirische Forschung zeitigt immer neue Erkenntnisse. Auch ein ideologisch verzerrter Blickwinkel fördert Aspekte zutage, die die Forschung weiter nutzen kann. Natürlich ist die in der DDR-Geschichtswissenschaft so anhaltend diskutierte Frage nach dem Charakter der Novemberrevolution, ob nun proletarisch-sozialistisch oder bürgerlich-demokratisch, heute eine normative Frage, die uns wenig bewegt. Natürlich hat das Institut für Marxismus-Leninismus der SED im Erinnerungsarchiv diejenigen Stimmen zur Novemberrevolution nicht publiziert, die ihr nicht genehm war. Und natürlich ist das Dogma von der führenden Rolle der Partei, die fehlte, das die Niederlage erklären sollte, für uns kein Gegenstand mehr. Aber es ist dennoch legitim und geboten, sich mit Luxemburg und Liebknecht und jenem zweiten Strang der Novemberrevolution auseinanderzusetzen, der eben nicht nur sozialdemokratisch-reformistisch war. Wenn das in einem Konzert der Auffassungen und Perspektiven geschieht, wie es unsere Geschichtswissenschaft kennzeichnet, lässt sich aus jeder Betrachtung etwas lernen, auch wenn am Ende zu sagen ist, dass die ideologisch gebundene und herrschaftslegitimierende Sicht der DDR-Historiographie sich mit diesem Staat, dem sie zugearbeitet hatte und zuarbeiten musste, nach 1989 fast rückstandslos aufgelöst hat.

Prof. Dr. Martin Sabrow ist Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Er war 2005/2006 Vorsitzender der „Expertenkommission zur Erarbeitung einer Gesamtkonzeption für einen Geschichtsverbund ‚Aufarbeitung der SED-Diktatur’“ der Bundesregierung. 1999 hatte er das Buch „Die verdrängte Verschwörung. Der Rathenau-Mord und die deutsche Gegenrevolution“ veröffentlicht.

Lesetipps:

Dominik Juhnke, Judith Prokasky, Martin Sabrow: „Mythos der Revolution – Karl Liebknecht, das Berliner Schloss und der 9. November 1918“
Hanser Verlag 2018. 144 Seiten. ISBN 978-3-446-26089-4; 15 Euro

Annelies Laschitza: „Karl Liebknecht. Advokat und Parlamentarier mit Charisma“
Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e. V. Leipzig 2018 (Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte, Heft 15). ISBN 9783947176069