Werte wie Demokratie und Menschenrechte oder Tradition und Familie werden benutzt, um Interessengegensätze zu verschärfen und reale Ziele zu verbergen. Das hat eine Diskussionsrunde zum „Wertediskurs mit Russland“ am Donnerstag in Berlin festgestellt. Der Westen führt im Namen der Werte Krieg. Das schreckt ab, so der Politologe Alexander Rahr.
Die Sprache der Werte hält der russische Philosoph Grigorij Yudin für gefährlich. Das erklärte er am Donnerstag in Berlin bei einer Veranstaltung zum Thema „Wertediskurs mit Russland: Was läuft schief?“. Der Philosoph warnte, Werte könnten in der politischen Auseinandersetzung wie „trojanische Pferde“ wirken und benutzt werden. Der Wertediskurs könne eine Falle sein.
Er warf das vor allem der Führung Russlands vor. Diese spreche seit etwa zehn Jahren von eigenen russischen Werten und grenze sich dabei von den westlichen Werten betont ab. Damit würden auch Aggressionen gerechtfertigt, behauptete der Philosoph. Yudin empfahl, von der „gefährlichen Sprache der Werte“ Abstand zu nehmen. Sie würde nur benutzt, um Interessengegensätze zu verschärfen und einen Dialog auszuschließen.
Das „Hertie-Innovationskolleg“ der Hertie-Stiftung hatte den Philosophen aus Moskau eingeladen und um einen Eingangsvortrag zu einer Diskussionsrunde zum Wertediskurs gebeten. Die Veranstaltung war Teil eines Projektes der Wissenschaftlerin Jewgenija Sayko. Mit dem will sie das „Phänomen der Abkehr Russlands von Europa“ bzw. von dessen Werten untersuchen.
Interessenausgleich wichtiger als „werteorientierte Außenpolitik“
Werte haben aus der Sicht des Politologen Alexander Rahr „nicht den richtigen Platz“, wenn es gegenwärtig darum geht, Konflikte wie den um die Ukraine oder Probleme wie die Zukunft der Abrüstungsverträge zu lösen. Die notwendigen Verträge müssten mit dem Ziel des Interessensausgleichs ausgehandelt werden. Mit der so genannten werteorientierten Außenpolitik von Kanzlerin Angela Merkel habe die russische Seite nichts anfangen können, so Rahr in der Veranstaltung. Das sei als Täuschungsmanöver gewertet worden, um die deutschen Interessen zu verbergen.
Der Programmdirektor des Deutsch-Russischen Forums, stellte später klar: „Eine werteorientierte Außenpolitik ist Interessenspolitik.“ Deutschland setze die Werte ein, um sich als globale Wirtschaftsmacht ohne entsprechendes militärisches Potenzial wie etwa die USA dennoch Einfluss und Wirkung zu verschaffen.
Nato führt mit Werten Krieg
Der Politologe erinnerte auch daran, dass der Westen alle Angebote an Russland für Dialog und Zusammenarbeit immer damit verknüpfte, dass dieses die westlichen Werte anerkennen und übernehmen müsse. Das sei immer als „unverhandelbar“ dargestellt worden. Das habe in Russland sofort die Alarmglocken läuten lassen. Er finde „hanebüchen“, dass immer noch in Richtung Moskau erklärt werde: „Die Nato ist eine Wertegemeinschaft.“ Seine Phantasie reiche nicht, um das zu verstehen, fügte Rahr hinzu.
„Und dann führt so eine Nato Krieg mit Werten. Dann haben wir auch noch so genannte orangene Revolutionen im postsowjetischen Raum, die auch unter der Fahne dieser Werte ausgetragen werden, gegen illegitime Regierungen, die nicht diese Werte teilen. Das hat dazu geführt, dass wir zwei Konfrontationslinien, eine Front haben: Zwischen uns und den Menschen dort einerseits und den aus unserer Sicht illegitimen Machthabern andererseits. Aber wir vergessen, dass die Machthaber im Osten wie Putin nicht illegitim sind, sondern eine große Unterstützung in der Bevölkerung haben.“
Rahr hatte zuvor der Meinung des Philosophen Yudin, Russland habe den Pfad der Modernisierung verlassen, widersprochen. Die einstmals angestrebte Modernisierungspartnerschaft zwischen der Europäischen Union und Deutschland auf der einen und Russland auf der anderen Seite sei nicht von diesem aufgekündigt wurde. Das sei für ihn „ein ganz wichtiger Moment“ gewesen, meinte der Politologe, dass die deutsche Seite das 2013 machte – „auf der Grundlage, dass Russland die Werte nicht teilt“.
Parolen wie aus den 1950er Jahren
Für Stefan Meister, Osteuropa-Historiker und bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) zuständig für die Region, war dennoch klar: Russland ist schuld an dem Konflikt. Den sieht er darin, Deutschland betone in seiner Außenpolitik den Multilateralismus und die Stärkung der Normen in den internationalen Beziehungen, während die russischen Eliten sich für eine „Balance of Power“ und eine multipolare Welt stark machen würden. Moskau habe auch kein Interesse an der Modernisierungspartnerschaft gehabt. „Russland destabilisiert systematisch seine Nachbarschaft und führt Krieg als Mittel der Interessensdurchsetzung“, behauptete Meister. Moskau würde informelle Strukturen fördern und Institutionen schwächen – „wogegen Deutschland für eine Stabilisierung steht, gegen Krieg ist und Institutionen stärken möchte“.
Was der verantwortliche Mitarbeiter der einflussreichen transatlantischen Denkfabrik DGAP da von sich gab, verdrehte nicht nur die Darstellung der Welt und des Geschehens in ihr. Das ignorierte auch, dass der Westen einschließlich Deutschland genau mit der Politik seine Interessen durchsetzte und -setzt, die Meister Russland vorwarf.
Der Journalist und Buchautor Hubert Seipel („Putin – Innenansichten der Macht“) beschrieb aus dem Publikum heraus seinen Eindruck, dass die Wertediskussion als Waffe eingesetzt werde, um westliche Interessen durchzusetzen. Er fragte Meister auch, ob dessen Behauptungen über das destabilisierende Russland nicht ein Bild wiedergeben, wie es in der Bundesrepublik schon in den 1950er Jahren vorherrschte: „Das erinnert mich ein bisschen an das Plakat von 1952 im CDU-Wahlkampf: ‚Alle Wege führen nach Moskau!‘“ Darauf antwortete Meister nicht. Dafür wiederholte er seine Vorwürfe an Moskau, es schaffe gezielt „Zonen der Instabilität“ auf anderen Staatsgebieten. Nachbarländer würden destabilisiert, um sie in Abhängigkeit zu halten.
Gleiche Werte wie überall
In der Podiumsdiskussion wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass sich die Werte der Menschen in Russland nicht grundlegend von jenen der Menschen in westlichen Ländern unterscheiden. Darauf machte neben dem Philosophen Yudin auch Jelena Panfilowa aufmerksam. Die Gründerin von „Transparency International – Russia“ verwies darauf, wie wichtig auch in Russland das Streben nach Konsum und materiellen Werten sei. Das gehe soweit, dass Russen dem offiziell eingeforderten Patriotismus huldigen, weil er auch materiell nutzt – um danach nach Nizza in die Eigentumswohnung oder das Haus zu fahren.
Panfilowa meinte, dass die Werte wie Demokratie, Mitbestimmung und Freiheit dem Staat gefährlich werden, wenn Bürger beginnen, danach zu leben. Deshalb gebe es in Russland eine offizielle Rückkehr zu „archaischen“ traditionellen Werten. Philosoph Yudin meinte, dass viele davon reden würden, ohne danach zu leben. Beide bestätigten aber, dass die Menschen in Russland es leid seien, auch vom Westen immer wieder belehrt zu werden, was die „richtigen Werte“ seien.
Unheilvolle Tradition: Werte als Mittel der Politik
Politologe Rahr betonte am Ende, die Wertediskussion in der EU sei in Folge der Globalisierung entstanden. Zuvor sei der Westen allein durch Wirtschaftsinteressen zusammengehalten worden. „Wir haben einen Wertestreit mitten in der Europäischen Union“, sagte er mit Blick auf die osteuropäischen Mitglieder. DGAP-Vertreter Meister forderte zumindest, sich klar zu sein, dass der Wertebegriff als politischer Kampfbegriff für bestimmte reale Ziele instrumentalisiert werde. Korruptionsbekämpferin Panfilowa warnte vor Propagandaschlachten, die in größere Konflikte führen können.
In der Diskussionsrunde fehlte der Hinweis, wie alt die unheilvolle Tradition ist, Werte für politische Ziele zu missbrauchen: Das Prinzip „Menschenrecht bricht Staatsrecht“ hat schon Adolf Hitler in „Mein Kampf“ beschrieben. Vor ihm hat bereits 1918 der deutsche Prinz Max von Baden in seiner „Denkschrift über den ethischen Imperialismus“ gefordert:
„Eine so ungeheure Kraft, wie wir sie in diesem Kriege entfaltet haben, muss sich vor der Welt ethisch begründen, will sie ertragen werden. Darum müssen wir allgemeine Menschheitsziele in unseren nationalen Willen aufnehmen.“
Vor allem im Westen hat das seit langem gelehrige Schüler gefunden. Ablehnende Reaktionen in Moskau und anderswo gegenüber westlichen Werte-Predigten können da nicht verwundern.