„Der Mensch als Sicherheitsrisiko“ – Dauerhafter Ausnahmezustand in Deutschland?

Die Bundesrepublik wird derzeit zu einem „präventiv-autoritären Sicherheitsstaat im permanenten Ausnahmezustand“ umgebaut. Davor warnt Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist. Er fragt, ob die Militarisierung nach innen und der Ruf nach dem starken Staat noch anderen Zielen als der verkündeten Terror-Abwehr dienen.

„Der staatliche ‚Antiterrorkampf‘ hat sich immer mehr als ein enormes Umorientierungs- und Umgestaltungsprogramm herausgestellt – ein Programm der Demontage hergebrachter Grundsätze des Völkerrechts, der Menschen- und Bürgerrechte und des liberal-demokratischen Rechtsstaates.“ Das sagte Rolf Gössner, Vorstandsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte, auf dem bundesweiten und internationalen „Friedensratschlag“ Anfang Dezember in Kassel.

„Die Reaktionen auf die mörderischen Anschläge unter anderem in Frankreich, Belgien, England und Deutschland 2015 bis 2017 zeigen in aller Deutlichkeit, dass wir uns wieder mitten in einer fatalen Aufrüstungsdynamik befinden – mit altbekannten medialen und sicherheitspolitischen Reflexen“, sagte der renommierte Bürgerrechts-Anwalt.

„Neben der Beschwörung ‚unserer westlichen Werte‘ und ‚unserer Art zu leben‘ erschallt der immer gleiche hilflose Schrei nach dem starken Staat: nach abermaligen Gesetzesverschärfungen, verfassungswidrigen Militäreinsätzen im In- und Ausland, weiterer Polizei- und Geheimdienst-Aufrüstung, nach noch mehr Überwachung und Erfassung der Bevölkerung, nach zügiger Abschiebung von Flüchtlingen bis hin zu abstrusen Forderungen, Burkas zu verbieten, die Polizei mit Kriegswaffen auszurüsten und Lebensmittelvorräte für Notfälle zu bunkern.“

Dabei sei Angst „das Schmieröl der Staatstyrannei“, erinnerte Gössner.

Statt Korrektur bei Behörden nur markige Forderungen

Die entsprechenden Folgen seien seit den Anschlägen vom 11. September 2001 zu beobachten. „Diese Art von Sicherheits- und Antiterrorpolitik geht ungebremst weiter“, stellte der Anwalt fest. So würden seit dem Berliner Anschlag Ende 2016 die Aufrüstungsvorschläge in Bund und Ländern sich überschlagen – „obwohl doch gerade in diesem Fall eklatante Vollzugsdefizite, Versäumnisse und Fehleinschätzungen durch die Sicherheitsbehörden zu Tage traten“. Doch anstatt die bisherigen Gesetze und ihre Umsetzung zu überprüfen, würden nur weitere Verschärfungen durchgesetzt und markige Forderungen aufgestellt. Die Beispiele Gössners dafür reichten von Videoüberwachung mit Gesichtserkennung über Computer-Spionage mit Staatstrojanern bis hin zur Kontrolle verschlüsselter elektronischer Kommunikation.

Durch diese Art von Sicherheitspolitik und ihre ausufernde Präventionsstrategie mutiere der Mensch zum potentiellen Sicherheitsrisiko. Das gefährde aus Sicht des Juristen genau jene „westlichen Werte“, „die es eigentlich zu verteidigen gilt“ und die anderen Staaten immer gepredigt werden – von  Demokratie und Rechtsstaat über Bürgerrechte und Rechtssicherheit bis zu Freiheit und Offenheit. Diese würden auch durch die „weitere Aufrüstung der demokratisch nur schwer kontrollierbaren Geheimdienste“ bedroht. Deren Befugnisse würden trotz aller bisherigen Skandale – wie Massenüberwachung durch die NSA oder kriminelle V-Leute im unmittelbaren NSU-Umfeld – noch weiter ausgebaut.

Bundeswehr auch gegen innere Gegner?

Gössner verwies ebenso auf die „Militarisierung der Inneren Sicherheit“ neben der militarisierten Außenpolitik. Als Beispiel dafür nannte er neben der Alarmbereitschaft der Bundeswehr nach dem „Amoklauf“ in München 2016 die gemeinsame Antiterror-Übung „GETEX 2017“ von Polizei und Bundeswehr im März 2017. Es habe sich um eine „verfassungsrechtlich heikle Grenzüberschreitung“ gehandelt, weil die Militärs bei der Übung eigene hoheitliche Aufgaben übernahmen und so die Trennlinie zwischen Polizei und Militär verschwimme. Die Entwicklung dahin sei in Etappen erfolgt, erklärte Gössner. Dazu zählte er, dass das Bundesverfassungsgericht 2012 Bundeswehreinsätze im Inland in „Ausnahmesituationen katastro­phischen Aus­maßes“für zulässig erklärte – darunter fielen auch schwere Terroranschläge.

Weiterhin gehöre dazu, dass die Europäische Union (EU) sich in „strategischer Partnerschaft“ zum „verlängerten ‚Kriegsarm‘ der Nato“ entwickle – „aber auch parallel dazu und in Abgrenzung zu den USA in Richtung einer EU-Militärunion“. Zudem mache das „Weißbuch 2016“ des Bundesverteidigungsministeriums „schockartig klar, dass es sich um ein Dokument der Aufrüstung und Militarisierung nach außen wie nach innen handelt.“ Diesem Dokument nach gelte der „Militäreinsatz im Innern zur Abwehr von Terror und ‚hybriden Bedrohungen‘ unterhalb der Verteidigungsschwelle und mit hoheitlichen Zwangsbefugnissen als verfassungsrechtlich abgesichert“, machte der Anwalt deutlich.

Er erinnerte: „Innere Sicherheit, Gefahrenabwehr und Strafverfolgung – auch im Fall von Terroranschlägen – sind nach deutschem Recht klassische Aufgaben der Polizei und nicht der Bundeswehr.“ Doch das werde zunehmend ignoriert und dabei die Instrumente des Ausnahmezustandes normalisiert und geschärft. Gössner fragte: Haben dieser Umbau, diese Aufrüstung und die Anhäufung von Kontroll- und Repressionsinstrumenten auf Vorrat womöglich ein anderes Ziel, als vor Unglücken, Gewalt und Terror zu schützen?

„Wappnen sie sich in Wirklichkeit nicht nur gegen kriegerische Angriffe von außen, sondern – gerade in Zeiten verschärfter ökonomisch-sozialer Krisen, sozialer Spaltung und politischer Spannungen – vorsorglich auch gegen unkontrollierte Flucht- und Migrationsbewegungen, gegen mögliche soziale Unruhen und militante Aufstände hierzulande und in Europa?“

Dieses Europa sei sozial gespalten, was sich weiter verschärfe, so der Bürgerrechts-Aktivist. Davor und vor den „explosiven Folgen und möglicherweise auch gewaltsamen Konflikten einer solchen Entwicklung“ würden manche Forscher warnen.

Der Mensch als Sicherheitsrisiko für den Staat

Für Gössner gehört auch die Aufrüstung der Bundeswehr im digitalen Bereich zu den gefährlichen Entwicklungen. Mit dem neuen deutschen „Kommando Cyber- und Informationsraum“ werde das Internet zum potentiellen Kriegsgebiet erklärt. Die Cyber-Soldaten würden nicht nur die Abwehr von Angriffen trainieren: Sie „sollen bereits im Vorfeld in fremde IT-Systeme eindringen und diese ausforschen dürfen; und sie sollen obendrein zu eigenen Cyberangriffen auf andere Staaten und deren Infrastruktur befähigt werden, um diese manipulieren, fehlsteuern, lahmlegen, schädigen oder zerstören zu können.“ Das könne in einer vernetzten Welt auch die IT-Infrastruktur im eigenen Land betreffen. Die so entwickelten Cyberwaffen könnten auch konventionelle Kriegseinsätze begleiten. Zugleich übe die Bundeswehr künftig verstärkt den „asymmetrischen Krieg“ auch im städtischen Raum – „für weitere Auslandseinsätze, aber auch nutzbar für militärische Heimatschutz-, Antiterror- und Aufstandsbekämpfungseinsätze im Inneren des Landes bzw. von EU-Staaten.“

Der Mitherausgeber des jährlichen „Grundrechte-Reports“ machte in Kassel klar, Deutschland befinde sich damit „tatsächlich auf einem Weg in einen präventiven Sicherheitsstaat – einen Staat im permanenten Ausnahmezustand, in dem der Mensch allmählich zum Sicherheitsrisiko mutiert, in dem Rechtssicherheit und Vertrauen der Bürger mehr und mehr verloren gehen und der demokratisch nur noch schwer zu kontrollieren ist“. Der moderne – also präventive – Ausnahmezustand verliere „nach und nach seinen Ausnahmecharakter“ und werde zum alltäglichen Normalzustand.

„In letzter Konsequenz geht es dabei um präventive Herrschaftssicherung in Zeiten verschärfter ökonomischer Krisen, sozialer Spaltung in der Bundesrepublik und Europa, in Zeiten wachsender Flucht- und Wanderungsbewegungen und drohender Rohstoffknappheit.“