„Ostalgie“ steht für eine Stimmung unter Ostdeutschen, die in der DDR geboren wurden und aufwuchsen. Ob es diese wirklich gibt, was darunter zu verstehen ist und welche Ursachen dafür zu sehen sind, diese Fragen beantworten ein Soziologe und ein Kommunikationswissenschaftler – beide in dem untergegangenen Land geboren.
„Die Ostdeutschen“ und „die Ostalgie“ gebe es nicht, meint Michael Meyen, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. „Längst nicht alle, die in der DDR aufgewachsen sind, erinnern sich heute emotional oder anders an die DDR und ihre Produkte. Vor allem die nicht, die im wiedervereinigten Deutschland eine Position gefunden haben, die sich ein Leben aufbauen konnten, von dem sie vielleicht in der DDR nicht einmal geträumt haben.“
Er zähle selber dazu – als Professor in München, „obwohl ich in der DDR groß geworden bin“. Meyen hat in Leipzig studiert und mehrere Bücher zum Thema Ostdeutschland veröffentlicht, darunter 2013 die Studie „‘Wir haben freier gelebt‘. Die DDR im kollektiven Gedächtnis der Deutschen“.
Der Soziologe Thomas Hanf sieht den Grund für eine „romantisierende, rational nicht zu rechtfertigende Sehnsucht nach der Vergangenheit in der DDR“ in „sozialpsychischen Verlustwahrnehmungen“. Hanf arbeitet am Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum Berlin-Brandenburg (SFZ). Dieses hat seit 1989/90 die Stimmung der Ostdeutschen untersucht und die Ergebnisse bis 2014 regelmäßig in „Sozialreporten“ veröffentlicht.
Konkrete Lebenssituation als Nährboden für „Ostalgie“
Kommunikationswissenschaftler Meyen glaubt, dass die konkrete heutige Lebenssituation mitentscheidet, ob jemand, der in der DDR aufwuchs, nun „ostalgisch“ wird. „In der DDR-Zeit selber haben die Leute keine emotionale Bindung in der Art gehabt, die wir heute als ‚Ostalgie‘ bezeichnen würden.“ Dazu trage ein Verlust bei, „den alle DDR-Bürger durch die Wende und durch die Wiedervereinigung erlitten haben“: Dabei gehe es nicht um die materiellen Lebensbedingungen, sondern um den Statusverlust „im Vergleich zu denen, die in der Gesellschaft am meisten haben“. Die Gesellschaft in der DDR sei auf Gleichheit ausgerichtet gewesen, die sich unter anderem an geringen Einkommensunterschieden gezeigt habe. Und:
„DDR-Bürger sind heute im hierarchischen Gefüge der Bundesrepublik eher im unteren Teil zu finden. Dieser Statusverlust ist die Hauptquelle für Ostalgie.“
Diese werde genährt durch „die Erfahrung der Geringschätzung durch die Westdeutschen“, bestätigt der Soziologe Hanf. „Das haben fast alle auf sehr unterschiedlichen Ebenen selbst erlebt. Vor allem hat es sich in der Elitenzusammensetzung niedergeschlagen und in der Abwicklung der DDR-Wirtschaft.“ Er fügt hinzu, „Erfahrungen von – vermeintlicher – Fremdheit“ würden dazu beitragen, dass sich Manche die Abgeschlossenheit der DDR zurückwünschen.
Das Zurückschauen habe auch etwas mit dem „Gefühl der Ausgeschlossenheit bzw. des Nicht-Integriert-Seins zu tun“, so Hanf. Die von ihm mit erarbeiteten „Sozialreporte“ zeigten zum Schluss 2014, dass nur ein Viertel der Ostdeutschen sich als „richtige Bundesbürger“ fühlten. Immerhin acht Prozent der befragten „Ossis“ wünschten sich danach gar die DDR zurück.
Keine Sehnsucht nach Ostprodukten
Es gebe auch eine „rationale Ostalgie“, betont der Soziologe. Die basiere auf dem Vergleich von „Fakten“ aus der DDR und der Einheits-Gesellschaft, selbst wenn diese falsch oder verdreht seien, nachdem „die gegenwärtige gesellschaftliche Wirklichkeit mindestens in Teilen bzw. Aspekten hinter Errungenschaften der DDR zurückliegt“.
Von einer Sehnsucht nach Ost-Produkten würde er nicht sprechen.
„Die Konsumwelt der DDR ist mit übergroßer Mehrheit 1990 verabschiedet worden.“
Kommunikationswissenschaftler Meyen ist sich sicher, dass niemand die DDR-Schokolade oder den DDR-Kaffee wiederhaben will, wenn er heute die „sehr viel besseren Produkte“ aus dem Westen haben kann. „Heute könnten eher rationale Gründe für den Kauf von Ost-Produkten sprechen, wie Arbeitsplatzerhalt, Regionalität oder der Preis“, meint dazu Soziologe Hanf.
Meyen hält etwas anders für wichtiger: „Die Sehnsucht, dass die eigene Lebensleistung nicht abgewertet wird“. Die Abwertung von DDR-Biografien und der damit verbundene Identitätsverlust sei eine weitere Quelle von „Ostalgie“:
„Den Menschen ist die Möglichkeit genommen worden, positiv oder zumindest differenziert über ihre eigene Vergangenheit nachzudenken, diesen Teil ihres Lebens, den sie in der DDR verbracht haben, differenziert bewerten zu können. Weil in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit, einschließlich der Medien, des Schulunterrichts und der Museen, die DDR nur aus einer einzigen Perspektive gesehen wird: das ist die Perspektive ‚Diktaturgedächtnis‘. Insofern muss sich jeder, der in der DDR gelebt hat, erklären und legitimieren, was er damals gemacht hat. Und das muss kein Westdeutscher tun.“
Verlust nach der Wende: Soziale Sicherheit
Aus dem Leben der Ostdeutschen ist nach dem Fall der Mauer vieles verschwunden. Die Erfahrung, dass die eigene Lebensleistung abgewertet wird, nur weil jemand aus der DDR kommt, sei für die Ostdeutschen dagegen hinzugekommen, so Ost- und Medienexperte Meyen. Dazu gehöre zum Beispiel, dass Eltern und Großeltern ihren Kindern und Enkeln nicht mehr wie in der DDR noch bei der Karriere helfen können, weil ihnen nun ökonomisches Kapital fehlt, ebenso soziales Know-how und Netzwerke. Letztere liefen bis 1989 unter dem Stichwort „Vitamin B“, wobei B für Beziehung stand.
Zu dem, was vermisst wird, zählt Soziologe Hanf „soziale Sicherheit, verschiedene Formen kollegialer Gemeinschaftlichkeit in Arbeit und Freizeit, soziale Gerechtigkeit und die Wahrnehmung, dass die Menschen eher im Fokus der Politik stehen“.
Viele vermissen heute die klareren und durchschaubareren Verhältnisse in der DDR. Dort passierte immer wieder etwas, was es in dem einheitlichen Deutschland nicht gibt: Wenn das Volk murrte, zuckte die politische Führung in Partei und Staat und reagierte, schon wegen des eigenen Anspruches, die tatsächliche Demokratie darzustellen. Der SFZ-Wissenschaftler verweist noch auf etwas speziell Ostdeutsches: „Weniger Angepasstheit und mehr Renitenz“.
DDR als Ideal für junge Ostdeutsche?
„Es ist nicht klar, wie hoch dieser Anteil von Jugendlichen ist“, sagt Hanf zur Frage, warum junge Ostdeutsche die DDR idealisieren, obwohl sie diese nie bewusst oder gar nicht erlebt haben. Das hänge stark von den Erzählungen über das Leben in der DDR ab, die gehört werden, erläutert Kommunikationswissenschaftler Meyen.
„Wer in seiner Familie Menschen hat, die über die DDR berichten können, wer erlebt, dass er wegen des eigenen Familien-Hintergrunds schlechtere Karriere-Chancen hat, weil ihm Netzwerke und Know-how fehlen, der ist eher anfällig dafür, eine eher positive, zum Teil verklärende Sicht auf die DDR zu entwickeln.“ Aber generell sei der DDR-Teil für die jüngere Generation und ihre Identität „deutlich weniger wichtig als für die ältere Generation“.
Für SFZ-Soziologe Hanf kommen eigene schlechte Erfahrungen der Jugendlichen hinzu, zum Beispiel in Schule, Ausbildung, Beruf, Kameradschaft, bis hin zum möglichen möglicher Wertverlust des Immobilienerbes in entlegenen Regionen. Das könne Anlass sein, sich mit den Erfahrungen der Eltern zu identifizieren. Aber ebenso möglicherweise „eine eigene, eher linke politische Einstellung, die den Bezug auf die DDR als eine Möglichkeit der politischen Opposition gegen die herrschenden Verhältnisse betrachtet“.
Übernommene DDR-Strukturen mit neuen Namen
Die Frage, was die heutige bundesdeutsche Gesellschaft von der DDR übernehmen könnte, stelle sich „für die meisten wohl selten“, antwortet Hanf.
„Wenn es zu Übernahmen von institutionellen Regelungen aus der DDR kommt, ist man darüber empört, dass von Seiten der Herrschenden so getan wird, als wäre das eine neue ‚Erfindung‘ der heutigen Politik, zum Beispiel bei der Frauenerwerbstätigkeit, im System der Kinderbetreuung und Schulbildung, in Fragen der Zentralisierung oder Dezentralisierung von politischen und Verwaltungsstrukturen. Aber am meisten geht es den Leuten wohl um die Berücksichtigung und Anerkennung von sozialen und solidarischen Werten.“
In seinen Studien sei ihm immer wieder das Thema soziale Sicherheit als übernehmenswert aus der DDR genannt worden, berichtet Kommunikationswissenschaftler Meyen. Dazu zählten: „Die Möglichkeit für Eltern, Beruf und Familie zu vereinbaren, die Gewissheit, dass meine Wohnung oder mein Haus nicht ausgeraubt wird, wenn ich den Schlüssel stecken lasse, die Ruhe, die mit einem DDR-Leben verbunden war, ohne Angst um den Arbeitsplatz oder bei Krankheit.“
Der Kommunikationswissenschaftler glaubt:
„Was zuallererst erwartet wird, ist eine differenzierte, offene Diskussion über die DDR-Vergangenheit.“
Die Ostdeutschen würden eine Diskussion erwarten, die die DDR nicht nur auf Diktatur, Staatssicherheit, Doping und fehlende Reise- und Wahlfreiheit reduziere, die auch die positiven gesellschaftlichen Utopien in der DDR von sozialem Fortschritt mit aufnehme.