Welle der Altersarmut bedroht „Babyboomer“ – Politische Kurskorrektur gefordert

Arm im Alter – das droht in den kommenden Jahren Millionen in Deutschland. Darauf weist die Bertelsmann-Stiftung hin. Während sie eher vorsichtige Kurskorrekturen von der Politik erwartet, fordert der Sozialverband Deutschland (SoVD) einen Kurswechsel unter anderem bei der Rente. Sozialwissenschaftler warnen vor den Folgen der Angst vor Armut.

Immer mehr Menschen in Deutschland droht Altersarmut, wenn sie in Rente gehen. Das betrifft vor allem die geburtenstarken Jahrgänge der 1950er und 1960er Jahre, die ab 2022 in Rente gehen. Jede und jeder Fünfte dieser Neurentner muss befürchten, im Alter arm zu sein. Darauf hat die Bertelsmann-Stiftung mit einer Studie am Montag aufmerksam gemacht. „Als armutsgefährdet gelten Rentner, wenn ihr monatliches Netto-Einkommen unter 958 Euro liegt.“ Das ist der derzeitige statistische Wert.

Der Studie nach wird Altersarmut in wenigen Jahren ein Problem für Millionen, weil immer weniger Menschen bis zur Rente durchgängig und gut bezahlte Arbeit haben.

„Der Eine hat einen befristeten Vertrag, die Andere arbeitet in Teilzeit, der Nächste ist über eine Leih- oder Zeitarbeitsfirma angestellt – und alle erhalten ein vergleichsweise niedriges Gehalt: Für viele Bürger Realität.“

So wird die Lage der Bedrohten beschrieben, die infolge dessen oft auch auf die klassischen 45 Jahre Arbeit in ihrem Leben kommen, auf denen bisher das Rentensystem hierzulande aufbaut. Das Bundesarbeitsministerium beschreibt den „Standardrentner“ als „Person, die 45 Jahre lang durchschnittlich verdient und in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt hat“.

Probleme von Politik verursacht

Dieses Bild hat immer weniger mit der Realität von immer mehr Menschen zu tun. Von der Altersarmut sind der Bertelsmann-Studie zufolge alleinstehende Frauen, Niedrigqualifizierte und Langzeitarbeitslose am stärksten betroffen. Die Forscher beschreiben dafür folgende Ursachen:

„Zum einen die in der Vergangenheit gestiegene Verbreitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse, prekärer Arbeitsverhältnisse im Niedriglohnsektor und unterbrochener Erwerbsbiographien. Zum anderen sinkt das Rentenniveau durch die demografische Entwicklung und rentenrechtliche Veränderungen kontinuierlich, während die zum Ausgleich geschaffene private Altersvorsorge nicht flächendeckend wirkt.“

Beide sind aber nicht naturgegeben, wie es bei Bertelsmann anklingt, sondern politisch gewollt und durchgesetzt. Darauf weisen seit Jahren Sozialverbände hin. Die Strichworte dafür sind die sogenannten Hartz-Reformen und die Rentenreformen, eingeleitet von der SPD-geführten Bundesregierung um die Jahrtausendwende.

Besonders Neurentner in Ostdeutschland sind bedroht, stellte die Stiftung fest: Für diese „verdoppelt sich die Quote bis 2036 von 5 auf 11 Prozent, in den westdeutschen Bundesländern steigt sie hingegen ‚nur‘ leicht von 5,5 auf 6 Prozent.“ Begründet wird das mit den „Umbrüchen am ostdeutschen Arbeitsmarkt seit den 1990er Jahren“. Damit wird die Deindustrialisierung Ostdeutschlands mit dem verbundenen Arbeitsplatzabbau nach dem Untergang der DDR und der deutschen Einheit umschrieben.

Um die Welle der massenhaften Altersarmut abzuwenden sollten laut der Stiftung mehr Menschen in Arbeit vermittelt, unsichere Erwerbsbiografien besser abgesichert und das gesamte Alterssicherungssystem auf die veränderten Bedingungen ausgerichtet werden. Christof Schiller, Arbeitsmarktexperte der Bertelsmann Stiftung, erklärte :

„Die aktuellen Reformdebatten gehen oft an der Wirklichkeit vorbei und lösen kaum die grundlegenden Ursachen der Altersarmut. Diskussionen um eine Stabilisierung des Rentenniveaus helfen Risikogruppen nicht weiter, die schon während ihrer Berufsjahre nur schlecht von ihrem Gehalt leben können.“

Verbände fordern politischen Kurswechsel

Vor allem Sozialverbände, aber auch Gewerkschaften fordern seit längerem, das Rentenniveau von derzeit unter 50 Prozent wieder anzuheben. Die gesetzliche Rente müsse wieder den Lebensstandard im Alter sichern, auch um Altersarmut zu vermeiden, heißt es. So fordert zum Beispiel der Sozialverband Deutschland (SoVD) ein Rentenniveau von 53 Prozent. Dieser Wert beschreibt das Verhältnis des aktuellen Durchschnittseinkommens zu der Rente, die ein Durchschnittsverdiener nach 45 Arbeitsjahren erhält.

Für SoVD-Präsident Adolf Bauer macht die aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung deutlich, dass die Politik „den Anstieg von Altersarmut erstnehmen“ müsse  und „dieses Thema nicht länger auf die lange Bank schieben“ dürfe. Der Verband sieht sich durch das Material aus der politisch gut vernetzten Stiftung bestätigt.

„Wir haben vor knapp einem Jahr ein Positionspapier zur Bekämpfung von Altersarmut vorgelegt und Vorschläge sowie Forderungen formuliert, wie die Politik dieser problematischen Entwicklung begegnen sollte. Dabei haben wir auf die bekannten Risikofaktoren und Risikogruppen aufmerksam gemacht.“

Es komme nun darauf an politisch zu handeln, betonte Bauer auf Nachfrage.  „Die Problembeschreibung ist nicht strittig – jetzt kommt es darauf an, etwas zu unternehmen.“

Der SoVD geht mit seinen Vorschlägen weiter als die politiknahe Bertelsmann-Stiftung. Um die Beitragszahlungen zur gesetzlichen Rentenversicherung zu stärken, müsse es einen dynamisierten Mindestlohn ohne Ausnahmen geben. Dazu müssten auch die sogenannten Minijobs durch sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ersetzt werden. Leiharbeit müsse ebenso reguliert wie der Missbrauch von Werkverträgen bekämpft werden.

Der SoVD will auch, dass wieder Rentenversicherungsbeiträge vom Bund für jene eingezahlt werden, die Arbeitslosengeld II (ALG II) beziehen. Bauer forderte erneut ein höheres Rentenniveau und „eine befristete Verlängerung der Rente nach Mindestentgeltpunkten“. Bei der Grundsicherung im Alter sollte die Rente durch einen Freibetrag nicht wie bisher sofort angerechnet werden.

Angst vor Armut als Gefahr für Gesellschaft

Aus der Politik wird jenen, die vor der Altersarmut schon heute warnen, immer entgegnet, dass ja derzeit nur 3,2 Prozent der über 65-Jährigen derzeit die Grundsicherung im Alter auf Hartz IV-Niveau beziehen. 2015 waren das knapp mehr als 500.000 Ältere. Deshalb wird das Problem bisher von den Regierenden als nicht dringend behandelt.

Dass sie damit auf dem Holzweg sein könnten, machte am Dienstag in Berlin Jutta Allmendinger auf dem zweitägigen Armutskongress deutlich. Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) erinnerte daran, dass immer mehr Menschen Angst vor Armut haben, wie eine WZB-Studie 2016 gezeigt habe. Darunter seien auch 22 Prozent der Rentner, vor allem jene, die selbst noch nicht von Altersarmut betroffen sind. Die Angst vor der Armut sei ein zunehmendes Problem für Gesellschaft und Politik, warnte Allmendinger. Sie verwies unter anderem das Erstarken von Kräften wie der AfD, die den zunehmenden Zukunftspessimismus und die Politikverdrossenheit aufgreifen.