Wissenswertes 9: Über „nützliche“ und „unnütze“ Menschen

Hans-Peter Martin und Harald Schumann haben 1997 in ihrem Buch „Die Globalisierungsfalle“ einen Einblick in das Denken von Konzernlenkern, Politikern und Wissenschaftlern gegeben, der in der aktuellen, ausgerufenen Covid-19-Pandemie beachtenswert ist. Die zitierten Aussagen aus dem Jahr 1995 zeigen, was die Elite über die Bevölkerung dieses Planeten denkt. Daran dürfte sich nichts geändert haben.

„In diesem geschichtsträchtigen Rahmen (dem Fairmont-Hotel in San Francisco) begrüßt einer der wenigen, der selbst Geschichte schrieb, Ende September 1995 die Elite der Welt:  Michail Gorbatschow. US-Mäzene richteten ihm ausgerechnet im Presidio, einem nach dem Ende des Kalten Krieges aufgelassenen Militärareal südlich der Golden-Gate-Brücke, aus Dankbarkeit eine Stiftung ein. Jetzt hat Gorbatschow 500 führende Politiker, Wirtschaftsführer und Wissenschaftler aus allen Kontinenten einfliegen lassen. Der neue ‚globale Braintrust‘, wie der letzte Staatspräsident der Sowjetunion und Nobelpreisträger die exklusive Runde definiert, soll den Weg ins 21. Jahrhundert weisen, ‚unterwegs zu einer neuen Zivilisation‘. (…)

Erfahrene alte Weltenlenker wie George Bush, George Shultz oder Margaret Thatcher treffen auf die neuen Herren des Planeten wie CNN-Chef Ted Turner, der seine Unternehmen mit Time Warner zum weltweit größten Medienkonzern verschmilzt, oder auf den südostasiatischen Handelsmagnaten Washington SyCip. Drei Tage lang wollen sie hochkonzentriert nachdenken, in kleinen Arbeitskreisen mit den Global Player der Computer- und Finanzwelt, aber auch mit den Hohenpriestern der Wirtschaft, den Ökonomieprofessoren der Universitäten von Stanford, Harvard und Oxford. Auch Emissäre des Freihandels aus Singapur und natürlich Peking wollen gehört werden, wenn es um die Zukunft der Menschheit geht. Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf bemüht sich um deutsche Akzente in der Debatte. (…)

John Gage, Topmanager bei der US-Computerfirma Sun Microsystems, stößt die Debattenrunde über ‚Technologie und Arbeit in der globalen Wirtschaft‘ an. (…) Regierungen und deren Vorschriften für die Arbeitswelt seien bedeutungslos geworden. Er beschäftige, wen er gerade brauche, derzeit bevorzugt ‚gute Gehirne aus Indien‘, die so lange arbeiten, wie sie können. (…) ‚Wir stellen unsere Leute per Computer ein, sie arbeiten am Computer, und sie werden auch per Computer wieder gefeuert.‘ (…)

Keiner der hochbezahlten Karrieremanager aus den Zukunftsbranchen und Zukunftsländern glaubt noch an ausreichend neue, ordentlich bezahlte Jobs auf technologisch aufwendigen Wachstumsmärkten in den bisherigen Wohlstandsländern – egal, in welchem Bereich.

Die Zukunft verkürzen die Pragmatiker im Fairmont auf ein Zahlenpaar und einen Begriff: ‚20 zu 80‘ und ‚tittytainment‘.

20 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung würden im kommenden Jahrhundert ausreichen, um die Weltwirtschaft in Schwung zu halten. ‚Mehr Arbeitskraft wird nicht gebraucht‘, meint Magnat Washington SyCip. Ein Fünftel aller Arbeitssuchenden werde genügen, um alle Waren zu produzieren und die hochwertigen Dienstleistungen zu erbringen, die sich die Weltgesellschaft leisten könne. Diese 20 Prozent werden damit aktiv am Leben, Verdienen und Konsumieren teilnehmen – egal in welchem Land. Das eine oder andere Prozent, so räumen die Diskutanten ein, mag noch hinzuklommen, etwa durch wohlhabende Erben.

Doch sonst? 80 Prozent der Arbeitswilligen ohne Job? ‚Sicher‘, sagt der US-Autor Jeremy Rifkin, Verfasser des Buches ‚Das Ende der Arbeit‘, ‚die unteren 80 Prozent werden gewaltige Probleme bekommen‘. Sun-Manager Cage legt noch einmal nach und beruft sich auf seinen Firmenchef Scott McNealy: Die Frage sei künftig, ‚to have lunch or be lunch‘, zu essen haben oder gefressen werden.

(…) Im Fairmont wird eine neue Gesellschaftsordnung skizziert: reiche Länder ohne nennenswerten Mittelstand – und niemand widerspricht.

Vielmehr macht der Ausdruck ‚tittytainment‘ Karriere, den der alte Haudege Zbigniew Brzezinski ins Spiel bringt. Der gebürtige Pole war vier Jahre lang Nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, seither beschäftigt er sich mit geostrategischen Fragen. ‚Tittytainment‘, so Brzezinski, sei eine Kombination von ‚entertainment‘ und ‚tits‘, dem amerikanischen Slangwort für Busen. Brzezinski denkt dabei weniger an Sex als an die Milch, die aus der Brust einer stillenden Mutter strömt. Mit einer Mischung aus betäubender Unterhaltung und ausreichender Ernährung könne die frustrierte Bevölkerung der Welt schon bei Laune gehalten werden.

Nüchtern diskutieren die Manager die möglichen Dosierungen, überlegen, wie denn das wohlhabende Fünftel den überflüssigen Rest beschäftigen könne. Soziales Engagement der Unternehmen sei beim globalen Wettbewerbsdruck unzumutbar, um die Arbeitslosen müßten sich andere kümmern. Sinnstiftung und Integration erwarten sich die Diskutanten vom weiten Feld der freiwilligen Gemeinschaftsdienste, bei der Nachbarschaftshilfe, im Sportbetrieb oder in Vereinen aller Art. ‚Diese Tätigkeiten könnte man doch durch eine bescheidene Bezahlung aufwerten und so die Selbstachtung von Millionen Bürgern fördern‘, meint Professor Roy. Jedenfalls werden in den Industrieländern schon bald wieder Menschen fast zum Nulltarif die Straßen sauberhalten oder als Haushaltshilfen kärglichen Unterschlupf finden, erwarten die Konzernlenker. Schließlich sei das Industriezeitalter mit seinem Massenwohlstand nicht mehr als ein ‚Wimpernzucken in der Geschichte der Ökonomie‘, analysiert der Zukunftsforscher John Naisbitt.

Unterwegs zu einer neuen Zivilisation wähnten sich die Veranstalter der drei denkwürdigen Tage im Fairmont. Doch die Richtung, welche der versammelte Sachverstand aus Chefetagen und Wissenschaft wies, führt geradewegs zurück in die vormoderne Zeit. Nicht mehr die Zweidrittelgesellschaft, vor der sich die Europäer seit den achtziger Jahren fürchten, beschreibt demnach die künftige Verteilung von Wohlstand und gesellschaftlicher Stellung. Das Weltmodell der Zukunft folgt der Formel 20 zu 80. Die Einfünftelgesellschaft zieht herauf, in der die Ausgeschlossenen mit Tittytainment ruhiggestellt werden müssen. Alles maßlos übertrieben?“

Aus: Hans-Peter Martin/Harald Schumann: „Die Globalisierungsfalle – Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand“ Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg 1997; S. 10ff.