Wissenswertes 1: Unwissenheit und Angst

Ich beginne hiermit eine Reihe von interessanten Zitaten aus interessanten Büchern, die ich in vielen Jahren angesammelt habe. Gern gebe ich dieses gesammelte Wissen, diese angehäuften Erkenntnisse weiter.

Aus: Marvin Harris „Fauler Zauber. Unsere Sehnsucht nach der anderen Welt“ Stuttgart 1993 (US-Original 1974); S. 13ff.

„Die wesentlichen materiellen Bestimmungsgründe im Gang der menschlichen Dinge herauszufinden ist stets eine schwierige Aufgabe. Das praktische Leben trägt viele Masken. Jede Lebensweise tritt eingehüllt in Mythen und Legenden auf, die das Augenmerk auf praxisferne oder übernatürliche Bedingungen lenken. Diese Hüllen verleihen den Menschen eine soziale Identität und vermitteln ihnen ein Gefühl sozialen Sinns, aber sie verdecken die nackten Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens. Vorstellungen, die über die weltlichen Ursachen der Kultur hinwegtäuschen, lasten auf dem normalen Bewußtsein wie ein Mantel aus Bleischichten. Es ist niemals leichte Arbeit, an dieser drückenden Last vorbeizukommen, durch sie hindurchzudringen, sie wegzuschaffen.

In einer Zeit, die so begierig danach ist, alternative, nicht-alltägliche Bewußtseinszustände zu erleben, wird leicht übersehen, wie gründlich mystifiziert unser Alltagsbewußtsein selbst bereits ist – wie erstaunlich abgeschnitten von den praktischen Umständen unseres Lebens. Warum ist das so?

Schuld daran ist zum einen die Unwissenheit. Die meisten Menschen haben nur von einem kleinen Teil der Palette alternativer Lebensweisen Kenntnis. Damit an die Stelle von Mythen und Legenden ein reifes Bewußtsein treten kann, bedarf es des Vergleiches der vollen Bandbreite vergangener und gegenwärtiger Kulturen. Dann ist da noch die Angst. Gegen Phänomene wie das Altwerden und den Tod stellt ein falsches Bewußtsein unter Umständen die einzige wirksame Abwehr dar. Und schließlich ist da noch das Interesse an der Konfliktvermeidung. Im normalen gesellschaftlichen Leben werden unvermeidlich die einen von den anderen beherrscht und ausgebeutet. Diese Ungleichheiten werden ebenso verschleiert, mystifiziert und weggeredet wie das Altern und der Tod.

Unwissenheit, Angst und Konfliktscheu sind grundlegende Elemente des Alltagsbewußtseins. Aus diesen Elementen fabrizieren Kunst und Politik das kollektive Traumgebilde, das die Menschen am Verständnis der tatsächlichen Bestimmungsgründe ihres gesellschaftlichen Lebens hindert.

Das Alltagsbewußtsein kann sich folglich nicht selber auf den Grund kommen. Schließlich verdankt es seine Existenz ja gerade einer hochentwickelten Fähigkeit zur Verleugnung der Fakten, die seine Existenz begründen. Von Träumern erwarten wir nicht, daß sie ihre Träume erklären; ebensowenig sollten wir von denen, die an Lebensweisen partizipieren, eine Erklärung ihrer Lebensweisen erwarten.

Manche Ethnologen und Historiker sind der gegenteiligen Ansicht. Sie behaupten, die Erklärungen der Beteiligten bildeten eine nicht weiter rückführbare Realität. Sie warnen davor, das menschliche Bewußtsein wie ein ‚Objekt‘ zu behandeln, und meinen, die wissenschaftliche Methode, die in der Physik oder Chemie am Platz sei, habe für die Erforschung von Lebensweisen keine Geltung. Etliche Verkünder einer modernen ‚Gegenkultur‘ geben sogar einem Zuviel an ‚Objektivierung‘ die Schuld an den Ungerechtigkeiten und den Katastrophen der jüngsten Geschichte. Einer von ihnen behauptet, das objektive Bewußtsein führe immer zu einem Verlust an ‚Moralgefühl‘, womit er das Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis mit dem Sündenfall gleichsetzt.

Nichts kann widersinniger sein. Hunger, Kriege, sexuelle Gewalt, Folter und Ausbeutung sind durch die ganze Geschichte und Vorgeschichte gang und gäbe gewesen – lange bevor jemand darauf verfiel, die menschlichen Verhältnisse zu „objektivieren“.

Manche Menschen, denen die Nebenwirkungen der technischen Entwicklung Unbehagen bereiten, halten die wissenschaftliche Einstellung für die ‚bestimmende Lebensform unserer Gesellschaft‘. Das mag im Blick auf unsere Naturerkenntnis stimmen, aber in bezug auf unsere Kenntnis des Kulturellen ist es schrecklich falsch.

Was die Kenntnis unserer Lebensweisen betrifft, kann von einem Sündenfall einfach deshalb keine Rede sein, weil wir uns immer noch im Stande ursprünglicher Unschuld befinden.“