Erinnerung an die „Kinder von Golzow“: Ein halbes Menschenleben auf Zelluloid

„Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“ Mit diesem Satz endeten die Märchen früher, in der Kindheit. So endete 2007 ein einmaliges Filmprojekt über ganz reale Kinder, die vor mehr als 65 Jahren auf die Welt kamen: „Die Kinder von Golzow“. Da ich kürzlich begonnen habe, mir die Filme wieder anzuschauen, bringe ich hier den Beitrag, den ich nach einem Gespräch mit den Regisseuren Barbara und Winfried Junge in Heft 1/2007 von „Volkssolidarität – Ihr Journal“ veröffentlicht habe.

Mehr als 45 Jahre begleitete der Filmemacher Winfried Junge, seit 1978 gemeinsam mit seiner Frau Barbara sowie wechselnden Filmteams, das Leben der Schulanfänger des Jahrganges 1961 in Golzow.

„Und wenn sie nicht gestorben sind …“ ist der Titel des vorletzten zweiteiligen Filmes, der im vergangen Jahr im RBB gezeigt wurde. „… dann leben sie noch heute“ wird der Titel des letzten Filmes sein, der voraussichtlich Ende des Jahres fertig wird. Die beiden Junges fassen darin die Lebensläufe von noch einmal fünf Golzower Kindern seit der Schuleinführung kurz nach dem Bau der Mauer bis in die Jahre nach der Jahrtausendwende zusammen.

Begonnen hatte alles mit dem 13-minütigen „Wenn ich erst zur Schule geh“. Die Idee, Kinder auf ihrem Weg durch zehn Jahre Schule und weiter durch das Leben filmisch zu begleiten, hatte Karl Gass, der Dokumentarist, der kürzlich 90 Jahre alt wurde. Winfried Junge, Jahrgang 1935, war bei ihm Assistent. Den Film solle ein Jüngerer machen, habe Gass gemeint, erzählt Junge im Gespräch mit der Journal-Redaktion. Und so begann er ein Projekt, das anfangs ein paar Jahre nach der Schulzeit enden sollte, mit den 25jährigen.

Zeugnis vom Leben in der DDR

Später war der 50. Jahrestag der DDR im Jahr 1999 die Zielmarke. Das Land verschwand inzwischen, doch das Projekt ging weiter. Und so ist ein halbes Menschenleben der Golzower Zelluloid geworden . Entstanden ist eine Reihe von 19 Filmen, die bisher als Gesamtwerk einzigartig in der internationalen Filmgeschichte sind und entsprechende Beachtung fanden. Die dabei 1980 veröffentlichten „Lebensläufe“ zählen zu den 100 wichtigsten deutschen Filmen.

Die Filmreihe ist nicht nur ein Dokument über das Leben von Menschen aus einem kleinen Ort in Brandenburg seit 1961. Sie legt auch Zeugnis ab vom Leben in der DDR, dem untergegangenen Staat, ohne den das Projekt wahrscheinlich nie entstanden wäre. Bei dessen Funktionären es erst gewünscht, aber dann zunehmend zwiespältiger gesehen wurde.

Winfried Junge sollte die erste sozialistische Generation per Film begleiten. Die „Kinder von Golzow“ sollten zeigen, wie der sozialistische „neue Mensch“ aufwächst und gedeiht. „Doch das Ergebnis enttäuschte offiziell mehr und mehr“, erinnert sich der Regisseur. Das DDR-Fernsehen habe sich geweigert, das Projekt neben der DEFA künftig mitzutragen, „weil es kein repräsentatives Bild vom Leben im Arbeiter-und-Bauern-Staat zu zeigen versprach“.

Am Ende halfen den Filmemachern das internationale Interesse aus dem Westen an dem Projekt und Egon Krenz, der für den 50. Jahrestag der DDR doch noch Hoffnung hatte. Junge und seine Mitstreiter konnten ab den 80er Jahren mit einem Etat von jährlich 150.000 Mark die Filmporträts fortsetzen. „Keiner hat gefragt, was wir drehen.“, blickt der Regisseur zurück.

Der „neue Mensch“ im Blick

Junge gesteht ein, dass er anfangs auch „neue Menschen“ zeigen wollte, wie sie aufwachsen und den Sozialismus gestalten: „Ich hätte gern mehr von sozialistischer Erziehung und ihren Erfolgen gezeigt.“ Die Entscheidung, im Film ein Wunschbild oder die Realität zu zeigen, sei aber frühzeitig zugunsten des wirklichen Lebens gefallen. Ihm sei klar gewesen: „Wir hätten aufhören müssen, wenn das so nicht gewollt gewesen wäre.“

Barbara Junge erinnert sich, dass auch die heranwachsenden Golzower, aber vor allem der Schuldirektor, sich weigerten, ein schönfärberisches Bild abzugeben. Entstanden sind so Filme aus dem Schulalltag, deren Bilder aus den Jahren vor 1989 zeigen, dass die DDR mehr war „als nur Stasi und Widerstand“.

„Ich kann ja jetzt unmöglich alles andersrum erzählen“, blickt der Filmemacher zurück. Und sagt: „Wir haben auch viel Glück gehabt, dass wir so über die Zeit gekommen sind.“ Nach dem gesellschaftlichen Umbruch 1989/90 sei „alles in Frage gestellt “ gewesen. Die Filmemacher seien erst „blockiert“ gewesen angesichts des radikalen Wandels, erinnern sich Junges.

Keine Ende nach 1989

Doch schnell wurde ihnen klar: „Das ist für die Chronik eine wichtige Zeit, in der wir weiter drehen mussten.“ Das Renommee der „Kinder von Golzow“ half ihnen. Sie bekamen von dem neuen Staat Fördermittel und fanden Partner beim ORB/RBB, NDR und SWF. Die ARD beteiligte sich also an der Produktion der letzten neun Filme.

Seit den „Lebensläufen“ waren die Golzow-Filme zehnmal auf der Berlinale vertreten. Vorher starteten sie zur Leipziger Dokfilm-Woche erfolgreich. Wenn der letzte Teil fertig ist, „kann man loslassen“, sagt Winfried Junge beim Gespräch in den Räumen in Berlin-Johannisthal, in denen er und seine Frau inmitten von unzähligen Filmrollen heute arbeiten.

„Es hat sich gelohnt“, finden beide, und: „Es wird schwer sein, Abschied zu nehmen.“ Ein endgültiger Abschied wird es nicht sein, wie auch die beiden immer noch Kontakt zu „ihren“ Kindern aus Golzow haben. Ihre Filme haben Geschichte geschrieben und so sind Junges nicht nur hierzulande weiter gefragt als Gesprächspartner und auch als Zeitzeugen.

Die Filme sind weiterhin als DVD von der Firma Absolut Medien erhältlich.