Hoffnungen, Enttäuschungen und Bleibendes – Petra Erler über den Weg zur Einheit 1990

Petra Erler

Petra Erler hat 1990 als Staatsekretärin gearbeitet, in der letzten Regierung der Deutschen Demokratischen Republik. Sie hat das Land, das sie als ihre Heimat bezeichnet, vor 30 Jahren mit abgeschafft. Warum sie das getan und was sie dabei bewegt hat, das hat sie im Gespräch erklärt.

Die DDR war meine Heimat“, antwortete die Potsdamer Politikwissenschaftlerin und -beraterin Petra Erler im Gespräch auf die Frage, was das untergegangene Land für sie war. Doch sie hat das untergegangene Land nie unkritisch gesehen, wie sie berichtete. Ihr Weg führte sie dann 1990 in die letzte Regierung der DDR und vertrat dieses bis zum 3. Oktober 1990 international.

Sie wurde im Frühjahr 1990 Staatssekretärin in der letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maiziére (CDU), nachdem sie zunächst als Beraterin des damaligen Außenministers Markus Meckel (SPD) arbeitete. Zuvor war sie als wissenschaftliche Assistentin in der Abteilung Weltwirtschaft des Institutes für internationale Beziehungen in Potsdam tätig. Ihr Arbeitsschwerpunkt war bereits damals die europäische Integration.

Ihr Verhältnis zur DDR sei nicht einfach gewesen, erinnerte Erler sich. Im ersten Studienjahr habe sie als Studentin des Außenhandels an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst Probleme bekommen. Anlass war die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976, die sie empörte, und auch der Umgang mit den Künstlern, die dagegen protestierten.  Trotzdem sei sie aus allen Wolken gefallen, als sie damals zu einem „Feind der Arbeiterklasse“ erklärt wurde.

Mehr als nur „Betonköpfe“

Das habe ihr angehangen und auch lange wehgetan, auch wenn sie weiter studieren durfte. Geholfen habe ihr, dass sie sehr gute Studienleistungen hatte, ihre Eltern Parteimitglieder waren, aber ebenso, dass einige Professoren an der Hochschule für sie sprachen. Immer wieder sei sie in der DDR Menschen begegnet, die sich nicht als sture „Betonköpfe“ verhielten und ihr halfen, so Erler. 1984 habe sie sich an dem Institut in Potsdam für eine Doktorarbeit beworben und sei angenommen worden, nachdem sie drei Jahre in der Verwaltungsabteilung eines Außenhandelsbetriebs arbeiten musste.

Zu den in der DDR spätestens nach der manipulierten Kommunalwahl vom Mai 1989 häufiger werdenden Protesten meinte Erler, es habe in der DDR sehr lange zwei verschiedene Gruppen von Kritikern gegeben: „Die einen machten sich Gedanken über politische Rechte. Und die anderen sagten: Es gibt kein Bier oder keine Handtücher. Beide Gruppen fanden nach meiner Wahrnehmung erst zusammen, als die Kinder gingen.“

„Verheerend“ sei der Satz in einem Kommentar der DDR-Nachrichtenagentur ADN über die aus der DDR meist über Ungarn im Sommer 1989 Flüchtenden gewesen: „Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.“ Als Urheber gilt der damalige SED-Generalsekretär Erich Honecker. „Viele waren tief betroffen“, erinnerte sich Erler an die damaligen Ereignisse, sie selbst auch.

„Es war klar, da muss man aufstehen“, beschrieb sie den Geist jener Tage. Im Herbst 1989 äußerten sich neben Bürgerrechtlern und Künstlern auch reformorientierte Kräfte in der SED, wie die Politikwissenschaftler Michael Brie, Dieter Segert oder Rainer Land. Sie setzten sich für einen „demokratischen Sozialismus“ ein. Sie habe auch sehr lange geglaubt, „dass es möglich wäre, die DDR grundlegend zu reformieren“, so Erler.

Untergegangene Hoffnungen

„Ich wollte ein besseres Land“, erinnerte sie sich, „ich war auch ein Perestroika-Fan“. Als 1988 in der DDR unter anderem sowjetische Filme wie „Die Kommissarin“ verboten wurden, habe es ihr gereicht. Doch die Hoffnung auf mögliche Reformen in der DDR sei ihr nach der Grenzöffnung am 9. November 1989 abhandengekommen. Dafür habe eine Zugfahrt nach Nürnberg acht Tage später gesorgt: Menschen hätten sich rücksichtlos in den Zug gedrängt, die in Bayern ein zusätzliches Begrüßungsgeld von 90 D-Mark abholen wollten. Was sie da erlebt habe, sei „menschlich so rücksichtslos und unwürdig gewesen, dass ich nicht eine Sekunde mehr an eine eigenständige DDR geglaubt habe“.

Damals sei ihr klargeworden, „dass alles auf die deutsche Einheit zuläuft“, sagte sie. Deshalb sei für sie die Frage wichtig gewesen, welche Interessen der DDR es im Einheitsprozess mit Blick auf die EG gab. Ein Papier, das sie dazu Ende 1989 schrieb, brachte sie in Kontakt mit SPD-Politikern aus der Bundesrepublik. Zudem habe sie im Januar 1990 eine Einladung von der neugegründeten Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) zu einer außenpolitischen Arbeitsgruppe bekommen, erinnerte Erler sich.

So lernte sie den späteren Außenminister Markus Meckel (SDP) kennen, der sich für ihre Überlegungen interessierte. Schließlich wurde sie von der jungen Ost-Sozialdemokratie in die Koalitionsverhandlungen mit der DDR-CDU entsandt, um beim Thema internationale Politik mit zu verhandeln. „Deshalb stand in diesem Vertrag zum Beispiel auch, dass wir uns zur Osterweiterung der EG bekennen“, hob sie hervor. Meckel habe sie nach der Wahl sofort ins Außenministerium holen wollen, aber Erler zögerte.

Geändert habe sie ihre Haltung erst beim Besuch Meckels im April 1990 bei der EG-Ratspräsidentschaft, die zu dem Zeitpunkt Irland innehatte. Dort sei es  ihnen damals darum gegangen, eine eigenständige Rolle bei den Verhandlungen mit der EG mit Blick auf die deutsche Einheit zu spielen. In Dublin habe sie sich entschlossen, doch von der Wissenschaft ins Außenministerium zu wechseln und Meckel zu unterstützen, erinnerte sich Erler. Gut einen Monat später sei sie aufgrund einer Absprache zwischen Meckel und de Maiziere dann Staatssekretärin geworden.

Frühzeitige Erkenntnis

Für sie sei völlig klar gewesen, dass es nach dem „Mauerfall“ zur Einheit der beiden deutschen Staaten kommen musste, sagte Erler. Den Weg dahin versuchte sie dann mitzugestalten, wobei für alle der Zeitfaktor am schwierigsten gewesen sei. Die Regierung unter de Maiziére habe den Verfassungs- und Wählerauftrag gehabt, das Land und sich selbst abzuschaffen, betonte Erler.

Die Ost-CDU und die Sozialdemokraten hätten jeweils einen anderen Weg zur Einheit gewollt, aber die CDU habe die Wahl am 18. März 1990 klar gewonnen. Damit sei die Entscheidung für den Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes gefallen. „Da war das nur noch eine Zeitfrage.“

Viele hätten unterschätzt, wie die Übernahme der D-Mark durch die DDR am 1. Juli 1990 in Folge der Wirtschafts- und Währungsunion wirkte. „Das hat der DDR-Wirtschaft den letzten Rest gegeben. Wir waren von dem Tag an auch nicht mehr vollständig souverän. Alle unsere Kabinettsvorlagen, die irgendwie mit Geld zu tun hatten, mussten vorher durch das Bundesfinanzministerium. Das hat nochmal zusätzlichen Druck reingebracht.“

Die Handlungsspielräume seien zuvor schon gering gewesen, auch durch den wirtschaftlichen Niedergang seit Anfang 1990. „Durch die Einführung der D-Mark brach noch mehr weg. Das ganze Wirtschaftssystem implodierte.“ Nur wenige DDR-Betriebe hätten es durch kluge Entscheidungen und günstige Bedingungen geschafft, zu überleben.

Vorsehbares Ende

Die studierte Ökonomin betonte: „Die Ökonomie war schon vorher nicht gesund“, was sie in ihrer Tätigkeit in einem DDR-Außenhandelsbetrieb bis 1984 gesehen habe.

„Wir sind als DDR durch West-Kredite über Wasser gehalten worden. Für Westgeld hat die DDR beinah alles gemacht. Dafür war sie sehr gern Teil des europäischen Binnenmarktes, vermittelt über die Bundesrepublik. Die Leute haben sich totgerackert, für etwas, das nicht funktionieren konnte.“

Das Problem war aus Erlers Sicht, dass 1990 immer mehr DDR-Bürger das noch existierende Land verließen, um im Westen Arbeit zu suchen und Geld zu verdienen. Dadurch seien Operationen ausgefallen, Straßenbahnen und U-Bahnen nicht mehr gefahren und hätten immer mehr Maschinen in den Betrieben stillgestanden. Zudem habe der Eindruck bestanden, dass sich der alte Machtapparat mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) unter der von Hans Modrow geführten Regierung nochmal regeneriert und Rache nimmt.

„Das hätte keinen ‚Dritten Weg‘ mehr gegeben. Die Alternative wäre entweder die Restauration der DDR in sehr viel schlimmerer Form oder ein wie auch immer gearteter Übergang in die Bundesrepublik Deutschland gewesen. Ich war für einen geordneten Einigungsprozess. Die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler wollte allerdings einen zügigen Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland.“

Es habe aber bei vielen in der Noch-DDR Illusionen gegeben wie „Wir gehen jetzt alle in ein schwedisches Sozialismus- bzw. Kapitalismus-Modell“. „Die Wenigsten wollten sehen, dass es im Kapitalismus auch Arbeitslosigkeit gibt.“ Viele im Osten hätten auch nicht daran geglaubt, dass sie zu den wirtschaftlichen Verlierern der Einheit gehören könnten.

Klare Interessen auf DDR-Seite

Weiterer Druck sei dadurch entstanden, dass die Koalition aus Ost-CDU und SDP im Juli 1990 zerbrach, blickte sie zurück. Darauf sei zielstrebig im Hintergrund hingewirkt worden, ist sich Erler sicher. „Das habe ich machtpolitisch für falsch gehalten“, erklärte Erler, da die ostdeutschen Sozialdemokraten so keinerlei Einfluss mehr auf die Einheitsverhandlungen ausüben konnten.

Die Zusammenarbeit in der letzten DDR-Regierung sei weniger von der jeweiligen Parteizugehörigkeit abhängig gewesen als vom persönlichen Vertrauen untereinander, erinnerte sich die Ex-Staatssekretärin. Zu der Frage nach den Vorgaben aus Bonn für die letzte Regierung der DDR sagte sie, es habe Spielräume gegeben.

Die meisten Vertreter der letzten DDR-Regierung hätten klare Interessen gehabt und diese auch mutig eingebracht, angefangen bei de Maizière. Die Ex-Staatssekretärin nannte auch das Beispiel des letzten DDR-Finanzminister Walter Romberg (SPD).  „Der war ganz eindeutig in der Altschuldenproblematik und dass war nach meiner Überzeugung auch der Grund, warum seine Glaubwürdigkeit angegriffen wurde.“

Sie selbst sei aus der DDR-Delegation zum Einigungsvertrag geworfen worden, nachdem sie einen Paragraphen in einer Sitzungsunterlage entdeckte, „der dem geeinten Deutschland schwer geschadet hätte und mit mir nicht abgestimmt war“. Sie änderte den Text und verteilte ihn umgehend. „Dafür bin ich rausgeflogen, aber geändert war geändert.“  Um welche Klausel es ging, will Erler nicht sagen, nur, dass sie sich niemals so verhalten hätte, wäre es um eine Nichtigkeit gegangen.

Keine Alternative

Zur europäischen Perspektive der Einheit sagte sie rückblickend:

„Politisch war in der EG klar, dass der Prozess der Einheit nicht aufzuhalten war. Aber angesichts unterschiedlicher Perspektiven und Interessen im Vergleich mit der BRD hatten wir durchaus Unterstützung aus Europa, schon, weil alle uns kennenlernen wollten.“

Das habe sich auch bei den Verhandlungen zum Zwei-plus-Vier-Vertrag gezeigt, zum Beispiel bei der Frage, ob Nato-Truppen auf dem DDR-Gebiet stationiert werden können. Aber grundsätzlich sei im Verhältnis zu den Vertretern aus Bonn klar gewesen: „Wir sind die Minderheit und haben einen Regierungsauftrag von unserem eigenen Volk, das sagt: Deutsche Einigung!“

Erler berichtete, dass sie in den Memoiren des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl gelesen habe, wie sehr sie ihn geärgert habe: Weil sie 1990 forderte, nicht nur innerdeutsche Solidarität zu üben, sondern auch europäische Solidarität. „Damit klar ist: Wir sind jetzt nicht nur zugeschlagener Teil einer neuen BRD, sondern wir sind auch in der europäischen Integration verankert.“ Kohl habe sich dagegen dafür stark gemacht, dass die Einheit allein innerstaatlich finanziert würde.

Der damalige bundesdeutsche EG-Kommissar Martin Bangemann (FDP) habe aber Verständnis für die ostdeutsche Position gehabt und den westdeutschen Widerstand gebrochen. Daraufhin seien etwa sechs Milliarden D-Mark aus dem EG-Haushalt für Ostdeutschland bewilligt worden. Hinzu kamen noch 80 Millionen. „Ich glaube, ich bin die Letzte, die einen Vertrag für die DDR unterschrieben hat“, sagte Erler. Das war am 28. September 1990. Es ging um europäische Fördermittel zum Aufbau von Europäischen Informationszentren und zur Sanierung der Elbe.

Gute Zusammenarbeit

Die deutsche Einheit hätte es nicht gegeben, wenn nicht alle EG-Mitgliedsstaaten zugestimmt hätten, hob sie hervor. Das sei genauso wichtig wie der Zwei-plus-Vier-Vertrag gewesen. „Sie mussten auch dem Übergangspaket zustimmen. Das war nicht für alle eine große Freude.“ Gerade deshalb dürfe die damalige Solidarität aller, die der Sowjetunion, der USA und aller EG-Staaten, nicht vergessen werden, so Erler.

Sie berichtete von einer Sitzung der Ständigen Vertreter der EG-Mitgliedsstaaten im Mai 1990 in Brüssel, an welcher der bundesdeutsche Botschafter nicht teilgenommen hatte. Bei dieser hätten die anderen elf Diplomaten sich über die deutsche Einigung beschwert. „Die wollten unter sich mal Klartext reden, Dampf ablassen“. Erler erfuhr davon, was ihr gegenüber der Bundesregierung geholfen habe.

Mit dem für die EG zuständigen Staatsminister Lutz Stavenhagen (CDU) im Bundeskanzleramt habe sie sehr gute Arbeitsbeziehungen gehabt, erinnerte sich Erler. „Wir haben uns geschätzt. Es hat ihm sehr gut gefallen, dass ich wegen der deutschen Einigung mehr bundesdeutsche Abgeordnete im Europäischen Parlament haben wollte. 1992 wurde das erreicht, aber heute ist längst vergessen, dass diese Plätze Ostdeutschen zustehen.“

Sie selbst habe „niemals in dieser Zeit als Ostdeutsche eine Demütigung erlebt“, erinnerte die Ex-Staatssekretärin sich. „Die US-Amerikaner waren sehr freundlich. Die Briten waren sehr freundlich. Die Franzosen waren extrem freundlich, dazu die Iren und die Italiener.“ Auch ihre Gesprächspartner in der EG-Kommission hätten Verständnis für berechtigte Anliegen der DDR-Vertreter gehabt.

Grundfehler der Einheit

Auf die Frage nach Fehlern auf dem Weg zur Einheit sagte sie: „Soweit es meine Arbeit betraf, bin ich nach wie vor der Auffassung, dass es ein Grundfehler war, keinen einzigen DDR-Diplomaten in den diplomatischen Dienst der Bundesrepublik zu übernehmen.“ Sie widersprach Aussagen ehemaliger DDR-Diplomaten, dass der neue Außenminister Meckel nichts mit ihnen zu tun haben wollte.

Erler hat nach eigener Aussage erlebt, dass eine ganze Reihe bisheriger Mitarbeiter des DDR-Außenministeriums sich aktiv einbrachten und fachlich auch geschätzt wurden. Es hätte aber auch viele gegeben, die „mauerten“ und mit den Neuen nichts zu tun haben wollten, einige seien schlicht überfordert gewesen. „Die verstanden die Welt nicht mehr“, so Erler.

Sie habe sich damals dafür eingesetzt, dass es für jüngere Menschen eine berufliche Zukunft in der Bundesregierung gab, auch im Auswärtigen Amt. Sie habe „es überhaupt nicht eingesehen, dass ein junger Mensch, der in der DDR eine Diplomaten- und Sprachausbildung hatte und unbelastet war, nicht übernommen werden soll“. Den Kampf habe sie aber verloren, gestand Erler ein. Es sei eine eigenartige Situation gewesen:

„Die alten DDR-Kämpen und die alten westdeutschen Kämpen haben sich gut vertragen. Wir waren diejenigen, die es eigentlich gar nicht geben durfte.“

Sie habe sich dafür eingesetzt, dass frühere DDR-Bürger durch EG-Institutionen gefördert wurden. Frankreich offerierte deswegen Sprachkurse. Delors sorgte für Praktika in der Kommission. Dennoch habe das leider nur wenig genutzt. „Als ich 2006 Kabinettschefin beim EU-Kommissar Günter Verheugen wurde, war ich eine von zehn Ostdeutschen in Brüssel. Das Land Slowenien hatte 210 Leute dort. Wir sind bis zum heutigen Tag als Ostdeutsche in den internationalen Organisationen nicht sichtbar.“

Mehr als eine Fußnote

Der Preis dafür sei, dass es sowohl in der Europäischen Union (EU) als auch in internationalen Organisationen wie der Uno nur ein „sehr eingeschränktes und dadurch leicht zu manipulierendes Wissen über Transformation gibt“. So hätten die meisten, die über Probleme der Transformationsprozesse in anderen Ländern reden, „nicht die leiseste Ahnung, wovon sie reden. Die verstehen das gar nicht.“

Viele aus der alten Bundesrepublik hätten nach der deutschen Einigung Ostdeutsche „nur mit spitzen Fingern angefasst“, blickte Erler zurück. Das habe sie selbst erlebt, als sie 1991 Mitarbeiterin von Hans-Otto-Bräutigam im Brandenburger Ministerium für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten wurde. Der erste Satz, den sie damals bei einer Vorstellung in der Staatskanzlei zu hören bekam, sei gewesen: „Haben Sie sich rechtzeitig ‘rüber gerettet?“ „Da bin ich aufgestanden und gegangen“, beschrieb sie ihre Reaktion darauf. Solche Leute hätten ein Problem mit den „Überlebenden“ aus der letzten DDR-Regierung gehabt, zu denen auch Regine Hildebrandt (SPD) gehörte, die Sozialministerin in Brandenburg wurde.

Auf die Frage, ob tatsächlich eine Einheit entstanden ist, sagte sie: „Natürlich ist ein neues Land entstanden. Ein neues Land mit keiner neuen Verfassung, keiner neuen Hymne – aber in Wahrheit ein neues Land.“ Es sei eine staatliche Einigung gewesen, aber aus der DDR seien „mehr als nur ein paar Ideen herübergerettet“ worden. „Die Leute sind noch da.“

Sie habe sich geärgert, als der von ihr geschätzte Schriftsteller Stephan Heym nach der Wahl am 18. März 1990 sagte, nun werde die DDR nur noch eine Fußnote der Weltgeschichte sein. Sie habe damals gedacht:

„Menschen sind doch keine Fußnote! Wir haben eine friedliche Revolution gemacht und haben so viele Erfahrungen, die Westdeutsche nicht haben.“

Davon zeugen aus Erlers Sicht soziologische Untersuchungen, die auch heute noch bestehende unterschiedliche Sichten von Ost- und Westdeutschen auf das Leben zeigen. So hätten bei einer Studie in Erfurt Jugendliche aus ostdeutschen Familien die Frage, ob Kinderkriegen ein soziales Risiko sei, verneint. Dagegen hätten die, deren Eltern aus Westdeutschland stammten, die Frage bejaht. „Es zeigt sich, dass Dinge fortdauern, die in der DDR ihren Ursprung haben“, kommentierte die Politikwissenschaftlerin.

Viele Enttäuschungen

Trotz der von einer Mehrheit für eine schnelle Einheit verließen nach dem 3. Oktober 1990 noch einmal vier Millionen Ostdeutsche ihre Heimat. Erst in den letzten Jahren hat sich das jährliche Wanderungssaldo zwischen Ost und West ausgeglichen. „Wir sind die Einzigen im früheren Ostblock gewesen, die das Experiment hatten, sich mit einem ökonomisch starken Staat zu vereinigen“, beschrieb die Ex-Staatssekretärin die Rahmenbedingungen. „Wir sind der Ausnahmefall“, sagte sie.

„Es gab anfangs eine große Bereitschaft zu glauben, dass, wenn Westdeutsche nach Brandenburg kamen und sagten, sie wollten etwas für Brandenburg tun, das auch ernst gemeint war. Die Erkenntnis, dass dem nicht immer so war, ist nur sehr langsam und mit großer Wut gereift. Auch der Glaube, dass im Westen immer die bessere Lösung liege, war damals zunächst ziemlich verbreitet. Heute sind alle schlauer.“

Es ärgere sie, dass bis heute von der DDR als „Unrechtsstaat“ gesprochen werde, obwohl sie es definitiv nach der letzten Volkskammer-Wahl im März 1990 nicht mehr gewesen sei. Das treffe sie persönlich, da sie als Staatssekretärin der letzten DDR-Regierung nach offiziellem bundesdeutschen Recht für einen „Unrechtsstaat“ gearbeitet habe. Es tröste sie wenig, dass das Bundesinnenministerium dazu erklärte, das sei so nicht gemeint und ihr Dienst für die letzte DDR-Regierung anerkannt wurde.

Sie habe damals nicht gewusst, was nach der Einigung vor ihr liegen würde. Durch einen Zufall sei der brandenburgische Justiz- und Europaminister Bräutigam auf sie aufmerksam geworden. Er habe sie am 6. Dezember 1990 gefragt, ob sie für ihn arbeiten wolle, erinnerte sich Erler im Gespräch. Sie wäre ihm dafür bis heute dankbar. Sie habe ab 1. April 1991 für das Land Brandenburg in Bonn gearbeitet, als erste Ostdeutsche in Bonn, bezahlt durch Nordrhein-Westfalen, was sie auch nicht vergessen werde.

Europa im Blick

Ihr weiterer Weg führte sie 1999 nach Brüssel zur EU-Kommission. Heute ist Petra Erler als Politikberaterin tätig, wieder in Potsdam, gemeinsam mit ihrem früheren Chef Günter Verheugen. Ihre Leidenschaft gilt weiter der europäischen Einigung. Deshalb setzt sie sich auch für ein vernünftiges Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und Russland ein.

Was sie am 30. Jahrestag der Einheit machen werde, wisse sie noch nicht, sagte die ehemalige Staatssekretärin. „Ich habe jedenfalls am 3. Oktober 1990 nicht gefeiert, weil ich dachte, dass das von mir zu viel verlangt wäre, dass ich an dem Tag, an dem ich arbeitslos werde, auch noch feiern soll. Meine Aufgabe bestand darin, die Interesse Ostdeutschlands im Prozess der deutschen Einigung und der europäischen Integration so gut wie möglich zu wahren. Aber der Tag, an dem meine Arbeit dann überflüssig wurde, war bitter. 30 Jahre später bin ich froh, wenn sich jemand dafür interessiert, wie es damals war.“