Der Infektiologe und Arzt Pietro Vernazza hat in der Schweiz eine Debatte über den Umgang mit dem Virus Sars-Cov-2 und die von ihm laut WHO ausgelöste Krankheit Covid-19 entfacht. Ärzte widersprechen regierungsberatenden Wissenschaftler und unterstützen Vernazza. Dessen Sicht wird von einem international anerkannten Immunologen bestätigt.
Das Virus Sars-Cov-2 „scheint weniger gefährlich als gemeinhin vermutet“, weshalb die Anti-Corona-Maßnahmen überprüft werden müssten. Das hatte Pietro Vernazza, Schweizer Infektiologe und Chefarzt am Spital St. Gallen, in einem Interview mit der „Sonntagszeitung“ vom 19. Juli erklärt. Er sprach sich darin gegen eine dauerhafte Maskenpflicht bis zu einer möglichen Massenimpfung aus. Zugleich empfahl er eine sogenannte Durchseuchung der Bevölkerung, bei der „die junge Bevölkerung nach und nach mit dem Virus in Kontakt kommt“. Nur ältere und gesundheitlich gefährdete Menschen sollten die Möglichkeit haben, sich besser zu schützen.
Mit diesen Aussagen hat Vernazza eine breite Debatte in der Schweiz angestoßen. In der stellt sich nach einem Bericht der „Sonntagszeitung“ vom letzten Sonntag die Corona-Taskforce des Schweizer Bundesrates offen gegen den Arzt. Anfangs war laut dem Blatt Vernazza selbst als Mitglied des Gremiums im Gespräch, wurde aber nach seinen Worten ohne Begründung nicht einbezogen. Zugleich bekommt der Infektiologe aus St. Gallen breite Unterstützung von zahlreichen Schweizer Ärzten, wie die „Sonntagszeitung“ berichtet.
Die „Swiss National Covid-19 Science Task Force“ aus einer Reihe von Wissenschaftlern war am 31. März ins Leben gerufen worden, um die Schweizer Bundesbehörden zu unterstützen. Damit sollen die Maßnahmen, mit denen versucht wird, das Virus Sars-Cov-2 und die von ihm laut Weltgesundheitsorganisation WHO ausgelöste Krankheit Covid-19 einzudämmen, wissenschaftlich untermauert werden. Die Taskforce hat der Zeitung nach mit Strategiepapieren die Schweizer Anti-Corona-Politik „maßgeblich beeinflusst“ und zum Beispiel eine großangelegte Teststrategie und die Maskenpflicht im öffentlichen Personenverkehr erreicht.
„Undemokratisch und unwissenschaftlich“
Das Gremium ist laut der „Sonntagszeitung“ über Vernazzas Vorschlag einer „kontrollierten und differenzierten Durchseuchung der Gesellschaft“ alarmiert. Die Wissenschaftler würden wachsenden Druck auf den Bundesrat befürchten, die Beschränkungen des gesellschaftlichen Lebens vollständig zurückzunehmen und auf Schutzmaßnahmen ganz zu verzichten. Letzteres hat der Infektiologe aber gar nicht gefordert.
Der Basler Infektiologe Manuel Battegay, Mitglied der Taskforce, habe die Vorschläge seines Fachkollegen aus St. Gallen als „undemokratisch“ bezeichnet. Sie würden nicht funktionieren und auf „wissenschaftlich falschen oder unbestätigten Annahmen“ gründen, wird Battegay zitiert.
Der regierungsberatende Wissenschaftler beruft sich darauf, dass viele Menschen sich nicht anstecken wollen. Er behauptet laut „Sonntagszeitung“:
„Eine gezielte Durchseuchung müsste deshalb mit sehr rigorosen Schutzmaßnahmen, ja fast Zwang einhergehen, die mit der demokratischen Struktur der Schweiz nicht vereinbar wären.“
Der Vernazza-Vorschlag würde „viele Menschenleben kosten und zu vielen schweren Erkrankungen führen“.
Praktische Ärzte versus Theoretiker
Zugleich meint Battegay dem Bericht nach, die Eindämmungsmaßnahmen würden der Gesellschaft und der Wirtschaft mehr helfen als schaden. Sars-Cov-2 sei gefährlicher als die Grippeviren, erklärt er gegenüber dem Blatt. Die Sterblichkeit bei Covid-19 sei etwa fünf- bis zehnmal höher als die Sterblichkeit bei der saisonalen Grippe. Deshalb empfiehlt die Schweizer Taskforce dem Bundesrat laut „Sonntagszeitung“, „die gewählte Eindämmungsstrategie mit aller Vehemenz weiterzuführen“. Das Gremium fordere sogar die Ausweitung der Maskenpflicht.
Wie die Zeitung berichtet, hat die Sicht des Infektiologen Vernazza „vor allem unter Ärzten mittlerweile eine beachtliche Anhängerschaft“ gefunden. Das sind jene, die täglich mit den realen Auswirkungen des Virus zu tun haben. So habe der Arzt aus St. Gallen „volle Unterstützung“ bei der Gruppe AMBAG, zu der etwa 140 Schweizer Ärzte gehören. Das Blatt zitiert den Leiter der Gruppen, den Gefäß-Spezialisten Daniel Holtz:
„Wir teilen die Ansichten von Herrn Vernazza in allen Punkten, insbesondere, dass das Virus etwas weniger gefährlich sei als ursprünglich angenommen.“
Die Gruppe unterstütze deshalb den Vorschlag der Durchseuchung. Holtz wundert sich laut „Sonntagszeitung“, „dass Vernazza, eine praxiserfahrene Kapazität, nicht in der Taskforce erwünscht sei“. Das werfe „ein schlechtes Licht auf Behörden und Regierung“.
„Wir Ärzte müssen uns offenbar auf anderen Wegen in die Diskussion einbringen, damit unsere Gesellschaft nicht länger Opfer der nicht ärztlichen, epidemiologischen Theoretiker bleibt.“
Dem Zeitungsbericht nach unterstützen weitere Gruppen von Medizinern die Sicht von Vernazza. Der Infektiologe sagte laut dem Blatt zu den Vorwürfen aus der Taskforce, er sei nicht gegen die Idee, die Covid-19-Fallzahlen mit Maßnahmen niedrig zu halten. Er verwies auf „ernst zu nehmende Argumente, die vermuten lassen, dass die Unterdrückung des Virus auf längere Zeit scheitern könnte“. Deshalb sei es wichtig, über Alternativen nachzudenken „und nicht blauäugig nur einen Weg als den richtigen bezeichnen“.
„Zur Normalität zurückkehren“
Die Zeitung „Tages-Anzeiger“, Stammblatt der „Sonntagszeitung“, hatte am 20. Juli von ersten zahlreichen Reaktionen auf Vernazzas Vorschläge berichtet. So habe die Ökonomin Monika Büttler, Mitglied der Taskforce, dazu erklärt, dass alle Studien zeigen würden, „dass gewisse Einschränkungen optimal sind. Tiefere Infektionszahlen und ausgiebiges Testen bedeuten kleinere wirtschaftliche Einbußen“.
Der Schweizer Immunologe Beda Stadler stimmt dagegen dem Arzt aus St. Gallen zu, wie er gegenüber der Zeitung „20 Minuten“ erklärte. Die aktuelle Quarantäne-Strategie koste viele Millionen Franken und habe aufgrund der neusten Erkenntnisse zum Virus keinen Sinn mehr, so der Immunologe gegenüber dem Blatt. Das hatte er bereits zuvor gegenüber anderen Medien gesagt.
Sehr viele Menschen seien bereits durch eine Infektion mit anderen Corona-Erkältungsviren geschützt, so der Immunologe. „In Kombination mit der Erkenntnis, dass jungen, gesunden Menschen das Virus wenig anhaben könne, müsse nun zur Normalität zurückkehren, statt weiter Panik zu verbreiten“, zitierte ihn das Blatt.
„Es gilt, die Alten und die Risikopersonen mit allen Mitteln zu schützen – und die Gesunden in die Freiheit zu entlassen.“
Zeigt Kreuzimmunität den Ausweg?
Anders äußerte sich der Immunologe Heiner Bucher aus Basel gegenüber „20 Minuten“. Seiner Meinung nach verlief die Corona-Pandemie in der Schweiz nur dank des Lockdowns und der Hygiene-Maßnahmen bisher glimpflich. Bucher, der am Universitätskrankenhaus in Basel arbeitet, warnte gegenüber dem Blatt, das Virus zu verharmlosen: „Die Verläufe sind viel schwerer als bei der Grippe, das sehe ich bei meiner Arbeit im Spital.“ Und:
„Wir müssen jetzt noch ein paar Monate die Massnahmen und Hygieneregeln durchhalten, bis vielleicht schon im Frühjahr ein Impfstoff da ist.“
Infektiologe Vernazza verwies dagegen in dem Interview vom 19. Juli darauf, dass seit mehreren Wochen im Zusammenhang mit Covid-19 die sogenannte Kreuzimmunität beobachtet werde:
„Menschen, die gegen andere Coronaviren eine Immunantwort entwickelt haben, erkranken milde oder gar nicht an Covid-19. Deshalb gibt es vielleicht in der Bevölkerung schon viel mehr natürliche Barrieren, die dem neuen Virus den Weg der Verbreitung abschneiden.“
Damit begründete er unter anderem seine inzwischen viel diskutierten Vorschläge. Der italienische Immunologe Antonio Bertoletti hat das in einem Interview in der aktuellen Ausgabe der „Sonntagszeitung“ bestätigt:
„Forschungsergebnisse aus mehreren Ländern deuten darauf hin, dass ein großer Anteil der Bevölkerung eine Kreuzimmunität gegenüber Sars-CoV-2 besitzt. Mehr als die Hälfte der Personen hätte demnach eine bereits erlernte Immunantwort gegen die neuen Coronaviren, und es besteht die Möglichkeit, dass sie daher vor einem schweren Verlauf geschützt wären.“
Untersuchungen hätten ergeben, dass die Hälfte der Personen entsprechende Abwehrzellen im Blut haben, obwohl sie bisher nicht an Covid-19 erkrankt waren. Noch sei nicht klar, „ob diese Kreuzimmunität, die wir da in Immunzellen aus Blutproben finden, ausreicht, damit das Immunsystem der Betroffenen eine Infektion mit Sars-CoV-2 unter Kontrolle bringt – aber es ist durchaus vorstellbar“.
„Sars-Cov-2 kein teuflisches Virus“
Der Immunologe, der gegenwärtig in Singapur arbeitet, erinnert daran, dass die allermeisten mit Sars-Cov-2 infizierten Menschen nicht schwer erkranken. Das beobachte er derzeit auch in Südostasien. „Vermutlich haben viele von ihnen das der Kreuzimmunität zu verdanken.“
Bertoletti widerspricht zwar nicht dem Maskentragen und anderen Schutzmaßnahmen, meint aber gegenüber dem Blatt:
„Aber es ist nicht wahr, wenn Sars-CoV-2 als teuflisches Virus bezeichnet wird und wenn die Menschen den Eindruck bekommen, dass man stirbt, wenn man daran erkrankt.“
Das sagt auch Vernazza, der ebenso wie Bertoletti die Idee, die Viren komplett eliminieren zu können, für einen Irrglauben hält. Der italienische Immunologe sagte der Zeitung:
„Die meisten von uns können aber mit ihnen leben und dank des Immunsystems die Infektion kontrollieren.“
Stattdessen müssten die älteren und gesundheitlich gefährdeten Menschen geschützt werden. Bertoletti wendet sich im Zusammenhang mit Studien zu möglichen Antikörpern gegen Sars-Cov-2 gegen die Panik, die Medien dabei verbreiten würden. Es sei normal, dass der Antikörperspiegel des Immunsystems nach jeder Infektion wieder sinkt. Zugleich gebe es so etwas wie ein „Immungedächtnis“, das bei einer neuen Infektion wirksam werde.